Steffen, Dorothea, Bürgerliche Rechtseinheit und politischer Katholizismus (= Rechts- und staatswissenschaftliche Veröffentlichungen der Görres-Gesellschaft, Neue Folge 116). Schöningh, Paderborn 2008. 591 S. Besprochen von Werner Schubert.

 

Die Dissertationen von Michael Damnitz, Bürgerliches Recht zwischen Staat und Kirche. Mitwirkung der Zentrumspartei am BGB, 2001, und von Michael Wolters, Die Zentrumspartei und die Entstehung des BGB, 2001, haben sich ausführlich mit dem Anteil des Zentrums an der inhaltlichen Ausgestaltung des Bürgerlichen Gesetzbuchs befasst. Demgegenüber geht es Steffen mit der vorliegenden Darstellung primär um die „Diskussionsprozesse [zur Rechtsvereinheitlichung], in denen sich Debatten innerhalb des politischen Katholizismus und Diskussionen außerhalb des politischen Katholizismus verflochten und wechselseitig beeinflussten“ (S. 30). Im Mittelpunkt stehen dabei die Haltungen und deren Begründungen, welche die katholischen Abgeordneten vortrugen, und die Berichterstattung in der zentrumsnahen katholischen Tagespresse (Germania, Kölnische Volkszeitung), aber auch die Beiträge in katholischen Zeitschriften und in den Historisch-Politischen Blättern (München) und im „Katholik“ (Mainz) sowie in der „Juristischen Rundschau für das katholische Deutschland“. Eine weitere wichtige Quelle war neben Einzelveröffentlichungen und Monographien insbesondere katholischer Kanonisten das Staatslexikon der Görres-Gesellschaft in der ersten Auflage (1889-1897) und in der zweiten Auflage (1901-1904). Für die Presseartikel war die wichtigste Quelle die Zeitungsausschnittsammlung des Reichsjustizministeriums im Bundesarchiv Berlin. Im Kapitel I geht es um die Debatten zwischen 1869 und 1873 über die Rechtsvereinheitlichung und damit die Auseinandersetzungen über den Antrag Miquel-Lasker, dem Reich die Zuständigkeit für das gesamte bürgerliche Recht zu verschaffen (S. 53-176). Die Ablehnung dieses Antrags durch das Zentrum wurde zunächst begründet mit dem Hinweis auf den Gegensatz zwischen Zentralismus und Föderalismus. Mit dem Föderalismusbegriff konnten „Modelle der staatlichen, politischen, gesellschaftlichen und auch wirtschaftlichen Ordnung verbunden werden, die eine Vielfalt von Macht- und Entscheidungszentren bzw. eine weitgehende Autonomie kleiner korporativer Einheiten und eine gesicherte Stellung der Kirche vorsahen“ (S. 172f.). Nach der Reichsgründung stützte sich die Ablehnung des Antrags Miquel-Lasker auf das Verständnis der Zentrumsabgeordneten wie Reichensperger und Schüttinger über den Zusammenhang von Recht und Volk. Für diese Abgeordneten zeichnete sich die deutsche Nation in ihrer geschichtlichen Entwicklung durch ihre föderale Struktur aus, „die jeden Eingriff in die überkommenen Rechtsverhältnisse verbot“ (S. 520), so dass eine zentralstaatliche Organisation danach als „wesensfremd“ anzusehen war. Hinzu kam unter dem Einfluss des Kulturkampfes die Furcht vor Einzelgesetzen, insbesondere vor der dann tatsächlich 1874/75 eingeführten obligatorischen Zivilehe. Auf die Frage, wie das Zentrum einige Jahre später zur Aushöhlung der Justizhoheit der Bundesstaaten durch die Reichsjustizgesetze stand, geht Steffen nicht mehr näher ein (vgl. S. 154). Vielmehr arbeitet sie S. 149ff. detailliert heraus, dass nach Veröffentlichung des ersten BGB-Entwurfs die Rechtsvereinheitlichung kein Thema mehr war, das der politische Katholizismus offensiv angehen wollte. Die katholischen Stellungnahmen reduzierten und entdramatisierten die Sicht auf die Rechtseinheit, die sich für sie als das natürliche Resultat wirtschaftlicher und allgemeingesellschaftlicher Entwicklungen ergab.

 

