Nachschlagewerk des Reichsgerichts. Gesetzgebung des Deutschen Reichs, hg. v. Schubert, Werner/Glöckner, Hans Peter. Band 3 Weimarer Zeit - Verfassungs-, Aufwertungs-, Arbeits-, Miet- und Pachtnotrecht. Lang, Frankfurt am Main 2007. 637 S. Besprochen von Hans-Peter Benöhr.

 

Der Band schließt die Lücke, die bisher zwischen dem Nachschlagewerk zu den Nebengesetzen aus der Kaiserzeit (Bände 1 und 2 dieser Reihe, erschienen 2005) und dem zu den Nebengesetzen aus der nationalsozialistischen Zeit (Band 4, erschienen 2006) bestanden hatte.

 

Den meisten Raum nehmen die Entscheidungen zur Weimarer Reichsverfassung (120 Seiten; S. 9ff.), zum „Kriegsnotrecht und Übergangsrecht der Nachkriegszeit“ (75 Seiten; S. 135ff.), zum Arbeitsrecht (270 Seiten; S. 212ff.) und zur „Aufwertung“ (130 Seiten; S. 509ff.) ein.

 

In Bezug auf die Reichsverfassung von 1919 (S. 9ff.) war häufig darüber zu entscheiden, ob eine Verfassungsbestimmung  unmittelbar geltendes Recht oder lediglich einen Programmsatz darstellte. Beispielsweise erklärte das Reichsgericht zu Art. 109 Absatz 3, den Satz 1, Aufhebung der öffentlich-rechtlichen Vorrechte oder Nachteile der Geburt oder des Standes, zum Programmsatz; hingegen stelle Satz 2 desselben Absatzes zur Übertragung der Adelsbezeichnungen einen „Rechtssatz im engeren und strengen Sinne“ dar (S. 49). Die in Art. 143 Absatz 1 versprochene „Bildung der Jugend“ sei, so heißt es, „bisher ein reiner Programmsatz geblieben“ (S. 105). Aber die in Art. 128 Absatz 2 angeordnete Beseitigung aller Ausnahmebestimmungen gegen weibliche Beamte wurde ernst genommen und gegenüber den Ländern durchgesetzt (S. 53). Überprüft wurde auch die Verfassungsmäßigkeit einer Rechtsverordnung (S. 46) und eines Reichsgesetzes (S. 48). Eine Definition des „Reichsgesetzes“ i. S. der Art. 153 WRV wurde ebenfalls unternommen (S. 107). 1922 erklärte das höchste Gericht in einem hier nicht erschlossenen Zusammenhang von Art. 131 (Staatshaftung) mit dem Kriegsnotrecht: „Eine oberste Gewalt muss begriffsnotwendig vorhanden sein. Daher tritt in Zeiten des Umsturzes nach Verdrängung der bisherigen formell rechtmäßigen obrigkeitlichen Gewalt an deren Stelle diejenige, wenn auch auf unrechtmäßigem Grunde erwachsene Gewalt als die oberste, der es gelungen ist, tatsächlich die äußere Herrschaft an sich zu ziehen“ (S. 77). 99 Entscheidungen werden zum Beamtenrecht (S. 55ff.), 200 zur Staatshaftung nach Art. 131 (S. 75ff.) nachgewiesen. Der Begriff der Enteignung (S. 107ff.) wird auf Rechtsentziehungen durch ein Gesetz (S. 109) und auf alle subjektiven Privatrechte einschließlich der Forderungen erstreckt. Das Reichsgericht belässt es dabei, dass nach Art. 135 Absatz 2 Satz 2 Halbsatz 2 die Entschädigung durch „Reichsgesetz“ eingeschränkt werden kann, als welches das Reichsgericht auch eine Verordnung des Reiches anerkennt. Mehrere Entscheidungen des Jahres 1925 zur Beschlagnahme von Wohnraum als Enteignungen zeigen die Not der Zeit an.

