Geltner, Guy, The Medieval Prison: A Social History. Princeton University Press, Princeton, N.J. 2008, XIX, 197 S.

 

Das hochgesteckte Ziel dieser aus einer in Princeton erstellten Dissertation hervorgehenden Studie ist, die Entstehungsgeschichte von Gefängnissen im Allgemeinen und der Strafhaft im Besonderen unter Berücksichtigung von Gesellschaft und Kultur zu erläutern, zugleich die Forschungslücke Italien zu schließen und die traditionelle Art und Weise, die Geschichte der Gefängnisse darzustellen, um eine anthropologische, stadtgeschichtliche und soziologische Perspektive zu erweitern, und zwar auf der Basis praxisbezogener statt beschreibender Quellen, um auf diese Weise ein lebendiges Bild mittelalterlicher Gefangenschaft zu zeichnen. Herauskommen soll dabei ein fundiertes regionales Porträt, das weiterführende Aussagen über die Mentalitätgeschichte der mittelalterlichen Gesellschaft zulässt. Dies alles soll erreicht werden in fünf insgesamt circa 100 Seiten umfassenden Kapiteln. Der Rest des Bandes besteht aus drei Anhängen (Das lateinische Verzeichnis des Gefängnisinventars von Bologna aus dem Jahr 1305; eine Auswahl im Gefängis entstandener italienischer Gedichte aus dem 14. bis 16. Jahrhundert mit englischer Übersetzung; sowie die Rekonstruktion des 1833 zerstörten Florentiner Gefängnisses Le Stinche), den Endnoten, einer Bibliographie und einem Index.

 

Die großen Erwartungen, die durch den allgemein gehaltenen Titel und Teile der Einleitung geweckt werden, werden nicht erfüllt. Darüber kann auch die mitunter sehr abgehobene, abstrakte, ja zum Teil unverständliche Ausdrucksweise nicht hinwegtäuschen. So ist zum Beispiel der geographische Rahmen nur sehr begrenzt: allein die Gefängnisse von Venedig, Florenz, Bologna und Siena werden analysiert, wobei zu Vergleichszwecken knapp auf Forschungsergebnisse aus England und Frankreich und anderen Teilen Italiens eingegangen wird. Die Forschungslücke Italien kann somit nicht ganz so groß sein, wie eingangs vom Autor behauptet.

 

Auch wird nicht wirklich die Entstehungsgeschichte von Gefängnissen erläutert, sondern höchstens die der Gefängnisbauten von Venedig, Florenz und Bologna, und dies äußerst knapp. Der Überblick über die Baugeschichte der venezianischen Gefängnisse von circa 1173 bis in die heutige Zeit umfasst gerade mal 31 Zeilen, wovon 14 Zeilen auf die Kernzeit des Buches (circa 1250-Ende des 14. Jahrhunderts) entfallen. Obwohl die Gefängnisse der italienischen Stadtstaaten zu den am besten dokumentierten gehören sollen (S. 3) und der Autor betont, dass er besonders intensive Archivstudien betrieben hat (S. 11), verwundert es, wie dürftig die vorgelegten Informationen und wie vage die Zeitangaben sind, was aber an den zur Verfügung stehenden Quellen liegen kann (“prior to the late thirteenth century“, “during the thirteenth and fourteenth centuries“, “several decades later“, S. 12; erst ab dem 16. Jahrhundert wird es etwas präziser: “around 1540“, “in 1591“).

 

Neben dem Abriss der Baugeschichte erfährt man im ersten Kapitel ebenfalls etwas über die Verwaltungsgeschichte der Gefängnisse in Venedig, Florenz und Bologna (Zahl der Bediensteten, ihre Aufgaben und Löhne) und über die Situation der Gefangenen dort. Auf Siena, das nur in der Zusammenfassung dieses Kapitels erwähnt wird, soll in Kapitel 2-5 eingegangen werden, allerdings nicht etwa weil die Quellenlage dort besonders gut oder die Stadt besonders wichtig war, sondern schlicht und ergreifend, um den Leser nicht durch ein weiteres Beispiel zu überfordern (S. 5). Jedoch scheint die Quellenlage für Florenz ungemein besser zu sein: dort sind die von Gefängnisnotaren erstellten Register überliefert, auf die sich der Autor in den folgenden Kapiteln besonders stützt, und Florenz hat als einziger Stadtstaat Quellen, die Auskünfte über die Arbeit der Gefängnisaufsicht geben (S. 11). Warum der Autor also Siena den Vorzug vor Florenz gab, ist nicht ohne weiteres nachzuvollziehen.

