Bernoth, Carsten, Die Fehde des Sichar. Die Geschichte einer Erzählung in der deutschsprachigen und frankophonen rechtshistorischen und historischen Literatur unter besonderer Berücksichtigung der Auseinandersetzungen des 19. Jahrhunderts (= Rheinische Schriften zur Rechtsgeschichte 10). Nomos, Baden-Baden 2008. 318 S. Besprochen von Arno Buschmann.

 

Im Mittelpunkt dieser Arbeit, einer von Mathias Schmoeckel betreuten Bonner rechtswissenschaftlichen Dissertation, steht die Sichar-Chramnesind-Erzählung aus den Historiarum Libri Decem Gregors von Tours und die Frage, ob und wenn ja inwieweit diese Quelle als Dokumentation für die Existenz der Fehde als Rechtseinrichtung in merowingischer Zeit angesehen werden kann oder nicht. Mit dieser Fragestellung verbindet der Verfasser zugleich eine Geschichte der Interpretation dieser Erzählung in der rechtshistorischen wie der historischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts und zwar sowohl in der deutschen wie in der französischen. Schließlich unternimmt er den Versuch, die Sichar-Chramnesind-Erzählung auf der Grundlage des gegenwärtigen Standes der Fehdeforschung einer Neubewertung zu unterziehen.

 

Die Darstellung beginnt mit einer Untersuchung über die Heranziehung der Sichar-Chramnesind-Erzählung in der historischen und rechtshistorischen Forschung, bei der auch die Erörterung des Übersetzungsproblems - eines der Kernprobleme der mediävistischen Forschung überhaupt - nicht ausgespart wird, hier vor allem im Hinblick auf die Verwendung des Begriffs Fehde bei der Bezeichnung der bewaffneten Konflikte, von denen in dieser Erzählung die Rede ist. Zu Recht verweist der Verfasser darauf, dass die Erzählung unter verschiedenen Gesichtspunkten betrachtet werden kann, nicht nur unter dem der Schilderung eines verwickelten bewaffneten Konflikts. Es folgt eine ausführliche Schilderung der Verwendung der Erzählung als Quelle für die Darstellung der Fehde in der deutschen und französischen historischen, vor allem aber rechtshistorischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts mit ihren unterschiedlichen zeitgebundenen Wertungen. Als Fazit seiner Schilderung gelangt der Verfasser zu dem Ergebnis, dass diese Erzählung in der deutschen rechtshistorischen Literatur als Schulbeispiel für die Darstellung der Fehde in merowingischer Zeit gilt, diese Deutung in wesentlichen eine Schöpfung der deutschen Forschung des 19. Jahrhunderts ist, sich die Begründung des Phänomens Fehde für die merowingische Zeit in der deutschen und der französischen Forschungsliteratur jedoch deutlich unterscheidet, wofür nach Ansicht des Verfassers vor allem die politischen Gegensätze zwischen Frankreich und Deutschland ursächlich waren. Zutreffend weist er hierbei auch auf die terminologische Problematik hin, die durch den Gebrauch unterschiedlicher Fehde-Begriffe in beiden Wissenschaftsräumen entstanden ist und durch die ein Vergleich zwischen der deutschen und der französischen Forschung außerordentlich erschwert wird. Am Schluss unternimmt er den Versuch, die Sichar-Chramnesind-Erzählung im Licht der Ergebnisse der modernen Fehdeforschung neu zu deuten und kommt hierbei zu den Resultat, dass die Erzählung wohl mehr der Selbstdarstellung Gregor von Tours als Verkörperung des von ihm entworfenen Bischofsideals gedient haben könnte denn als Muster für eine Schilderung der Fehde als eines alltäglichen Geschehens. Möglicherweise habe es sich sogar um eine erdachte Geschichte gehandelt, so dass erhebliche Zweifel an ihrer Verwendung als Muster für eine Fehde ein merowingischer Zeit angebracht sein könnten, auf jeden Fall aber ein Neuüberdenken der bisherigen Deutungen angebracht erscheine.

 

Interessant an den Ergebnissen dieser ebenso materialreichen wie verdienstvollen Arbeit sind nicht nur die zahlreichen Details der berühmten Schilderung der Fehde des Sichar in Gregor von Tours Geschichtswerk (wenn es denn wirklich die Schilderung einer Fehde war und diese sich wirklich so abgespielt hat, wie sie bei Gregor von Tours beschrieben wird ), sondern vor allem die unterschiedlichen Deutungen der Erzählung Gregor von Tours’ in der deutschen und der französischen Forschung, die einmal mehr die nationalpolitischen Bedingtheiten historischer Forschungsansätze in Deutschland und Frankreich im 19. und 20. Jahrhundert sichtbar werden lassen. Auf der anderen Seite zeigt sich am Beispiel dieser Deutungsunterschiede, wie sehr die Diskussion unter der mangelnden Klarheit der begrifflichen Erfassung der Fehde leidet und wie schwer sich Historiker, aber auch Rechtshistoriker getan haben und noch immer tun, die Fehde als das zu erkennen, was sie wirklich ist, nämlich ein durch Rechtsgewohnheit entstandenes Verfahren zur Durchsetzung von individuellen Rechten und Rechtsansprüchen mit Waffengewalt, für die die häufig verwendete Bezeichnung „Selbsthilfe“ nicht nur unzureichend, sondern unzutreffend ist, weil in dieser Bezeichnung der Verfahrenscharakter der Fehde nicht erfasst wird. Auch die vom Verfasser versuchte Definition der Fehde aus dem Fehderecht lässt dieses Wesensmerkmal der Fehde nicht hinreichend deutlich werden. Im übrigen wird man die vom Verfasser geäußerten Zweifel teilen, ob es sich bei den in der Sichar-Chramnesind-Erzählung Gregor von Tours’ geschilderten Vorgängen tatsächlich schon um eine Fehde im Sinne eines rechtlich anerkannten Verfahrens zur Rechtsdurchsetzung mit Waffengewalt gehandelt hat oder nicht doch nur um eine Vorform bzw. eine Frühform, die bestenfalls erste Elemente der späteren mittelalterlichen Fehde aufweist. Zu Recht bemerkt der Verfasser, dass die Rolle der Sichar-Chramnesind-Erzählung in Gregor von Tours’ Historiarum Libri Decem als Quelle für die Fehdeforschung wohl doch noch einmal neu überprüft werden und man über die bisherigen Ergebnisse der Fehdeforschung hinausgelangen müsse, um zu einem zutreffenden Bild vom Rechtscharakter der Fehde im Frühmittelalter vordringen zu können.

 

Salzburg                                                                                 Arno Buschmann