Schilling, Lothar, Normsetzung in der Krise – zum Gesetzgebungsverständnis im Frankreich der Religionskriege (= Studien zur europäischen Rechtsgeschichte 197). Klostermann, Frankfurt am Main 2005. IX, 514 S. Besprochen von Arno Buschmann.

 

Lothar Schillings materialreiche Kölner Habilitationsschrift aus dem Jahre 2005 ist einem Gegenstand gewidmet, der in jüngster Zeit immer stärker in den Blickpunkt der Forschung gerückt ist, nämlich dem Gesetzesverständnis oder besser dem Verständnis von der Legitimität der frühneuzeitlichen Gesetzgebung. Die Frage, die immer wieder aufgeworfen und erörtert wird, ist, inwieweit durch die frühneuzeitliche Gesetzgebung eine Positivierung des traditionalen Rechts herbeigeführt und damit eine Veränderbarkeit durch den Gesetzgeber ermöglicht wurde. Zu Recht weist Schilling darauf hin, dass die Antwort auf diese Frage auch Auswirkungen auf verbreitete Bild von der Beschaffenheit der absolutistischen Herrschaft haben muss, vor allem in Bezug auf die Stellung des fürstlichen Gesetzgebers, insofern diesem unter Berufung auf Bodins Souveränitätslehre stets eine weitgehende Herrschaftsgewalt über das gesamte Recht zugesprochen und die fürstliche Gesetzgebungskompetenz nach herrschender Auffassung als die entscheidende Grundlage für die Umgestaltung der fürstlichen Territorien in moderne Staatswesen angesehen worden ist.

 

Schilling erörtert diese Frage am Beispiel des frühneuzeitlichen Frankreich, dessen politische Verhältnisse schon von Carl Schmitt als entscheidend für die  Entstehung des modernen Staates betrachtet wurden. Sein Ziel ist es, die zeitgenössischen Debatten über die Gesetzgebung und die Rechte des Königs als Gesetzgeber im Frankreich der Religionskriege zu analysieren und deren Verhältnis zueinander offenzulegen. Als Begründung für diese Fokussierung auf Frankreich führt er an, dass sich in keinem anderen europäischen Land der König schon so früh und so intensiv des Instruments der Gesetzgebung bedient habe wie in Frankreich. Seit dem Ende des 13. Jahrhunderts hätten die gesetzgeberischen Akte in Frankreich geradezu explosionsartig zugenommen, seien die französischen Könige unangefochten als Gesetzgeber anerkannt und sei das allgemeine Herrschafts- und Gesetzgebungsverständnis entscheidend von dieser Entwicklung geprägt worden. Anders als die bisherige verfassungsgeschichtliche Forschung will Schilling jedoch nicht so sehr die Normen ermitteln, sondern die allgemeinen Wertvorstellungen herausarbeiten, von denen die Stellung des Königs als Gesetzgeber im Verständnis der Zeitgenossen mitbestimmt wurde. Um diese verstehen zu können, müsse ermittelt werden, welche Bedeutung der königlichen Gesetzgebungsgewalt in dieser Vorstellungswelt beigemessen wurde. Als Quellen dienen Schilling an erster Stelle die amtlichen Schriften des Königs und seiner Behörden, an zweiter das öffentlich zugängliche einschlägige Schriftgut nicht amtlichen Charakters und an dritter die zeitgenössische gelehrte Literatur, in der über Gesetz und Gesetzgebung reflektiert wurde. Ihr Inhalt soll miteinander verglichen und auf die Vorprägung durch den kulturellen und sozialen Kontext, dem sie entstammen, untersucht und systematisch geordnet werden.

