Aspecten van het Middeleeuwse Romeinse Recht, hg. v. Waelkens, Laurent (= Iuris scripta historica 22). KVAB, Brüssel 2008. 134 S. Besprochen von Gunter Wesener.

 

Der Sammelband, herausgegeben von Laurent Waelkens, vereinigt sechs Beiträge zum mittelalterlichen römischen Recht. Es handelt sich um Vorträge, die vor einem „Contactforum“ der Königlichen Flämischen Akademie von Belgien für Wissenschaften und Künste am 17. Februar 2006 gehalten wurden.

 

Paola Maffei (Siena) behandelt in ihrem Referat (S. 3-15)[1] eine Sammlung von repetitiones und anderen Zeugnissen der Rechtsschule von Toulouse in Manuskripten der Kapitularbibliothek von La Seu d’Urgell, einer kleinen katalanischen Stadt in den Pyrenäen. Die Quellen über das Studium in Toulouse reichen vom letzten Viertel des 13. bis zum ersten Viertel des 15. Jahrhunderts. Die anonyme Collectio (Manuskript 2042), entstanden um 1280, umfasst dreizehn repetitiones, die auf zwölf lectiones matutinales beruhen, welche Konstitutionen des Codex und der Authentiken behandeln. Der Verfasser besitzt eine gute Kenntnis der zeitgenössischen Juristen; sehr häufig wird der französische Jurist Jean de Blanot (de Blanosco, † bald nach 1281) erwähnt, aber auch italienische Juristen wie Odofredus, Accursius und Azo werden zitiert. Wahrscheinlich ist der Verfasser der Collectio identisch mit Guillaume de Ferrières (Guillelmus de Ferrariis, † 7. Sept. 1295 zu Perpignan); eine Reihe von Indizien sprechen dafür. Ein stringenter Beweis lässt sich aber nicht erbringen.

 

Der umfangreiche Beitrag (S. 17-65) Wolfgang Kaisers (Freiburg im Breisgau) untersucht „Wandlungen im Verständnis der Epitome Iuliani von der Spätantike bis zur Gegenwart“[2]. Die Epitome stammt aus dem justinianischen Rechtsunterricht. Es handelt sich um einen Index, d. h. eine Einführungsvorlesung in lateinischer Sprache, zu einer Sammlung von 124 Novellen Justinians (S. 19). Die Epitome war im Westen im frühen Mittelalter die maßgebliche Quelle für die Kenntnis der justinianischen Novellen, die vor allem wegen der kirchenrechtlichen Regelungen von großem Interesse waren (S. 26). Im Hochmittelalter stand die Epitome in Konkurrenz mit dem Authenticum, einem vollständigen lateinischen Novellentext (S. 28ff.). Im Zeitalter des Humanismus kam man aufgrund der griechischen Novellensammlung zum Ergebnis, dass es sich bei der Epitome Iuliani um eine Übersetzung aus dem Griechischen handle (S. 15ff.). Die einzelnen Editionen der Epitome werden von W. Kaiser eingehend behandelt (S. 43ff.). Die maßgebliche Edition der Epitome stammt von François Pithou (1543-1621) und erschien im Jahre 1576 in Basel. Während der Usus modernus keine neuen Erkenntnisse zu Iulian und seiner Epitome brachte, begann mit der Historischen Rechtsschule des 19. Jahrhunderts wieder eine stark quellenorientierte Forschung (S. 61ff.). F. A. Biener erkannte, dass die Epitome ein Produkt des justinianischen Rechtsunterrichts war.

 

Kees Bezemer (Leiden) befasst sich in seinem Referat (S. 67-79) mit Jacques de Revigny (gest. 1296) und seiner ratio motiva. Er betont, dass Revigny seine Ideen im Kontext von Justinians Gesetzgebung und französischem Gewohnheitsrecht entwickelte. Bei Revigny findet sich der Begriff der ratio motiva. Jede lex hat zumindest eine ratio motiva, einen Grund, durch welchen der Gesetzgeber motiviert wurde, aber nicht jede lex hat einen ausreichenden Grund, eine ratio sufficiens (S. 68). Der Begriff der ratio motiva findet sich bei einem Franziskaner, dem Theologen und Philosophen Giovanni di Fidanza, bekannt als Bonaventura († 1274). Revigny hat vielleicht dessen Vorlesungen in Paris besucht. Übernommen wurde der Begriff von Cinus de Pistoia (S. 76f.).

