Auf dem Scheiterhaufen der Paragraphen. Richter als literarische Geschöpfe, hg. v. Scheiber, Oliver (= Im Spiegel der Literatur 2). LIT Verlag, Wien 2007. 216 S. Besprochen von Heinz Müller-Dietz.

 

Studien, mit denen sich Juristen in der Absicht an belletristische Werke heranwagen, Recht und Rechtsverwirklichung in literarischer Spiegelung zu analysieren, haben in letzter Zeit deutlich zugenommen. Längst haben nicht nur Rechtswissenschaftler, sondern auch in der Rechtspraxis stehende Juristen das vielfältige und weite Feld der Literatur als ein erkenntnisträchtiges und erkenntnisförderndes Gebiet erkannt. Dem gegebenenfalls - wenn auch nicht in einem unvermittelten direkten Sinne - Einsichten für die eigene Tätigkeit entnommen werden können. Zumal Schriftsteller oft genug andere Vorstellungen als die Berufsträger selbst vom Wirken der Juristen und Justiz hegen und in ihren Texten entwickeln. Der vorliegende Band versammelt - neben der Einführung des Herausgebers - insgesamt sechzehn Beiträge aus der Feder österreichischer Richterinnen und Richter über mehr oder minder bekannte Romane und Theaterstücke aus Geschichte und Gegenwart. Richter schreiben über Schriftsteller, die in ihren Texten Richter dargestellt haben.

 

Im Band sind zunächst einmal Werke und Gegenstände vertreten, die zur Weltliteratur zählen und dementsprechend bereits mehrfache Beachtung aus juristischer Perspektive gefunden haben. Das gilt etwa für Kleists Komödie „Der zerbrochne Krug“ (Erich Kundegraber), die Theaterstücke von Shakespeare „Der Kaufmann von Venedig“ (Hans Peter Lehofer), Bertolt Brecht „Der Kaukasische Kreidekreis“ (Paul Palkovits) und Pierre A. C. de Beaumarchais „Der Tolle Tag oder Figaros Hochzeit“ (Michael Schwanda) sowie die Romane Kafkas „Der Proceß“ (Janko Ferk) und Albert Camus’ „Der Fremde“ und „Der Fall“ (Gabriele Kluger). Doch werden im Band durchweg Werke und Autoren thematisiert, die längst literaturwissenschaftliche und gesellschaftliche Beachtung gefunden haben. Dass Werke der literarischen Moderne dominieren, kann angesichts der geschichtlichen Entwicklung der Rechtspflege und der bei Autoren zunehmend wachsenden Wahrnehmung von Funktion und Rolle des Richters im Prozess schwerlich überraschen.

 

In seiner überaus kundigen Einführung weist Oliver Scheiber auf innere Beziehungen zwischen literarischer und richterlicher Tätigkeit hin. Es sind namentlich der dem Schauspiel verwandte Prozess unddie Sprache als zentrales Mittel der Kommunikation, die beide Formen der Auseinandersetzung mit der Welt verbindet. Parallelen tun sich für ihn aber auch in den Themen der Wahrheit, Gerechtigkeit und Willensfreiheit auf, die sowohl Gegenstände des gerichtlichen Verfahrens als auch literarischer Darstellung sind. Dass das Bild des Richters in den einzelnen Werken recht unterschiedlich ausfällt, ist natürlich verschiedenen Umständen geschuldet: der zeitgeschichtlichen Perspektive, der Konzeption des Textes und natürlich der jeweiligen Sicht des Autors. Das ließe sich selbst an der Justizkritik so augenscheinlich verschiedenartiger Schriftsteller wie etwa Karl Kraus und Kurt Tucholsky veranschaulichen.

 

Scheiber hat die inhaltlich weit auseinanderdriftenden Beiträge in vier übersichtliche Themenkomplexe gegliedert, was fraglos dem Verständnis des Lesers für die heterogenen Richterbilder der Autoren entgegenkommt. Die ersten vier Arbeiten behandeln literarische Texte, die der Rolle und Tätigkeit des Richters innerhalb autoritärer Systeme und/oder des auf sie ausgeübten politischen Drucks gewidmet sind. Als solche Beispiele dienen die zeitgeschichtlichen Romane Ulrich Wickerts „Der Richter aus Paris“ (Norbert Gerstberger), und Friedrich Christian Delius „Mein Jahr als Mörder“ (Georg Kathrein), die Parodie Leonardo Sciascias „Der Zusammenhang“ (Doris Obereder) und das Theaterstück Thomas Bernhards „Vor dem Ruhestand“ (Kurt Reitsamer). Die schon erwähnten „klassischen“ Texte dienen als Exempel für den Richter „als komische Figur“.

