Herrschaftspraxis und soziale Ordnungen in Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Ernst Schubert zum Gedenken, hg. v. Aufgebauer, Peter/van den Heuvel, Christine unter Mitarbeit v. Bei der Wieden, Brage/Graf, Sabine/Streich, Gerhard u. a. (= Veröffentlichungen der historischen Kommission für Niedersachsen, Bremen und die ehemaligen Länder Hannover, Oldenburg, Braunschweig und Schaumburg-Lippe 232). Verlag Hahnsche Buchhandlung, Hannover 2006. 591 S., Ill. Besprochen von Arno Buschmann.

 

Die Gedächtnisschrift für Ernst Schubert war ursprünglich konzipiert als Festschrift zu seinem 65. Geburtstag, wurde dann, als er zwei Monate zuvor starb, zu einer Gedächtnisschrift, in der des bedeutenden Gelehrten und akademischen Lehrers gedacht und dessen eindrucksvolles wissenschaftliches Lebenswerk posthum gewürdigt wurde. Schubert war nicht nur ein exzellenter Kenner der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Geschichte und ihrer Quellen, sondern zugleich ein begnadeter Erzähler, der die unter den Historikern vom Fach immer seltener werdende Gabe besaß, die Welt der Vergangenheit lebendig und gegenwärtig werden zu lassen und menschliches Empfinden und Handeln anschaulich vor Augen zu stellen. Seine Forschungsschwerpunkte waren neben der Landesgeschichte vor allem die Verfassungsgeschichte, aber auch die Geschichte der sozialen Ordnungen und des alltäglichen Lebens, hier vor allem der Menschen am Rande der Gesellschaft, deren individuelles Schicksal und Leiden Schuberts besonderes Interesse galt.

 

Um diese Forschungsschwerpunkte Schuberts gruppieren sich denn auch die Beiträge der Gedächtnisschrift, die von den Herausgebern auf vier große Abschnitte verteilt worden sind: König und Reich, Fürsten und Untertanen, soziale Ordnungen, Historizität und Kommunikation. Ein Anhang mit einen Verzeichnis der von Schubert betreuten Dissertationen und einem Schriftenverzeichnis von Schuberts wissenschaftlichen Arbeiten beschließen den gewichtigen und gehaltvollen Sammelband.

 

Für den Rechtshistoriker sind die einzelnen Beiträge von unterschiedlichem Interesse. Am meisten interessieren die Beiträge aus den ersten drei Abschnitten, namentlich wenn in ihnen Rechtsvorgänge oder rechtlich relevante Ereignisse behandelt werden. Von diesen können im Folgenden nur einige wenige hervorgehoben werden.

 

Aus dem ersten Abschnitt verdient zunächst die Abhandlung Frank Rexroths über die Absetzung König Adolfs von Nassau im Jahre 1298 Erwähnung. Rexroth erörtert die Absetzung nicht isoliert als Vorgang der deutschen Verfassungsgeschichte, sondern stellt sie in den europäischen Rahmen und vergleicht sie mit Vorgängen aus England, Schottland, Schweden und Kastilien. Im Mittelpunkt seiner Ausführungen steht die Erörterung der Frage nach den Voraussetzungen und den Gründen für die Absetzung und der Legitimation zu deren Vornahme. Mit Recht verweist Rexroth auf den Einfluss des kanonischen Rechts und der Kanonistik bei der Suche nach Legitimationsgründen für die Absetzung, aber auch auf die Unsicherheiten, die stets mit einer solchen Absetzung verbunden waren. Im Falle Adolfs von Nassau brachte erst dessen militärische Niederlage in der Schlacht von Göllheim die endgültige Entscheidung – ein Gottesurteil? Interessant ist auch der Beitrag Gerd Steinwaschers über das Verhältnis von Oldenburg zu Kaiser und Reich. Er illustriert zum einen die oftmals unklaren reichsrechtlichen Rechtsverhältnisse in sog. königsfernen Landschaften, zum anderen, in welchem Maße rechtliche Instrumentarien und politischer Druck des Kaisers zu einer Klärung der Rechtslage führten. Im Falle Oldenburgs war es die Wirkungen der Reichsacht, die den Oldenburger Grafen veranlassten, sich dem Kaiser zu beugen und ihn als Lehnsherrn anzuerkennen. Die Reichsacht erwies sich hier einmal mehr zumindest gegenüber kleinen Potentaten als ein höchst wirksames rechtliches Mittel des Kaisers, sich mit seiner Herrschaftsgewalt durchzusetzen. Dass diese Anerkennung der lehnsrechtlichen Bindung der Oldenburger Grafen an das Reich für deren Territorialpolitik Vorteile brachte, namentlich gegenüber Bremen und hier insbesondere in Bezug auf die Erhebung des Weserzolls, steht auf einem anderen Blatt und war aus landesherrlicher Sicht gewiss ein Erfolg und eine wichtige Stufe auf dem Wege zu einer Konsolidierung der gräflichen Herrschaft. Schließlich sei noch der Aufsatz Christine van den Heuvels über die Haltung Hannovers bei der Wahl Josephs II. im Jahre 1764 angeführt und die bei dieser Gelegenheit sichtbar gewordene Verknüpfung der dynastischen Interessen bei der Bischofswahl im Stift Osnabrück mit den habsburgischen Interessen in Bezug auf die Königswahl Josephs II. vivente imperatore, die einmal mehr das schwierige politische und rechtliche Verhältnis zwischen Hannover und dem Reich deutlich macht, seit der Kurfürst von Hannover König von England geworden war. Als Kurfürst von Hannover stand der Hannoveraner in einem Lehnsverhältnis zum Reich und ging dem Kaiser im Rang nach, als König von England hielt er sich für gleichrangig – mit allen Folgen, die sich vor allem politisch für ihn daraus ergaben. Der hannoverschen Gesandtschaft gehörte übrigens kein geringerer als Johann Stephan Pütter als juristischer Berater an, der bei allenfalls auftretenden Rechtsfragen des Reichsrechts, so lautete die Begründung des Hofes für dessen Entsendung, reichsrechtlichen Rechtsrat erteilen sollte.

