Verbrecher im Visier der Experten. Kriminalpolitik zwischen Wissenschaft und Praxis im 19. und frühen 20. Jahrhundert, hg. v. Schauz, Désirée/Freitag, Sabine (= Wissenschaft, Politik und Gesellschaft 2). Steiner, Stuttgart 2007. 334 S. Besprochen von Adrian Schmidt-Recla.

 

Die Herausgeberinnen des anzuzeigenden Sammelbandes, der auf einem 2005 abgehaltenen, von der DFG geförderten workshop beruht, gehen davon aus, dass die bisher geübten Methoden der wissenschaftlichen Reflexion über die Kriminalätiologie, Kriminalbiologie, Kriminalpsychologie, forensische Psychiatrie, Kriminaljustiz und Kriminalpolitik des 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts mittlerweile überholt seien.

 

Der Kriminalitätsdiskurs müsste wegen seiner Heterogenität und Pluralität stärker differenziert und in seinem Abhängigkeitsverhältnis von institutionellen Faktoren und vorhandenen Praktiken analysiert, die Verwissenschaftlichungsthese, die noch immer zurück auf ein hierarchisch strukturiertes Wissenschaftsmodell zurückgreife, müsse zugunsten einer Deutung wissenschaftsspezifischer diskursiver Praktiken relativiert und die Analyse auf den Gebieten der Moralstatistik, Gefängniskunde, Kriminalistik und Kriminologie müsse international vergleichend angelegt werden. Der Expertendiskurs, der die Vorstellungen von Kriminalität und die Definition von Strafe präge, müsse also erstens weiter als bisher gefasst werden – was konkret nichts anderes bedeutet, als auch die Strafanstaltsreformen und die Philanthropen mit in den Blick zu nehmen (ein Desiderat vermag der Rezensent hierin freilich nicht zu erblicken) und den Ausbau von Kriminalistik, Gerichtsmedizin und Statistik stärker als bisher zu untersuchen – und zweitens im Hinblick auf seine institutionellen Voraussetzungen, seine Wissensbestände und seine praktische Relevanz untersucht werden.

 

Dieser unverhüllte „Antragssprech“ kann vielleicht dem Begutachtungsverfahren durch Drittmittelgeber dienen, dem Leser die einleitende, 32-seitige Einführung in den in seinen Beiträgen durchaus spannenden Band aber erheblich versauern. Wem dient solch offensichtliches Abdrucken von rhetorisch aufgeblähten Antragsbegründungen, in denen sich nichts anderes spiegelt als unsere nieder- und hochschulische (Ein-) Bildung? Schauen wir, was der Band in seinen drei Blöcken (Kriminalpolitische Expertenforen und ihr Personal – Kriminologisches Wissen zwischen Alltagserfahrung, wissenschaftlichem Anspruch und politischer Strategie – Expertenwissen und Strafpraxis) inhaltlich bietet:

 

Lars Hendrik Riemer beleuchtet das Auftauchen von Praktikerliteratur ab der Mitte des 19. Jahrhunderts. In ihr spiegele sich die Tatsache, dass die in der Strafanstaltspraxis beschäftigten Autoren zu anerkannten Partnern der Wissenschaft wurden. Martina Henze analysiert die Wissenschaftsgeschichte der internationalen Gefängniskunde mit der ihr eigenen Kongressbewegung und ihrer – erfolglosen – Forderung nach der Integration von Kriminalpsychologie, forensischer Medizin und Psychiatrie und Poenologie in die juristische Ausbildung. Sylvia Kesper-Biermann charakterisiert die IKV als Ort des Ideenaustauschs und der kriminalpolitischen Propaganda, der an der Aufgabe, ein systematisches Konzept für eine Reform des Gefängniswesens zu erarbeiten, gescheitert sei und statt dessen den Erlass von Rechtsnormen zum Strafvollzug diskutierte.

