Thomasius, Christian, Versuch vom Wesen des Geistes, 1699, hg. v. Zenker, Kay. Olms, Hildesheim 2004. (getrennte Zählung) S. Besprochen von Georg Steinberg.

 

Wenn Christian Thomasius (1655-1728) als bedeutendster Vertreter der deutschen Frühaufklärung gilt, so rührt dies aus seiner langjährigen Publikations- und Lehrtätigkeit an der Universität Halle her, aus der Gründung einer „Thomasius-Schule“, deren Anhänger bedeutenden Einfluss auf das Geistesleben Preußens im achtzehnten Jahrhundert auszuüben vermochten. Allerdings ist keines der Werke von Thomasius selbst in den Rang eines allgemein anerkannten Lehrwerks aufgestiegen. Eine der Ursachen dürfte im „Eklektizismus“, in der partiellen Unausgereiftheit der an aufklärerischem Impetus so reichen thomasischen Werke liegen.

 

Mehr noch als in den philosophischen und juristischen Werken zeigt sich diese Unfertigkeit, diese in hart erkämpfter Abgrenzung von den überkommenen scholastischen Lehren teils fehlgehende Suche nach Neuem, in dem im Jahr 1699 erstmals veröffentlichten Versuch vom Wesen des Geistes. Der volle Titel des Werkes lautet: Versuch von Wesen des Geistes oder Grund-Lehren/ So wohl zur natürlichen Wissenschafft als der Sitten-Lehre. In welchen gezeiget wird/ daß Licht und Lufft ein geistiges Wesen sey/ und alle Cörper aus Materie und Geist bestehen/ auch in der gantzen Natur eine anziehende Krafft/ in dem Menschen aber ein zweyfacher guter und böser Geist sey. Thomasius unternimmt hier die Darstellung einer „Geisterlehre“, einer „Pneumatik“, die sich physikalisch versteht, mithin physikalisch-empirisch zu untermauern ist, zugleich aber Basis einer (christlichen) Metaphysik zu sein beansprucht, welche nicht zuletzt Aussagen über die (auch moralische) Natur des Menschen zulässt.

 

Nachdem er im ersten Kapitel erkenntnistheoretische Überlegungen (zum Verhältnis von sinnlicher Wahrnehmung und Vernunft) entwickelt, stellt Thomasius im zweiten Kapitel als gesicherte Basis seiner weiteren Erörterungen allgemein anerkannte Sätze der Logik und Physik zusammen. Als Kraft, welche die – passiven – Körper in Bewegung setzt, macht er den „Geist“ aus, den er in den folgenden beiden Kapiteln näher definiert und in Unterarten ausdifferenziert. Eine „Hierarchie“ der Geister entwickelnd, liegt die Identität des höchsten Geistes – Gott – für ihn auf der Hand. Das fünfte Kapitel dient vor allem der empirischen Stützung der Thesen, indem insbesondere die Beschaffenheit von Luft und Licht anhand referierter Experimente erörtert werden. Zum praktischen Nutzen seiner Lehre, nämlich der Schulung des menschlichen Denkens mittels Erkenntnis der Natur, nimmt Thomasius im sechsten Kapitel Stellung, und das siebte (ursprünglich nicht vorgesehene) Kapitel schlägt den Bogen dieser Geisterlehre zum Körper und Geist des Menschen selbst.

 

Ein solches Unterfangen, – zugespitzt formuliert – das Aufsteigen des Quecksilbers in einer Röhre (Hauptstück 6, These 3) mit einer Hierarchie unterschiedlicher „Geister“ in Bezug zu setzen, ist nach heutigem Wissenschaftsverständnis methodisch wie inhaltlich abseitig. Nach Albrecht (Christian Thomasius, in: Kreimendahl (Hg.): Philosophen des 17. Jahrhunderts, 1999, S. 238ff., 254) ist es denn auch „die uninformierte Schlichtheit [...], die Thomasius’ Physik wissenschaftsgeschichtlich uninteressant macht.“ Die Entscheidung des Gesamtherausgebers der Ausgewählten Werke von Christian Thomasius, Werner Schneiders’, den Versuch in die Reihe aufzunehmen, scheint vor diesem Hintergrund einer Rechtfertigung zu bedürfen.