 

Im zweiten Kapitel werden dieselben Schwerpunkte wie im ersten Kapitel gesetzt, nur dass jetzt Themen (Stadtentwicklung, Verwaltung, Finanzen und Recht) statt Stadtstaaten (Venedig, Florenz, Bologna) im Mittelpunkt stehen und auch Quellen aus Siena erwähnt sowie Vergleiche mit anderen Teilen Italiens (und nur ganz am Rande Frankreich und England) gezogen werden. In diesem Abschnitt lernt man zum Beispiel, dass „the physical typology of prisons does not necessarily correspond to the development of practical distinctions among custodial, coercive, and punitive incarceration, let alone to the growing employment of the latter measure“ (S. 30) - was wohl soviel heißen soll wie ‚man kann nicht allein aus dem Vorhandensein eines Gefängnisses auf seine Funktion als Ort von Verwahrung, Zwangs- oder Strafhaft schließen’ -, dass aber „the availability and accessibility of prison spaces operated as a catalyst for employing coercive and punitive incarceration on a unprecedented scale“ (S. 31). Dass das Vorhandensein von Gefängnisräumen die Möglichkeit eröffnete, Zwangs- und Strafhaft in größerem Ausmaß zu verhängen, scheint logisch.

 

In diesem Kapitel wird nun auch auf die Entstehungsgeschichte der Strafhaft eingegangen, über die zuvor nur ein paar Randbemerkungen fielen (S. 14, 31). Jetzt aber wird betont, was schon bekannt war: die allgemeine Ablehnung von Inhaftierung zum Zwecke der Bestrafung durch die Theoretiker des Mittelalters, von der dann aber in der Praxis und in den Stadtrechten abgewichen wurde. Den Beginn der Strafhaft (punitive incarceration) sieht der Autor, wenn ich ihn richtig verstehe, in der Zwangshaft für arme Schuldner, die nicht zahlen konnten (im Gegensatz zu Begüterten, die nicht zahlen wollten). Durch diese „’hopeless’ coercive incarceration“, die zeitlich unbegrenzt war, wurde die selbständige Freiheitsstrafe (de facto punitive incarceration) - quasi durch die Hintertür – eingeführt (vgl. S. 55: „most prison sentences were coercive arrests gone sour“, ebenso auf S. 108), doch auch die Ersatzstrafe bei Zahlungsunfähigkeit (vgl. S. 44, 47, 49, 50, 52) ebnete den Weg für Freiheitsstrafen als „common penalty for various offences“ (S. 50).

 

Im dritten Kapitel wird das Leben der Inhaftierten von der Gefangennahme bis zur Entlassung bzw. Beendigung der Haftzeit geschildert, wobei dies wohl die anthropologische Perspektive sein soll, die der Autor neu in die Gefängnisgeschichtsschreibung einbringen will. Der Leser erfährt, dass die Lebensbedingungen in den mittelalterlichen Gefängnissen keineswegs schrecklich waren. Allerdings wird keine Differenzierung vorgenommen. Vielmehr werden alle Bereiche eines Gefängnisses, auch die, in denen Schwerverbrecher einsaßen, über einen Kamm geschert, was zumindest fragwürdig ist, zumal sich die mittelalterlichen Hinweise auf unmenschliche Lebensbedingungen („the Inferno“, „Lytle Hell“, S. 92) immer nur auf Teilbereiche von Gefängnissen beziehen. Es wird ferner betont, dass Gefängnisse keine „liminal spaces“ (S. 81) waren, wo „men and women lived ’on hold’ between social separation and incorporation“, wie oft behauptet (S. 58), da die Gebäude an zentralen Plätzen der Stadt errichtet wurden, die Gefangenen in Kontakt mit der Außenwelt standen und die soziale Klassifizierung und soziale Ordnung (!) trotz der Zusammenlegung der Gefangenen in ein zentrales Gefängnis durch die Aufteilung der Insassen auf verschiedene Gefängnisblöcke gewahrt blieb (S. 81).