 

Ein dritter Themenkomplex hat literarische Darstellungen von Richtergestalten zum Gegenstand, die ihr Amt im Zwiespalt ausüben, innerlich zerrissen sind. Diese Konflikte werden in Beiträgen über die Romane des jüngst wieder entdeckten Autors Sandor Márais „Die Nacht vor der Entscheidung“ (Gertraud Gollner), Ivan Klimas „Richter in eigener Sache“ (Hartmut Haller), Herbert Rosendorfers „Ballmanns Leiden oder Lehrbuch für Konkursrecht“ (Ronald Kunst) und John Grishams „Der Richter“ (Hans Valentin Schroll) näher erläutert. Dem Verhältnis von irdischer und göttlicher Ordnung (und Gerechtigkeit), Ähnlichkeiten zwischen Gerichtsverhandlung und Gottesdienst in literarischen Werken spüren die letzten vier Beiträge des Bandes nach; hier werden transzendentale, religiöse Bezüge in der Schilderung von Richterrollen reflektiert. Das wird beispielhaft verdeutlicht an dem hierzulande weniger bekannten Werk Dante Troisis’ „Diario di un giudice“ (= Tagebuch eines Richters) (Luca De Matteis) sowie der Erzählung „Crainquebille“ – in der „die Verhandlung als religiöses Schauspiel“ in Szene gesetzt wird (Oliver Scheiber) sowie den bereits genannten Romanen von Kafka und Camus.

 

Wie schon Scheiber eingangs angemerkt hat, finden sich unter den dargestellten Justizpersonen keine Richterinnen. Dies spiegelt die bis weit ins 20. Jahrhundert hinein reichende defizitäre Rechtsstellung der Frau wider, die erst mit uneingeschränkter Anerkennung der Gleichberechtigung ihren (vorläufigen) Abschluss gefunden hat. Ausdruck der jetzigen Rechtslage ist, dass sich unter den Verfassern des Bandes auch Richterinnen befinden.

 

Man merkt den einzelnen Beiträgen mehr oder minder deutlich an, dass nicht zuletzt persönliche Vorlieben bei ihrer Entstehung Pate gestanden haben – mag auch die juristische Handschrift unverkennbar sein. Das ist gewiss nicht der schlechteste Zugang zu literarischen Werken. Er hat denn auch auf Inhalt und Qualität der Beiträge mehr oder minder deutlich abgefärbt. Allerdings haben sich verschiedene Verfasser – wie etwa Janko Ferk und Ronald Kunst - bisher schon selbst literarisch betätigt. Und anderen kann unumwunden bescheinigt werden, dass sie sich mit viel Verständnis für eigenständige literarische Sichtweisen und Darstellungsformen in ihren Stoff vertieft haben - was natürlich andere Deutungsmöglichkeiten keineswegs ausschließt. Dementsprechend haben sie die - nicht selten reichlich sprudelnde - Sekundärliteratur - wenn überhaupt - eher begrenzt herangezogen. Das ist ihren Beiträgen - nicht nur im Blick auf die Entfaltung der eigenen Position - denn auch mehr oder minder gut bekommen.

 

Vielleicht spricht dies auch für eine Richtergeneration, die den direkten Zugang zu (Gesetzes- wie zu literarischen) Texten sucht und die im juristischen Studium vielfach eingeschlagenen „interpretativen Umwege“ über Kommentare und andere Auslegungswerke nach Möglichkeit meidet. Das käme denn auch jener kunst- und literaturwissenschaftlichen Perspektive entgegen, wie sie etwa in George Steiners Kritik des Sekundären (Von realer Gegenwart. Hat unser Sprechen Inhalt?, 1990) signifikanten Ausdruck gefunden hat.

 

Saarbrücken                                                               Heinz Müller-Dietz