Hundert Jahre sudetendeutsche Geschichte. Eine völkische Bewegung in drei Staaten, hg. v. Hahn, Hans-Henning (= Die Deutschen und das östliche Europa. Studien und Quellen 1). Lang, Frankfurt am Main 2007. 324 S., 23 Abb. Besprochen von Gerhard Köbler.

 

Sudeten sind der das böhmische Becken im Nordosten abschließende, 310 Kilometer lange und 30 bis 45 Kilometer breite Gebirgszug, als dessen höchste Erhebung die Schneekoppe im Riesengebirge 1602 Meter über den Meeresspiegel aufsteigt. Der als Wildschweinberge erklärte Name leitet sich von einer Erwähnung durch Claudius Ptolemäus im zweiten nachchristlichen Jahrhundert ab. Seit dem frühen 20. Jahrhundert ist Sudetenland der Name für das Siedlungsgebiet der Sudetendeutschen - als der im Grenzgebiet der aus Österreich neu entstandenen Tschechoslowakei zum Deutschen Reich und zu Österreich wohnenden deutschen bzw. deutschsprachigen Minderheit, das im Münchener Abkommen vom 29. 9. 1938 mit 29000 Quadratkilometern und 3,4 Millionen Einwohnern von der Tschechoslowakei an das Deutsche Reich Adolf Hitlers abgetreten wurde.

 

Mit dem wohl von Franz Jesser 1903 erstmals gebrauchten Wort sudetendeutsch werden nach der Einleitung des Herausgebers in der allgemeinen deutschen Wahrnehmung Bilder von Aufmärschen und kämpferische Reden auf den alljährlich ausgerichteten Pfingsttreffen der sudetendeutschen Landsmannschaft als dem bekennenden Überrest der 1945 aus dem Sudetenland vertriebenen Deutschen verbunden. Dabei ist die tatsächliche Geschichte weitgehend unerforscht geblieben. Zu ihr gehört nach Ansicht des Herausgebers, dass viele in den böhmischen Ländern beheimatete Deutsche es vehement ablehnten, als Sudetendeutsche bezeichnet zu werden.

 

Zur deswegen erforderlichen Schließung der Lücke fand vom 1. bis 4. Juni 2005 im Peter-Friedrich-Ludwig-Hospital in Oldenburg eine Tagung im Rahmen des oldenburgischen Projekts sudetendeutsche Geschichte statt. Die dort vorgetragenen Beiträge sind im vorliegenden Sammelband in wesentlicher Erweiterung veröffentlicht. Eines der Ziele dieses leider eines Registers entbehrenden, mit einem nicht sehr leicht lesbaren Kartenbild aus Henrich Büntings Itinerarium Sacrae Scripturae von 1597 geschmückten Bandes ist es, zu einer begrifflichen Präzisierung und zu einer adäquaten Kontextualisierung beizutragen.

 

An den Beginn gestellt sind Kurt Nelhiebels persönliche Erinnerungen und Reflexionen bezüglich der Vertreibung aus der Tschechoslowakei. Acht historischen Bildzitaten folgen die Überlegungen des Herausgebers über die Anfänge des völkischen Diskurses in der Paulskirche 1848. Daran schließen sich detaillierte Untersuchungen über Georg Ritter von Schönerer und die alldeutsche Bewegung in den böhmischen Ländern, Rudolf Jung und vergessene sudetendeutsche Vorläufer und Mitstreiter Hitlers, die SHF/SdP (1933-1938), das Bild sudetendeutscher Politik in den deutschen Gesandtschaftsberichten, den völkischen Diskurs im Deutschen Turnverband in der Tschechoslowakei, die Erfindung des Sudetendeutschtums, die sudetendeutsche Sprachinselforschung, den Fall Grün, die britische Politik, die Volksgruppe im Exil und ein Jahrhundert sudetendeutsche völkische Bewegung an. Insgesamt gelangen die Forscher aus fünf Ländern zu dem ansprechenden Ergebnis, dass die Geschichte der sich immer als Teil der deutschen Nation verstehenden sudetendeutschen Bewegung für die Entwicklung völkischer Formen der deutschen kollektiven Identität ein wichtiges Kapitel deutscher Geschichte mit europäischer Wirkung darstellt.

 

Innsbruck                                            Gerhard Köbler