 

Der Beitrag (S. 81-95) Yves Mausens (Montpellier) hat die falsche Zeugenaussage im römisch-kanonischen Prozess und die dafür bestehenden Sanktionen zum Gegenstand[3]. Ein testis falsus vergeht sich in dreifacher Hinsicht, er versündigt sich gegen Gott, der die Wahrheit ist, gegen den Richter, dessen Anwesenheit er damit verachtet und gegen seinen Nächsten, dem er schadet, indem er die Wahrheit verfälscht; auch die Strafen sind dreifacher Art (Ordo Quia iudiciorum quedam XV, 13. Jh.) (Verfasser S. 94).

 

Laurent Waelkens (Löwen) stellt die Frage, ob die Kausalität von Obligationen aus dem mittelalterlichen römischen Recht herrühre (S. 97-107). Er kommt zum Ergebnis, dass das Erfordernis der Kausalität bei Verpflichtungen weder aus dem antiken römischen Recht noch dem römischen Recht des Mittelalters stamme, sondern auf Donellus zurückgehe (S. 104ff.). Als einer der ersten behandelte dieser in seinen Commentaria de iure civili das Recht der Obligationen im Allgemeinen. Martin J. Schermaier[4] hat darauf hingewiesen, dass Donellus im Bereiche des allgemeinen Vertragsrechts „bahnbrechende Entwicklungen in Gang“ gesetzt habe. Er entwarf bereits eine Art „Allgemeinen Teil“ der Vertragslehre.

 

Mit dem Ehestreit Lothars II. befasst sich Mathias Schmoeckel (Bonn) in seinem Beitrag (S. 109-132) und zieht daraus interessante Folgerungen für die Entwicklung des Eherechts, des Erbrechts und des Verfahrensrechts im 9. Jahrhundert. König Lothar II., ein Urenkel Karls des Großen, wurde letzten Endes von Papst Nicolaus I. daran gehindert, sich effektiv von seiner Frau Teutberga zu trennen. So starb er, ohne dass sein Sohn von einer anderen Frau das Erbe antreten konnte. Die „innovative Rolle der Kirche“ wird hervorgehoben (S. 120). Eine Reihe von juristischen Neuerungen, neuen Rechtsideen, die von der Kirche entwickelt wurden und in späterer Zeit zum Tragen kamen, finden sich hier bereits in Ansätzen (S. 126ff.), so die geistliche Gerichtsbarkeit in Ehesachen, die Appellation an den Papst als obersten Richter, die Ausbildung eines kirchlichen Verfahrensrechts. Der Verfasser (S. 131) beobachtet im vorliegenden Fall einen Geburtsvorgang, „nämlich die Entstehung des römisch-kanonischen Prozessrechts sowie des kirchlichen Eherechts als zentrale Materien des europäischen Ius Commune“.

 

Graz                                                                                       Gunter Wesener



[1] Die Untersuchung ist in erweiterter Fassung (mit Fußnoten) unter dem Titel ‚Collectio repetitionum Tholosana (CA. 1280)’ in TRG 74 (2006) 1-30 erschienen.

[2] Wiederdruck aus M. Avenarius (Hg.), Hermeneutik der Quellentexte des Römischen Rechts, Baden-Baden 2008, 300-353.

[3] Zu Zeugenaussagen vgl. W. Litewski, Der römisch-kanonische Zivilprozeß nach den älteren ordines iudiciarii, II, Krakau 1999, 379 ff.; zum falsus testis 404.

[4] Die Bestimmung des wesentlichen Irrtums von den Glossatoren bis zum BGB, Wien‑Köln‑Weimar 2000, 102 f.