Im zweiten Kapitel (S. 177-347) geht es im Zusammenhang mit dem Erscheinen des ersten BGB-Entwurfs (1888) um die grundsätzliche Ausrichtung der Rechtsvereinheitlichung. Behandelt werden die formale Ausgestaltung, die Grundlagen sowie die Aufgaben und Ziele der Privatrechtskodifikation unter den Stichworten: Sprache/Technik/Abstraktionsgrad des ersten Entwurfs, Naturrecht, deutsches/römisches Recht sowie soziales/invidualistisches Recht. Die katholische Presse entzog sich weitgehend der Polarisierung, wie sie in den nationalliberalen, konservativen, linksliberalen und sozialdemokratischen Zeitungen zu beobachten war, und stellte die praktischen Bedürfnisse in den Vordergrund. Das Begriffspaar römisches und deutsches Recht wurde vermieden und das neuscholastische Naturrecht seines angeblich konfessionellen und staatsgefährlichen Charakters entkleidet (S. 260). Für die Übereinstimmung der rechtlichen Regelungen mit moralischen Maßstäben waren das Volk und deren parlamentarische Vertreter zuständig. Die pragmatischen katholischen Stellungnahmen zeigten eine insgesamt geringere Erwartungshaltung an das Recht als die Beiträge der anderen weltanschaulichen und politischen Gruppierungen. Insgesamt signalisierte die katholische Presse grundsätzliche Zustimmung zum ersten Entwurf, der allerdings in ihren Augen noch verbesserungsbedürftig war. – Das dritte Kapitel (S. 349-507) befasst sich mit der Beschlussfassung über das BGB (1895/96) und seinen Inhalten. Die Zentrumsführung unter Lieber, Spahn, Gröber und Bachem trat seit 1893 für eine Zustimmung des Zentrums zum BGB ein, nachdem die Reichsregierung signalisiert hatte, sie lege auf die Mitwirkung des Zentrums Wert. Für das Zentrum bedeutete dies die Möglichkeit, seine potentielle Regierungsfähigkeit und nationale Zuverlässigkeit unter Beweis zu stellen (S. 509). In der katholischen Presse wurde der Versuch unternommen, die lex Miquel-Lasker als Erfüllung der Vorstellungen Windthorsts hinzustellen (S. 394f., 510). Mit Erfolg konnte die bürgerliche Zentrumsführung Forderungen des konservativ-agrarischen Flügels des Zentrums abwehren und in den Verhandlungen der BGB-Reichstagskommission Verbesserungen im sozialen Sinne durchsetzen (S. 415ff.). Gröber und andere Zentrumspolitiker und ein Teil der katholischen Presse setzten ohne Probleme die Deutung durch, „dass es sich bei dem BGB um eine soziale, der materiellen Gerechtigkeit, wenn nicht gar christlichen Vorstellungen verpflichtete Kodifikation handelte“ (S. 510f.). Nach ihnen garantierten die unbestimmten Rechtsbegriffe im Bürgerlichen Gesetzbuch und das richterliche Ermessen, dass der Zusammenhang von Recht und Moral anerkannt würde und materielle Gerechtigkeitsvorstellungen Eingang in das Recht fänden. Allerdings brachte die Rede des Zentrumsabgeordneten Rintelen, der als erster Abgeordneter im Reichstag nach Nieberding (Staatssekretär des Reichsjustizamts) sprach – dies war als eine „Art Trostpflaster“ seitens der Parteiführung gedacht, um Rintelen nicht in die Reichskommission entsenden zu müssen (S. 385) -, die Zentrumsführung in ernsthafte Schwierigkeiten. Denn er machte die Zustimmung seiner Partei zum BGB von einer substantiellen Änderung des Eherechts abhängig (S. 446ff.). Die katholischen Kritiker warfen der Zentrumsführung später vor, mit ihrer Zustimmung zum BGB „ein katholisches Grundanliegen verraten und demzufolge seinen eigentlichen Auftrag verfehlt zu haben“ (S. 503). Der Versuch der zentrumsnahen Presse, die gegenüber dem Personenstandsgesetz von 1875 im Eheschließungsrecht durchgesetzten geringfügigen Verbesserungen „als Anerkennung legitimer katholischer Forderungen“ (S. 541) hinzustellen, war wenig glaubwürdig. Das Werk wird abgeschlossen mit einem Personenregister, nicht jedoch mit einem Sachregister, das ebenfalls nützlich gewesen wäre.

 

Das Werk Steffens, das 2006 vom Fachbereich Geschichts- und Kulturwissenschaften der FU Berlin als Dissertation angenommen wurde, ist in erster Linie eine politik- und parteiengeschichtliche Analyse der Stellungnahmen des Zentrums und der ihm nahe stehenden katholischen Presse und Autoren zur Rechtsvereinheitlichung und zum BGB. Die Debatten im Zusammenhang mit dem BGB können nach Steffen „als Bekenntnis [des politischen Katholizismus] zur bürgerlichen Gesellschaft und als Entscheidung für den politischen Charakter des Zentrums verstanden werden“ (S. 532). Das BGB habe die Auseinandersetzungen im und um den politischen Katholizismus stimuliert, umgekehrt hätten die internen Konflikte die Meinungsbildung der einzelnen Flügel des politischen Katholizismus gegenüber dem BGB ebenfalls stimuliert (vgl. S. 526). Das Werk Steffens ermöglicht dem Rechtshistoriker ein vertieftes Verständnis der Verabschiedung des BGB durch den Reichstag sowie der Arbeiten der Reichstagsabgeordneten in der Reichstagskommission zur Beratung des BGB-Entwurfs und in der 2. BGB-Kommission (Spahn, von Gagern). Die Pressestimmen und katholische Publikationen zum 1. BGB-Entwurf hat Steffen in einer bisher noch nicht erfolgten Breite ausgewertet. Die Ablehnung der lex Miquel-Lasker 1869-1873 im Reichstag durch das Zentrum ist mit der Analyse Steffens verständlicher geworden. Vor allem aber liefert das Werk Steffens einen wichtigen Beitrag zur Deutungs- (Sinn-) Geschichte des BGB. Die bürgerliche Zentrumsführung von 1893-1896 war bemüht, das BGB, im Gegensatz zur Sozialdemokratie, zu den Konservativen und zu den Linksliberalen und im Gegensatz auch zu weiten Teilen der Rechtswissenschaft positiv zu interpretieren, ohne dass sich diese Sicht allerdings nach Verabschiedung des BGB allgemein durchsetzen konnte (hierzu zuletzt Rückert, Historisch-kritischer Kommentar zum BGB, Bd. 1, Tübingen 2003, S. 64ff., bes. S. 95ff.). Insgesamt hat Steffen mit ihrer gut lesbaren Darstellung wichtige, bisher wenig beachtete Aspekte der Entstehungs-, Politik- und Rechtsgeschichte des BGB erschlossen und hat damit einen wichtigen Beitrag zur deutschen Verfassungs- und Rechtsgeschichte des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts geleistet.

 

Kiel

Werner Schubert