 

Zweierlei ist hier anzuführen. Zum einen nimmt der Versuch in Thomasius’ Gesamtwerk eine bedeutsame Position ein. Er selbst formuliert (Vorrede S. 13): „Denn daß ich diesen Versuch von dem Wesen des Geistes publicire, ist deswegen geschehen/ daß meine Zuhörer/ nebst der Vernunfft- und Sitten-Lehre/ auch den Grund hätten zu der Erkenntnis der Creaturen überhaupt.“ Vor dem Hintergrund eines noch zeitgemäßen enzyklopädisch-universalistischen Wissenschaftsverständnisses will Thomasius den Bezug der allumspannenden Philosophie nicht für den einen Bereich der Physik und Pneumatik aussparen. Zu den von ihm selbst genannten Werken, der Einleitung zu der Vernunfft-Lehre und Ausübung der Vernunfft-Lehre, beide 1691, sowie zu der Einleitung der Sittenlehre, 1692, und der Ausübung der Sittenlehre, 1696, bestehen enge Verbindungen zum Beispiel hinsichtlich der erkenntnistheoretischen Fragen. Diese letzteren sind auch für die rechtsphilosophischen Werke, vor allem die Institutiones iurisprudentiae divinae, 1688, und die Fundamenta Juris Naturae et gentium, 1705, von zentraler Bedeutung. Als – auch biographisch-chronologisches – Bindeglied ist der Versuch für deren Interpretation daher eine erhellende Bezugsgröße. Die Thomasius-Interpretation kann, will sie sein universalistisches Wissenschaftsverständnis ernstnehmen, nicht an diesem, für ihn integralen Bestandteil seines Gesamtkonzepts vorbeigehen.

 

Zum anderen gewährt der Versuch Einblick in eine Zeit bedeutsamen Umbruchs für das Selbstverständnis der Physik als Wissenschaft. Die über Jahrhunderte unumstößliche scholastische Konzeption einer offenbarungsgestützten Naturwissenschaft kann nicht ohne Friktionen überwunden werden. So fortschrittlich und kämpferisch Thomasius in seiner Grundhaltung ist, vermag er doch einem „Cartesianismus“, einem konsequent „mechanistischen“ Naturverständnis, nicht zu folgen. Sein Text kann hier als der Versuch verstanden werden, bei Überwindung der scholastischen „Irrtümer“ das Göttliche, den „Geist“, dennoch nicht aus der Natur zu verbannen. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung, in deren Kontext der Versuch steht, zeigt, dass dies den Zeitgenossen durchaus diskussionswürdig erschien, dass der Versuch ein aussagekräftiges Dokument damaliger Erörterungen ist.

 

Kay Zenker hat die Herausgabe des Versuchs in vorbildlicher Weise besorgt. Neben umfangreichen Registern, welche die Arbeit mit dem Text dankenswert erleichtern, stellt er in seinem 43seitigen Vorwort den Forschungsstand und die wichtigsten Parameter für eine Interpretation des Werkes konzis zusammen. Dabei analysiert er allerdings weniger die Bedeutung des Versuchs für die Interpretation des thomasischen Gesamtwerks als vielmehr die damalige wissenschaftsgeschichtliche Situation, insbesondere die „Cartesianismus“-Debatte, und stellt den Versuch, vor allem indem er die literarischen Reaktionen auf den Versuch detailliert aufarbeitet (S. XXXIII-XLIII), in diesen Kontext. Wenn Zenker darauf hinweist, dass Ansätze einer „antimechanistischen Naturphilosophie [...] bis in die gegenwärtige Diskussion der Medizin“ reichen (S. XXIII), so deutet er überzeugend an, dass sich angesichts der zu allen Zeiten aktuellen Frage nach der menschlichen Natur, nach dem Verhältnis von Körper, Geist und Seele, zumindest insoweit die Abseitigkeit des thomasischen Versuchs durchaus relativiert.

 

Hannover                                                                                           Georg Steinberg