 

Einen Teil der Bestimmungen, die das Reichsgericht anzuwenden hatte, stellen das Kriegsnotrecht des I. Weltkrieges und das Recht der Übergangs- und Nachkriegszeit bis 1923 dar (S. 135ff.). Die Aufzählung der Rechtsvorschriften zum Kriegsnotrecht mit 463 Leitsätzen hatte bereits in Band 1 dieser Veröffentlichung begonnen. Die den Einzelnen schützenden Bestimmungen gegen Wucher, Preistreiberei und Kettenhandel beschäftigten das Höchstgericht überraschend wenig, etwas mehr Raum nehmen Miet- und Pachtschutz (146 Entscheidungen, 25 Seiten), Grundstücks- und Hypothekenwesen, Prozessrecht und dann das wirtschaftsbürokratische Geldwesen und der Zahlungsverkehr mit dem Ausland ein. Die Bestimmungen hatten nur einen provisorischen Charakter. Sie zeigen doch zweierlei: zum einen die verzweifelte wirtschaftliche Lage, in der sich Gesellschaft und Einzelne mehrere Jahrzehnte lang nach 1914 befanden, mit der innenpolitischen, bis zum Bürgerkrieg reichenden Spannung, die der Staat der Weimarer Republik hätte auflösen müssen. Zum anderen sehen wir, wie das Provisorium nicht mit dem Manchesterliberalismus endete, sondern mit der Fortsetzung des Interventionsstaates, dessen Wurzeln bis in die Kaiserzeit zurückreichen.

 

Eigentliches Gewerbe-, Wirtschafts- oder Handelsrecht ist in den Leitsätzen kaum vertreten. Die Kartellverordnung von 1923 (S. 458ff.) und die Vergleichsordnung von 1927 (S. 496ff.) haben nur geringe Spuren in der Judikatur hinterlassen.

 

Stattdessen nehmen die Entscheidungen des Reichsarbeitsgerichts mehr als ein Drittel des gesamten Bandes ein. Hier werden zum einen Programm und Leistung der Weimarer Republik deutlich: angefangen mit der Tarifvertragsverordnung von 1918 (Entscheidungen auch noch 1940) und dem Betriebsrätegesetz von 1920 (Entscheidungen nicht nach 1932) über das Schwerbeschädigtengesetz von 1922 und 1923 (Entscheidung 1943), das Gesetz über Arbeitervermittlung und Arbeitslosenversicherung von 1927/1929 (Entscheidungen noch 1940), bis hin zum Mutterschutzgesetz von 1927 (noch 1942). Die zahlreichen Urteile machen auch deutlich, wie stark noch die Widerstände gegen dieses neue Recht waren. Gesetzgebung und Rechtsprechung zeigen weiterhin die Kontinuität von der Weimarer Republik über die nationalsozialistische Diktatur, die Nachkriegszeit, die beiden deutschen Staaten bis zur gegenwärtigen Gesellschafts- und Rechtsordnung. Liest man einzelne Leitsätze, dann kann man Kahn-Freunds viel kritisierte Kritik am „sozialen Ideal des Reichsarbeitsgerichts“ (1931) nachfühlen: „Abzulehnen ist die Ansicht, es wohne jedem Tarifvertrage, auch ohne ausdrücklichen Ausspruch, ein sogenanntes immanentes Verbot einer Kündigung inne, die erfolge, weil der Arbeitnehmer eine tariflichen Ansprüche geltend mache“ (1932; S. 227). „Die von den Tarifverbänden bei Abbruch eines Streiks vereinbarte Wiedereinstellungsklausel hat, wenn der betreffende Arbeitsvertrag bereits aufgelöst worden ist, keine normative Wirkung. Soll das alte Arbeitsverhältnis als fortgesetzt gelten, so muss das in irgendeiner Weise in der Wiedereinstellungsklausel besonders zum Ausdruck gekommen sein“ (1932: S. 238). „Wer als Arbeiter und Mitglied einer Betriebsvertretung der Reichsbahn außerhalb des Dienstes in Wort und Schrift die Betriebszwecke … propagandistisch nach einem wohlüberlegten Plan absichtlich und fortgesetzt gefährdet, indem er … zum Streik, zur Aufstellung von Kampfausschüssen und zur Bildung von (roten) Betriebswehren auffordert, um aus jedem Betrieb eine revolutionäre Burg zu machen, begeht eine gröbliche Verletzung der ihm … obliegenden Pflichten“ (1932; S. 352).

 

Nach der Ansicht, dass tarifvertragliche Normen objektives Recht bildeten (1934; S. 229), ist es durchaus verständlich, dass der Betriebsrat als öffentlich-rechtliche Körperschaft anzusehen sei, dessen Zusammensetzung sich nach öffentlich-rechtlichen Gesichtspunkten bestimme (1931; S. 351). Von „einem von dem Lehrling dem Lehrherrn zu entrichtenden Lehrgeld“ ist  noch 1931 die Rede (S. 280). Die große Krise des Bankgewerbes zeigt sich in der Allgemeinverbindlicherklärung des Reichstarifvertrages für das deutsche Bankgewerbe (seit 1929; S. 337ff.). Von zivilrechtlichem Interesse sind die Entscheidungen zum „Bedienungsgeld“ (gemeint ist der Aufschlag von, häufig, 10%), welches Eigentum des Unternehmers werde, und zum „Trinkgeld“, welches vom Gast dem Kellner gewährt werde (S. 247, 266).

