Schenk, Dietmar, Kleine Theorie des Archivs. Steiner, Stuttgart 2008. 112 S. Besprochen von Thomas Olechowski.

 

Der Autor, Leiter des Archivs der Universität der Künste Berlin, will in diesem Buch „den Blick auf die Grundlagen der Archivarbeit ... richten und den Versuch ... unternehmen, das historische Archiv gedanklich zu fassen.“ (S. 9). Weshalb? „Noch vor wenigen Jahrzehnten galt die Einheit von Archiv und Geschichte als Selbstverständlichkeit und wurde kaum reflektiert. Archivare verstanden sich als Historiker und verkörperten in ihrem Wirken eine als sinnvoll erscheinende Verbindung historischen Wissens und archivarischer Befähigung.“ (S. 13). Neue Ansätze haben jedoch die Archivistik von der Geschichtswissenschaft zu lösen versucht und sie lieber den Informationswissenschaften zuordnen wollen. Ihnen wirkungsvoll entgegen zu treten, dürfte zumindest mit ein Motiv zur Abfassung dieses Buches gewesen sein. Der Verfasser nennt konkrete Beispiele von Absolventen eines in Berlin angebotenen integrierten Studiums der Bibliotheks- und Informationswissenschaft, die sich um eine Anstellung in seinem Archiv bewarben, aber bei näherer Befragung keinerlei Ahnung von Paläographie oder sonstigen historischen Hilfswissenschaften hatten. Ausgehend von diesen konkreten, persönlichen Erfahrungen geht Schenk zurück auf die Grundlagen seines Berufes. Er holt dabei sehr weit aus in die Archiv- und Geschichtstheorie, nennt Foucault und Droysen, spricht von „individuellem“ und „kollektivem“ Gedächtnis und erläutert Grundbegriffe wie Registratur und Überreste. Daran anschließend, berichtet der Verfasser ausführlich über seinen Beruf und dessen Geschichte. Es folgen die „Normen der Archivierung“: der Provenienzgedanke als Ordnungsprinzip, die Schwierigkeiten der Bewertung des historischen Materials auf seine Archivwürdigkeit hin und schließlich „Ein Bericht aus der Werkstatt“, in dem er über die Entstehung des von ihm geleiteten Archivs berichtet. Im letzten Kapitel, „Vom Nutzen des Archivs“, zieht er die Summe aus seinen Überlegungen: Die „Informationsgesellschaft“ und die „digitale Revolution“ haben das Archivwesen vor eine Reihe neuer Herausforderungen gestellt: Diese reichen von der Forderung nach Veröffentlichung von Findbehelfen und Beständen im WWW bis zu den Problemen der Archivierung von elektronischen Quellen. Dennoch sieht Schenk die Zukunft des Archivs optimistisch: „Gerade heute verbreitet es sich immer mehr, dass Studien jedweder Art anhand originaler Quellen betrieben werden; Schüler, Studenten, Journalisten, Publizisten, Privatforscher, auch ältere Menschen, die sich die erforderliche Zeit für aufwendige Recherchen nehmen können, kommen in die Archive. Diese sind immer enger in ein weites Netz alltäglicher, medialer und wissenschaftlicher Kommunikation eingebunden, während der Kanon des historischen Wissens an Verbindlichkeit einbüßt“ (S. 105).

 

Zurück bleibt die Frage, für welches Publikum das Buch geschrieben ist: Bei Fachkolleginnen und Fachkollegen wird er mit seiner – sich durch die ganze Arbeit wie ein roter Faden durchziehenden – Forderung, dass die Archivkunde von der Geschichtswissenschaft nicht zu trennen ist, nur offene Türen einrennen, ihnen aber nur wenig Neues berichten. Und dass er jene, die er ob ihrer Ignoranz kritisiert (wie etwa jenen Benutzer, der ihm offen sagte, „er treibe lieber Sport und mache gymnastische Übungen“, als dass er selbst archivalische Forschungen betreibe, vgl. S. 101), mit seiner theoretisch anspruchsvollen Schrift erreicht, ist zu bezweifeln. Dennoch: Es tut gut, im Arbeitsalltag auch dann und wann innezuhalten und versuchen zu erfassen, worin das Wesen dieser Arbeit eigentlich besteht und die Antwort auf die Frage zu finden, wo der Platz des Archivars in unserer modernen Gesellschaft zu suchen ist. Nicht mehr, aber auch nicht weniger, kann man in diesem Buch erfahren.

 

Wien                                                                                      Thomas Olechowski