 

Entsprechend diesem Konzept werden zunächst die Bedeutung der Gesetzgebung, das Gesetzesverständnis der Zeitgenossen und die Akzeptanz des Verhältnisses von Gesetzgebungs- und Jurisdiktionsgewalt des Königs mit dem wichtigen Ergebnis untersucht, dass nach der Vorstellung der Zeitgenossen die Gesetzgebungsgewalt des Königs letztlich auf dessen Gerichtsgewalt als des obersten Richters des Landes beruhte. Ausführlich befasst sich Schilling danach mit den Gründen, Anlässen und Aufgaben des gesetzgeberischen Handelns und dem Verhältnis von königlicher Souveränität und den Mitwirkungsrechten namentlich der Großen des Landes, wobei er zu Recht zu dem Ergebnis gelangt, dass als alleiniger Geltungsgrund der Gesetze letztendlich der königliche Befehl angesehen wurde, auch wenn nach allgemeiner Vorstellung eine Mitwirkung namentlich der Großen des Landes, aber nicht nur dieser, geboten und üblich war. Ebenso eingehend untersucht er die Frage der inhaltlichen Legitimität der Gesetzgebung und kommt hier zu dem Resultat, dass es in der frühneuzeitlichen Gesetzgebung für den König durchaus Legitimitätskriterien beim Erlass von Gesetzen gab, die sich aus den Lehren vom guten Gesetz der spätmittelalterliche Jurisprudenz ergaben. Schließlich wird auch das Verhältnis von Gesetzgebung und überliefertem Recht erörtert, das ungeachtet der Orientierung der Gesetzgebung an den Legitimitätskriterien der spätmittelalterlichen Jurisprudenz vor allem für die Frage der Veränderbarkeit des traditionalen Rechts eine wichtige, wenn nicht gar eine entscheidende Rolle spielte. Schilling meint hier, dass von einer unbeschränkten Veränderbarkeit des traditionalen Rechts durch die königliche Gesetzgebung keine Rede sein kann, vielmehr von ihr nach den allgemeinen Wertvorstellungen erwartet wurde, dass sie die Geltung des überlieferten Rechts gewährleistete und, wo nötig, mit den Erfordernissen der Zeit in Übereinstimmung brachte. Hauptquelle dieser Ergebnisse sind für Schilling die „ordonnances de réformation“, in denen sich in besonders deutlicher Weise die Begrenzung der königlichen Gesetzgebungsgewalt in Bezug auf das traditionale Recht spiegelt. Fazit der Untersuchung ist die Feststellung, dass in Frankreich von einer allgemeinen Akzeptanz einer schrankenlosen Gesetzgebungsgewalt des Königs auch in der Zeit des Absolutismus nicht gesprochen werden kann, vielmehr der König nach den allgemeinen Wertvorstellungen als Hüter und Bewahrer des göttlichen wie des natürlichen Rechts und der traditionalen Rechtsordnung verstanden wurde und die Legitimität seiner Gesetzgebung letztlich auf dieser ihm zugedachten Rolle beruhte.

 

Für den Rechtshistoriker enthält diese von einem Historiker verfasste Untersuchung eine Reihe wichtiger Beobachtungen und Erkenntnisse. An erster Stelle ist festzuhalten, dass die Gesetzgebung des französischen Königs im späteren „Musterland“ des Absolutismus keineswegs schrankenlos, sondern dem traditionalen Recht in viel stärkerem Maße verpflichtet war, als dies bisher in der Forschung angenommen wurde, und dies sogar für die ausdrücklich als „ordonnances de réformation“ bezeichneten legislatorischen Akte gilt. An zweiter Stelle verdient Hervorhebung, dass es auch in Frankreich Legitimitätskriterien für die Gesetzgebung gab, deren Beachtung durch den König nach allgemeiner Auffassung unumgänglich war, und an dritter Stelle ist zu erwähnen, dass der französische König in seinen Gesetzgebungsmaßnahmen durchaus auf die allgemeinen, in seinem Lande verbreiteten Wertvorstellungen Rücksicht nahm, auch wenn die Geltung seiner Gesetze letztendlich auf seinem Befehl beruhte. Das Bild des französischen Königs als eines absoluten Gesetzgebers wird auf diese Weise in entscheidender Weise gegenüber der bisherigen Forschung korrigiert. Auch und nicht zuletzt aus diesem Grund ist Schillings Untersuchung eine wirkliche Bereicherung für die rechtshistorische Forschung, der die besondere Anerkennung durch die Rechtshistorie sicherlich nicht versagt werden wird.

 

Salzburg                                                                                 Arno Buschmann