Gericht und Kodifikation. Einblicke in die Anfänge der Rechtsprechung zum ZGB und zum StGB, hg. v. Luminati, Michele/Linder, Nikolaus (= Luzerner Beiträge zur Rechtswissenschaft 26). Schulthess, Zürich 2008. XII, 214 S. Besprochen von Gerhard Köbler.

 

Die Verfasser weisen in der Einleitung ihres schmalen Luzerner Sammelbandes zutreffend darauf hin, dass Kodifikationsgeschichte vielfach Kodifikationsentstehungsgeschichte ist. Die Wirkungen der Kodifikation zeigen sich hauptsächlich im geltenden Recht. Gleichwohl greifen sie nach ausdrücklich genannten Vorbildern auch für das Zivilgesetzbuch und das Strafgesetzbuch der Schweiz bei Gelegenheit runder Geburtstage die Frage der Kodifikationswirkungsgeschichte auf.

 

Für die Autorinnen und Autoren der insgesamt sieben Beiträge stellten sie einen Fragenkatalog zur Verfügung, der darauf zielte, das komplexe Verhältnis von Gericht und Kodifikation gerade in der zeitlich ersten Phase der Umsetzung des jeweiligen Gesetzbuchs in den Blick zu bekommen. Das Interesse galt der Frage nach der Reichweite der richterlichen Akzeptanz gegenüber dem gesetzgeberischen Willen, daneben auch der Vorwirkung der noch nicht in Kraft stehenden Kodifikation auf die Rechtsprechung und der Nachwirkung kantonaler, der Kodifikation entgegenstehender Rechtstraditionen und Rechtsprechungslinien. Hinzu kamen etwa der Umgang mit Generalklauseln und Rechtsprinzipien oder die Durchsetzung bestimmter Problemlösungstechniken und Wertungspräferenzen, wobei von Anfang an eine erschöpfende Behandlung als ausgeschlossen angesehen wurde.

 

In diesem Rahmen weist Vanessa Duss hinsichtlich der Ehescheidung nach, dass das Zivilgesetzbuch einige der vom Bundesgericht entwickelten Grundsätze aufnahm und das Bundesgericht der von Eugen Huber angestrebten Erschwerung der Ehescheidung zum Durchbruch verhalf, während Lukas Geschwend und Mirko Lenarcic eine starke Übereinstimmung zwischen den scheidungsfeindlichen gesetzgeberischen Ansichten und der höchstrichterlichen Rechtsprechung feststellen, ohne dass die außereheliche Sexualität pauschal verurteilt wurde. Caroline Gauch zeigt an Hand der erstinstanzlichen Rechtsprechung zum Ehescheidungsrecht im Kanton Freiburg auf, dass für das Maß der Gesetzestreue vor allem die persönlichen Einstellungen der Richter ausschlaggebend war, ohne dass untere Gerichte einfach bestehende Rechtstraditionen fortführten. Nikolaus Linder erkennt für die Ehen von Ausländerinnen mit Schweizern, dass das Bundesgericht 1939 seine bisherige liberale Praxis zugunsten eines politisch günstigeren Ergebnisses aufgab.

 

Katrin Bayerle weist nach, dass die gesetzlich nicht gelöste Frage des Verhältnisses von Verpflichtungsgeschäft und Verfügungsgeschäft bei beweglichen Sachen vom Bundesgericht zunächst im Sinne des deutschen Abstraktionsgrundsatzes, 1929 in der Entscheidung 55 II 302 aber im Sinne des außerdeutschen Kausalitätsprinzips gelöst wurde. Felix Bommer und Petra Venetz legen dar, wie das Bundesgericht das in Art. 148 StGB in den Betrugstatbestand aufgenommene Arglistmerkmal so konkretisierte, dass unter der Hand nahezu jede Lüge als arglistig eingeordnet werden konnte. Roy Garré schließlich erweist, wie der Widerstand Berns hinsichtlich der vom Bundesgericht verfolgten Aufhebung des bedingten Strafvollzugs bei jedem neuen vorsätzlichen Delikt zu einer Änderung des Art. 41 StGB im Jahre 1950 führte.

 

Insgesamt zeigen alle Studien den beachtlichen Wert der vorgestellten Betrachtungsweise. Möge die Veröffentlichung daher Ansporn zu vielen neuen Studien über das weitgespannte Generalthema Gericht und Kodifikation sein. Vielleicht lässt sich für weitere Veröffentlichungen dann auch ein Sachregister ermöglichen.

 

Innsbruck                                                                   Gerhard Köbler