Geschichte der Sozialversicherungen. L’histoire des assurances sociales, hg. v. Schweizerisches Bundesarchiv, Schriftleitung Kellerhals, Andreas (= Studien und Quellen 31). Chronos, Zürich 2006. 280 S. Besprochen von Gerhard Köbler.

 

Als Folge der Aufklärung setzte sich nach der französischen Revolution des Jahres 1789 weltweit allmählich der Gedanke der grundsätzlichen Freiheit des Menschen durch. Die damit verbundene Auflösung der Abhängigkeitsverhältnisse hatte allerdings auch das Ende des mit der Abhängigkeit mehr oder weniger zwangsläufig ebenfalls verbundenen Schutzes zur Folge. Deswegen ergab sich im Laufe des vom Liberalismus gekennzeichneten 19. Jahrhunderts auch die Notwendigkeiten neuen sozialen Schutzes der Schwachen.

 

Vor allem aus parteipolitischen Überlegungen führte dies zur Einführung der Sozialversicherung, die den Schutz der Gegenwart der Zukunft aufbürdete. Seitdem die Gegenwart immer älter und die Zukunft immer geringer wird, erwachsen hieraus neue Gefährdungen. Aus diesem Grund sind, wie der Schriftleiter des schmalen Sammelbandes zu Beginn einer kurzen Einleitung darlegt, die schweizerischen Sozialversicherungen heute mehr denn je Gegenstand heftiger politischer Auseinandersetzungen, zu deren Versachlichung die wissenschaftliche Beleuchtung hilfreich sein kann.

 

Dies versuchen die insgesamt acht, die Anmerkungen jeweils ans Ende stellenden Beiträge des anregenden, vielfältige Einsichten vermittelnden, mit einer nicht wirklich beeindruckenden Graphik zum equilibre financier auf dem Umschlag geschmückten Werkes. Sie betreffen die Entstehung und Entwicklung des schweizerischen Sozialstaates (Bernhard Degen), Retard, rattrapage, normalisation - L’Etat social suisse face aux défis de transformation de sécurité sociale (Sandro Cattacin), L’assurance vieillesse, survivants et invalidité - ses enjeux financiers entre 1918 et 1925 (Luca Pellegrini), La politique sociale comme marché - Les assureurs vie et la structuration de la prévoyance vieillesse en Suisse (1890-1972) (Matthieu Leimgruber), Ausbau oder Konsolidierung? Der politische Diskurs der 1970er Jahre in der Schweiz im Bereich der AHV (Philipp Ischer), das Verhältnis zwischen Verwissenschaftlichung, Politisierung und Bürokratisierung - Expertenwissen im schweizerischen Sozialstaat (Martin Lengwiler), L’Etat social national et le problème de l’intégration des étrangers 1890-1925 (Silvia Arlettaz/Gérald Arlettaz) und Sozialversicherungen und demographische Entwicklung - vom Bevölkerungswachstum zur demographischen Alterung (Anton Streit). Insgesamt erscheint dabei die gegenwärtige Auseinandersetzung über die Schweizer Sozialversicherung eher als Regel denn als Ausnahme, weil die geschichtliche Betrachtung des bedeutsamen Gegenstandes immer wieder Phasen der Verunsicherung und der Auseinandersetzung über die einzuschlagende Richtung ausweist, wenngleich die Ursachen hierfür kaum immer gleich gewichtig gewesen sein dürften

 

Innsbruck                                                        Gerhard Köbler