 

1934 war festzustellen: „Die in die Deutsche Arbeitsfront eingegliederten Arbeiterverbände sind mit den freigewerkschaftlichen Arbeitnehmerverbänden nicht identisch“ (S. 220). Ein Beispiel für arbeitnehmerfreundliche Entscheidungen nach 1933 ist das Urteil von 1934: „Die Bestimmung in einer Tarifordnung, dass eine erhaltene Urlaubsvergütung … zurückzuzahlen ist, widerspricht dem heutigen Begriff des Urlaubsanspruchs. Diese Bestimmung ist undurchführbar und daher unwirksam“ (S. 222). Ab 1936 lösen „Tarifordnungen“ die „Tarifverträge“ in den Entscheidungen ab (S. 325). Der Krieg kündigt sich 1935 bei der Auslegung des Reichstarifvertrages für Baugewerbe von 1933 an: „Unterirdische Festungsanlagen für Luftschutzzwecke sind Tiefbauarbeiten“ (S. 321).

 

Entscheidungen aus der Zeit nach 1933 sind verhältnismäßig selten. Mitteilenswert sind einige Entscheidungen des III. Senats: 1938 umschrieb er, ohne sie im Leitsatz zu beantworten, die „Frage, wieweit eine Geheimhaltungspflicht der Gemeindebeamten (des Oberbürgermeisters) besteht in einer die Unterlassung des Handels und die Schließung von Geschäftsräumen betreffenden Angelegenheit im allgemeinen und der örtlichen Dienststelle der NSDAP im besonderen“ (S. 144). 1937 gab er unter dem neuen Reichsbeamtengesetz der Klage auf eine Witwenpension unter Berufung auf eine frühere Entscheidung statt, denn die früher zum Ausdruck gebrachte Rechtsansicht „muss auch unter den geänderten staatspolitischen Anschauungen gelten“ (S. 75). Im Zusammenhang mit dem Grundstücksverkehrsrecht führte derselbe Senat aus: „Der Verwaltungsbeamte ist - ebenso wie der Richter - unbedingt dem Gesetz unterworfen. Da, wo ihm das Gesetz für die Betätigung seines pflichtmäßigen Ermessens Schranken zieht, darf er diese Grenzen nicht überschreiten, er darf nicht sein Ermessen an die Stelle der gesetzlichen Vorschriften setzen, ohne sich dem Vorwurf der Willkür oder doch der fahrlässigen Amtspflichtverletzung auszusetzen“. Der § 3 der Bekanntmachung. v. 15. 3. 1918 zählt die nach der Bekanntmachung zulässigen Versagungsgründe erschöpfend und abschließend auf. Die Genehmigung darf nicht nach freiem Ermessen, sondern nur (im Text kursiv gedruckt) aus den Gründen des § 3 versagt werden“ (S. 189). Andererseits wurde von demselben Senat „an der bisherigen Rechtsprechung“ über die Nachprüfung eines wichtigen Grundes für die Kündigung eines Beamten „unter den veränderten heutigen Anschauungen nicht festgehalten“  (1937, S. 74).

 

Abgedruckt ist der vollständige Text der Weimarer Verfassung, nicht der anderer Gesetze, auf die sich die Entscheidungen beziehen.

 

Nach der Original-Nummerierung der Bände des Nachschlagewerks in Zivilsachen (mitgeteilt im Nachschlagewerk des Reichsgerichts Bürgerliches Gesetzbuch, hg. v. Werner Schubert und Hans Peter Glöckner, Goldbach, Bd. 1, 1994, S. XXXVIIff.) werden in der jetzigen Ausgabe Teile aus Band 47, nämlich das „Gewerbe- und Arbeitsrecht“, und aus Band 49 „Öffentliches Reichsrecht“ (212ff.), und Kriegsnotrecht wiedergegeben. Die Leitsätze sind wieder eine Fundgrube der jüngeren Rechts- und Sozialgeschichte und  illustrieren K. W. Nörrs vor zwanzig Jahren gemachte Beobachtungen über die Situation  „zwischen den Mühlsteinen - Eine Privatrechtsgeschichte der Weimarer Republik“.

 

Berlin                                                                                                 Hans-Peter Benöhr