 

Der bislang tatsächlich vernachlässigten Bedeutung des Geschlechts für den Wandel des Nachdenkens über Strafzwecke und Strafpraxis im 19. Jahrhundert widmet sich Karsten Uhl und kommt zu dem (im Allgemeinen freilich bekannten) Ergebnis, dass die zur Besserung und Heilung der Täterinnen angewandte Therapie im Vollzug durchaus selbst eine Form der Strafe darstellen konnte. Außerdem stellt er fest, dass das geschlechtsspezifische Strafdenken des frühen 19. Jahrhunderts sich von dem des ausgehenden dahingehend unterschied, dass ersteres schuldige Verbrecherinnen klar von unschuldigen Kranken trennte, während letzteres vom Vorhandensein einer Schnittmenge zwischen Verbrecherinnen und Kranken ausging. Thomas Kailer legt dar, dass die kriminalbiologische Untersuchung von Tätern und Täterinnen ungeachtet des wissenschaftlichen Popanzes vom „verbrecherischen Weib“, das bestimmte Delikte nur wegen seiner Weiblichkeit begehe, zwischen 1923 und 1945 weitgehend geschlechtsneutral ablief, während die eigentlich geschlechtsneutralen Untersuchungspunkte genau geschlechtsspezifisch („haltlos“, „leichtsinnig“, „glaubhaft“, „Augen voll Falschheit“) ausgelegt wurden. Dieses schöne Ergebnis wird leider etwas entwertet durch die platte Schlussbemerkung, wonach der Diskurs Theorien und Postulate verbreitete, während die Praxis geprägt war vom problemlösenden Zugriff auf ihren Gegenstand (S. 137). Wer hätte das gedacht? Sabine Freitag untersucht Philanthropie, Statistik und Kriminalätiologie in England im Zeitraum 1834 bis 1932 – und löst damit das komparatistische Versprechen der Herausgeberinnen ein. Sie liefert in Deutschland bislang nicht zugängliche Informationen etwa über Henry Lettsom Elliot, Charles Booth, Seebohm Rowntree, William Douglas Morrison und die englischen Sozialreformer, die Sozialpolitik als präventive Kriminalpolitik verstanden. Mit kriminalstatistischen Konstruktionen und der „Kalkulation des Rückfalls“ beschäftigt sich dann eingehender und kritisch Andreas Fleiter. Er lässt die Probleme statistischer Kriminalitätsforschung Revue passieren und endet mit einem pessimistischen Ausblick der dadurch erzeugten Stigmatisierung im NS-Staat.

 

Unter dem Titel „Die Gefängnis-Klinik“ geht Falk Bretschneider der Frage nach, ob die wissenschaftlichen Besserungs- und Therapietheorien in der Praxis des sächsischen Strafvollzuges Waldheim im 19. Jahrhundert Niederschlag fanden und konstatiert trotz hochgestimmter Reformer wie Eugène d’Alinge und Alexander Krell allenthalben das Gegenteil – nämlich ministerielle Rotstiftpolitik, Routine, Abstumpfung und Überdruss der Beamten einerseits und Grenzen des sozialpädagogischen Allmachtstraums an der individuellen Realität der Gefangenen andererseits. Den Frauenstrafvollzug in Bruchsal untersucht Sandra Leukel. Ungeachtet einzelner Erfolgsgeschichten sah auch hier die Realität ernüchternd aus: Reformforderungen blieben weitgehend folgenlos. Désirée Schauz widmet sich der Straffälligenfürsorge (unter Einschluss der Seelsorgepraxis) im Zeichen der oft beschriebenen Medikalisierung der Kriminologie im Kaiserreich und beobachtet hierbei, wie mit ihrer Hilfe die Übernahme von Verantwortung abgelehnt wurde. Die durch die Psychiatrie charakterisierten „Unverbesserlichen“ boten einen idealen Vorwand der Entlastung. Urs Germann legt anschließend die an dieser Stelle von mir bereits besprochenen Ergebnisse seiner Dissertation erneut vor, bevor Jens Jäger den Band mit einer bislang so nicht vorhandenen und deswegen lehrreichen Studie über „Internationales Verbrechen und internationale Polizeikooperation“ am Beispiel der Internationalen Kriminalpolizeilichen Kommission beschließt.

 

Sach- und Personenregister komplettieren den Band, der dem an der Strafrechtsreformdebatte im Kaiserreich interessierten Rechtshistoriker einige neue Einsichten neben bereits Bekanntem bietet. Pessimismus ist der Grundton, auf den die meisten Beiträge gestimmt sind – ganz im Sinne der kriminologischen Offenbarung des „nothing works!“. Kriminalität ist normal – die Reaktion darauf ebenfalls. Dass diese Reaktion ihr Ziel fast nie erreicht, ist offensichtlich ebenso normal. Der diese Erkenntnis ebenfalls liefernde (wie die beiden Herausgeberinnen schreiben würden:) „Kriminalitätsdiskurs“ des Kaiserreichs ist mittlerweile so gut untersucht, dass es lohnenswert erscheint, sich langsam anderen Zeiträumen zuzuwenden.

 

Konstanz/Leipzig                                                        Adrian Schmidt-Recla