Recht im Fin de siècle. Briefe von Raymond Salleiles an Eugen Huber (1895-1911), hg. v. Aragoneses, Alfons (= Studien zur europäischen Rechtsgeschichte 224 = Juristische Briefwechsel des 19. Jahrhunderts). Klostermann, Frankfurt am Main 2007. VII, 216 S. Besprochen von Werner Schubert.

 

Das wichtigste Arbeitsgebiet von Raymond Saleilles (über diesen zuletzt Halpérin in: Dictionnaire historique des juristes français, 2007, S. 694ff.), einem der herausragenden französischen Rechtswissenschaftler des ausgehenden 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts, war die historisch und rechtspolitisch ausgerichtete Rechtsvergleichung. Schon 1889/90 befasste er sich mit der théorie général des obligations nach dem ersten BGB-Entwurf, ein Werk, dem zahlreiche Aufsätze zum deutschen Zivilrecht und 1904 eine umfassende Einführung in das Bürgerliche Gesetzbuch sowie eine kommentierte Übersetzung der §§ 1-432 dieser Kodifikation folgten (hierzu W. Schubert, ZRG GA 114 [1997], S. 142ff.). Zunehmend befasste sich Saleilles auch mit den Vorarbeiten zum schweizerischen Zivilgesetzbuch und ab 1907 mit dieser Kodifikation selbst, wie aus seinen späteren Veröffentlichungen und seinen nunmehr von Aragoneses veröffentlichten 105 Briefen an Eugen Huber hervorgeht. Es ist zu bedauern, dass Hubers Briefe an Saleilles nicht aufgefunden werden konnten (vgl. S. 8). In seiner Einführung, die ein Drittel des Werkes in Anspruch nimmt, geht Aragoneses zunächst der Bedeutung von Briefwechseln für die Wissenschaftsgeschichte und anschließend auf die Biographie von Saleilles ein, eines Professors der „Belle Epoque“ (S. 11-19). Saleilles war an der Gründung der Société d’Etudes législatives beteiligt, in deren Bulletin er seine Ideen zur Reform des französischen Zivilrechts wiederholt darlegte. Hauptsächlich handelt es sich dabei um Referate in der 1904 eingesetzten Kommission zur Revision des Code civil (vgl. S. 131ff.), in der er mit seinen Vorschlägen wiederholt auf Widerstand stieß. Saleilles war mitbeteiligt an der Vorbereitung des Rechtsvergleicherkongresses von 1900 in Paris (hierzu S. 41ff.), zu dem Huber, Zitelmann und Heinrich-Otto Lehmann Referate einreichten. Seit 1902 durfte Saleilles rechtsvergleichende Kurse an der Sorbonne abhalten, 1909 erhielt er den Lehrstuhl für Rechtsvergleichung im Zivilrecht. In dem Kapitel: „Der Jurist im Zauberberg“ (S. 21ff.) befasst sich Aragoneses mit der nicht näher bekannten Krankheit von Saleilles, die zu seinem frühen Tod im Jahre 1912 führte. Im Kapitel 4 weist Aragoneses auf das mehrmals wieder aufgelegte strafrechtliche Werk von Saleilles über die Individualisierung der Strafe (1898) hin, in dem dieser sich mit dem Problem der Willensfreiheit und der Bemessung der Strafe nach der Persönlichkeit des Täters auseinandersetzte. 1905 nimmt Saleilles, der auch Texte des Kardinals J. H. Newman (1905 und 1906) übersetzte, zugunsten des Gesetzes über die Trennung von Kirche und Staat Stellung (vgl. S. 53ff.) und zu Fragen der Übersetzung juristischer Texte aus dem Deutschen ins Französische (S. 47ff.).