 

Das vierte Kapitel fragt, ob mittelalterliche Gefängnisse als irdisches Fegefeuer (earthly purgatory) verstanden werden können, in denen die Inhaftierten ihre verdiente Strafe absitzen und die sie geläutert verlassen. Hier wird auf Texte zurückgegriffen, die zeitlich weit auseinander liegen, von der Bibel über Märtyrerliteratur, Texte und Gedichte des 14.-16. Jahrhunderts bis hin zu Oscar Wilde und Norman Mailer. Die Frage wird letztlich verneint: In „its early days, the urban prison was not a place of shame, a black flower …. to be eradicated or simply camouflaged as a downtown hotel or office building. Rather, the prison became another public site for celebrating or protesting against the regime, for promoting charity, and for negotiating or challenging social order“ (S. 98-99).

 

Das letzte Kapitel (Conclusion: “Marginalizing“ Institutions, Instituting Marginality) beschäftigt sich mit dem Platz von Gefangene in der städtischen Gesellschaft des Mittelalters und gibt zugleich eine Zusammenfassung der Ergebnisse. Obwohl kein einheitliches Muster zu erkennen ist, sind ähnliche Entwicklungen in der Zeit zwischen 1250 und dem Ende des 14. Jahrhunderts, der “watershed period in the history of the prison“ (S. 28), zu beobachten, die zu ähnlichen Ergebnissen führten: Gefängnisse entstanden an zentralen Orten innerhalb der Städte und waren Teil des städtischen Lebens; es wurden Regeln für die Bediensteten der Gefängnisse erlassen und Gebührensätze für Gefangene festgelegt; die Strafhaft kam auf und die Zahl der Gefängnisstrafen nahm zu; man sorgte sich zunehmend um das Wohl der Gefangenen. Das Leben in den Gefängnisse waren nicht die ‚Hölle auf Erden’, was unter anderem auch daran lag, dass die Inhaftierten nicht total ausgegrenzt wurden, sondern sich innerhalb zweier Sozialsymsteme (dem ‚Gefängnissystem’ und der ‚Freien Welt’) bewegen konnten. Mittelalterliche Gefängnisse operierten “as spatial and temporal extensions of urban life, connecting free society back to itself“ (S. 81). Da die sozialen und materiellen Lebensbedingungen innerhalb der Gefängnisse annehmbar waren, ist es falsch, die Geschichte der Strafe mit der Geschichte des Gefängnisses gleichzusetzen (S. 100-101).

 

Diese Buch enthält einige Überraschungen, wie zum Beispiel den häufigen Bezug zu modernen Gefängnissen. Es fragt sich, warum dies überhaupt für nötig erachtet wurde, insbesondere da der Leser eingangs aufgefordert wird, die Informationen sofort wieder zu vergessen, da moderne und mittelalterliche Gefängnisse nicht zu vergleichen sind (S. xii). Dennoch wird die Situation moderner Gefängnisse immer wieder angesprochen. Würde man diese Passagen herausstreichen, wäre der Band noch schmaler geworden. Allerdings gewinnt man während der Lektüre den Eindruck, dass viele Fragestellungen von den Gegebenheiten in modernen Gefängnissen beeinflusst wurden, wie etwa die nach der Profitabilität mittelalterlicher Gefängnisse. Zwar wird betont, dass von mittelalterlichen Gefängnissen selten erwartet wurde, dass sie Profite abwarfen (S. 38), und unterstrichen, dass „it would be misleading to evaluate the prison in terms of a capitalistic endeavor“ (S. 55), gemacht wird es aber dennoch: Auf immerhin fünf Seiten wird analysiert, warum mittelalterliche Gefängnisse nicht gewinnbringend arbeiteten. Dies lag offenbar an der (zunehmenden) Inhaftierung von mittellosen Schuldnern, denn „the growing presence of poor inmates deterred wealthy merchants from getting incarcerated, a development that, although in certain respects welcome, could have reduced the prison’s income even further“ (S. 44). Da die Inhaftierung von mittellosen Schuldnern wirtschaftlich unsinnig war, muss es andere Gründe dafür gegeben haben. „Imprisonment was accessible and applicable and provided urban magistrates with a formula to bridge socioeconomic gaps among citizens“ (S. 47). Bleibt allerdings zu fragen, ob dies den Richtern wohl bewusst war. Ein Beleg hierfür wird jedenfalls nicht erbracht.