 

Im Kapitel 5 geht Aragoneses der Kodifikationsmethode des ZGB nach, an der Saleilles besonders hervorhebt, dass Huber den regionalen Besonderheiten und den Möglichkeiten der weiteren Rechtsentwicklung Rechnung getragen habe. In diesem Zusammenhang hebt Saleilles die Bedeutung der freien Stellung des Richters in Art. 1 ZGB hervor. Insoweit spricht er von der „forme fédérative, celle de avenir“ der Gesetzgebung, und bezeichnet sie als einen Dienst, welcher die Schweiz damit für Europa erbringe (S. 90). Demgegenüber sah Saleilles in der „minutie de ses détails“ einen Fehler des BGB, eines Werks „de jurisconsultes de premier ordre qui, emportés par leur logique et leur esprit d’analyse, ont songé surtout à faire une grande et imposante construction doctrinale“ (S. 77). Hinsichtlich sachenrechtlicher Materien spricht er von einem abus de réglementation (S. 136). Wie seine Briefe zeigen, sah er das BGB wohl in mancher Hinsicht kritischer als früher, je mehr er sich mit dem ZGB befasste. Dies bedeutete jedoch nicht, dass er sein insgesamt positives Urteil über die rechtssystematischen und rechtsdogmatischen Leistungen des BGB-Gesetzgebers, denen er zahlreiche Arbeiten widmete, aufgegeben hätte. Wie aus seinen Briefen hervorgeht, zog er in seinen rechtsvergleichenden Referate und Seminare weiterhin die Regelungen des BGB umfassend heran. Die Rechtsvergleichung war für Saleilles mehr als nur eine Zusammenstellung der einzelnen gesetzlichen Regelungen: „Cela, c’est le commencement seulement du droit comparé; c’est une juxtaposition, ce n’est pas une comparaison des textes. De la juxtaposition il faut tirer des résultats; du reste ces résultats se tirent d’eux mêmes, par la compénétration inconsciente des usages et des doctrines“ (S. 91). Im ZGB sah er die Ergebnisse einer solchen Rechtsvergleichung in gelungener Weise verwirklicht. Auf rechtsvergleichender Basis sollte nach Saleilles auch die Reform des Code civil erfolgen, ohne dass er die Rechtsvergleichung auf die Aufgabe einer Hilfswissenschaft des innerstaatlichen Rechts beschränken wollte. Seine Vorstellung ging auf die Schaffung eines droit commun de l’humanité civilisée, welches die Beziehungen der Menschen untereinander erleichtere. Die Briefe, mit denen Saleilles immer wieder Auskünfte von Huber erbittet, betreffen folgende Fragen: Unveräußerlichkeit von Familiengütern, Entmündigung (Voraussetzung und Verfahren), gesetzliches Erbrecht, vermögensrechtliche Stellung der verheirateten Frau, Rechtsmissbrauch, Stiftung und juristische Personen, Gefährdungshaftung, Einschränkung der Erbenhaftung durch Inventarerrichtung, Familienrat und Anerbenrecht bzw. ländliches Erbrecht.

 

Die Briefsammlung erinnert an einen der großen französischen Juristen des Fin de siécle, der einen engen Kontakt zur deutschen Jurisprudenz und Gesetzgebung auch dann noch hielt, als die deutsch-französischen Beziehungen in die Krise gerieten: „Dans l’état actuel des relations entre la France et l’Allemagne, j’ai peur, et beaucoup de mes collègues s’abstiennent, qu’on y voit un parti pris de mauvaise volonté. C’est contre de pareilles méprises que j’aurais surtout voulu protester par ma présence (...)“ (in Berlin auf einer Tagung, an der er aus gesundheitlichen Gründen jedoch nicht teilnehmen konnte; S. 151, Brief vom 23. 7. 1908). Die Einleitung von Aragoneses, welche wichtige Aspekte des Briefwechsels erschließt, wäre noch informativer gewesen, wenn er detaillierter auf die Beschäftigung von Saleilles mit dem deutschen Recht und auf die Anfänge der französischen Rechtsvergleichung und in diesem Zusammenhang auch auf den Rechtsvergleicher Claude Bufnoir, den Schwiegervater von Saleilles und dessen Lehrstuhlnachfolger, eingegangen wäre. Einige Briefe hätten einer näheren Erläuterung der dort behandelten Probleme bedurft (vgl. S. 126f., 145, 153ff., 182ff.). Nützlich wäre auch die Wiedergabe der im Bulletin de la Société d’Etudes législatives abgedruckten kurzen Antwortbriefe von Huber gewesen.

 

Insgesamt liegt mit der Edition von Aragoneses ein wichtiges Werk zur europäischen und insbesondere zur französischen, deutschen und schweizerischen Rechtsgeschichte der Vorweltkriegszeit vor, deren internationale Ausrichtung noch immer wenig Beachtung findet.

 

Kiel

Werner Schubert