 

Überhaupt ist zu konstatieren, dass der Autor sehr sparsam Belege anführt. Gelegentlich wird behauptet, dass etwas bewiesen worden sei, ohne das dies in der Tat geschah. So ist in Kapitel 3 (S. 64) zu lesen, es sei in Kapitel 2 demonstriert worden, dass „’debt’ served as a catchall title for a wide variety of offenses, from gambling, to fraud, to violent assault.“ In Kapitel 2 stehen zwar Sätze, in denen Glückspiel erwähnt wird („Fairly common were incarcerations for gambling and the illicit bearing of arms ..“, S. 50; „  by 1415 the Florentine statutes … specified that those convicted, fined, and then imprisoned for … grave and minor assaults, … [and ] gambling … were eligible for charitable release, thereby disclosing the variety of offenses that could lead … to de facto penal imprisonment“, S. 52; „ poor inmates resorted to gambling, violence, and trickery in order to sustain themselves“, S. 52), für einen überzeugenden Beweis halte zumindest ich diese Sätze nicht, zumal nicht klar ist, ob die Inhaftierung in den Florentiner Statuten als Ersatzfreiheitsstrafe oder als zusätzliche Strafe verhängt wurde.

 

Zudem ist die Argumentation oftmals nicht nachzuvollziehen. Ein Beispiel: „Occupational diversity, along with a range of preoccupations, helps to explain why, in drafting statutes, urban magistrates were more willing to employ penal incarceration“ (S. 48). Ich jedenfalls kann hier keinen Zusammenhang erkennen. Andere Schlussfolgerungen sind unsinnig: „as long as money kept flowing into the city’s coffers, magistrates tended to refrain from applying incarceration as a coercive measure“ (S. 51). Natürlich verhängten die Richter keine Zwangshaft, wenn gezahlt wurde. „Warum sollten sie auch?“, möchte man dem Autor entgegnen. In anderen Passagen kommt es zu Widersprüchen. Die getrennte Unterbringung von Frauen in Gefängnissen zum Beispiel „reduced the threat of heterosexual misconduct and violence“ (S. 64), machte die Frauen aber „more prone to abuse“, weshalb die separaten Frauentrakte auch nur widerwillig von den Richtern (magistrates) eingeführt wurden (S. 65), wobei allerdings die Absonderung von Frauen erfolgte, um „the abuse of female inmates“ zu eliminieren, was aber nur teilweise gelang (S. 66).

 

Die rechtsgeschichtlichen Erkenntnisse, die sich aus diesem Band gewinnen lassen, halten sich in Grenzen. Geltner bestätigt für einige norditalienische Städte, was bereits bekannt war, nämlich die Bedeutung der Zeit von circa 1250 bis 1400 für das mittelalterliche Gefängniswesen. Dass Strafhaft und Ersatzfreiheitsstrafen im 13. Jahrhundert verhängt wurden, ist ebenfalls nicht neu. Ob Gefängnisse seit circa 1250 im großen Stil auch als „punitive institutions for sentenced culprits“ (S. 3) genutzt wurden und Inhaftierung als eigenständige Strafe weiter verbreitet war als bislang vermutet, wie Geltner argumentiert, hängt allerdings davon ab, ob man Ersatzfreiheitsstrafe und Zwangshaft für Schuldner als eigenständige Strafe deutet.

 

Fürth                                                                                                                         Susanne Jenks