 

Von den Beiträgen des zweiten Abschnitts sei hier als erstes der Beitrag Wilhelm Janssens erwähnt, der sich mit einem Prozess vor dem klevischen Hofgericht über einen Rechtsstreit aus dem Jahre 1469 zwischen dem Stift Xanten und Gisbert von Bronkhorst-Batenburg um einen unmittelbar am Rhein gelegenen Stiftshof befasst, dessen Akten lange Zeit nicht im Druck zugänglich waren und erst am Ende der siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts publiziert wurden. Der Rechtsstreit verdient insoweit besondere Aufmerksamkeit, als er ein Beispiel für die Rivalität von kanonischem Recht und Landrecht als streitentscheidenden Rechtsquellen bietet. Das Stift berief sich auf kanonisches Recht, Gisbert von Bronkhorst-Batenburg auf Landrecht. Das Stift obsiegte im Rechtsstreit vor dem Hofgericht, der Batenburger erklärte dem Stift die Fehde, eine Verfolgung wegen Friedensbruchs durch den klevischen Herzog unterblieb, eine Verhängung des kirchlichen Banns gegen den Batenburger blieb ohne faktische Wirkung. Eine endgültige Entscheidung des Rechtsstreits fand nicht statt, am Ende des 15. Jahrhunderts endeten die Streitigkeiten ohne förmliche Beendigung – ein für diese Zeit typischer Vorgang. Als zweiter Beitrag sei hier die Abhandlung von Dieter Brosius genannt, in dem das Verhältnis von landesherrlicher Herrschaftsausübung und städtischer Gerichtsbarkeit am Beispiel der Gerichtsprotokolle des 16. Jahrhunderts der kleinen, sowohl wirtschaftlich wie politisch wenig bedeutenden welfischen Landstadt Dannenberg untersucht wird. Bemerkenswert ist, dass den einzelnen Bürgern das Recht zustand, gegen ein Urteil des städtischen Niedergerichts direkt an den Landesherrn zu appellieren, wodurch diesem Gelegenheit geboten wurde, auf die Rechtsprechung des städtischen Rats und des Vogteigerichts, dem zwei Vertreter des Rates der Stadt als Mitglieder angehörten, einzuwirken oder Einfluss nehmen. Wesentliches Ergebnis von Brosius’ Untersuchungen ist die Feststellung, dass sich gegen diese Einflussnahme des Landesherrn auf die städtische Rechtssprechung kein Widerstand in der Stadt regte. Man akzeptierte das Eingreifen des Landesherrn, auch wenn man mit ihm nicht immer einverstanden war. Kleine Landstädte hatten es eben nicht leicht im Umgang mit einem mächtigen Landesherrn. Ein für den Rechtshistoriker interessanter Beitrag ist schließlich auch der Aufsatz von Rudolf Endres über das Zucht- und Arbeitshaus in St. Georgen am See bei Bayreuth, mit dessen Bau 1724 begonnen wurde und das heute noch genutzt wird. Bekanntlich sind Zucht- und Arbeitshäuser in den Territorien des Heiligen Römischen Reiches ab dem Beginn des 17. Jahrhunderts nach holländischem Vorbild in großer Zahl errichtet worden. Das Besondere an dieser Gründung war die privatwirtschaftlich organisierte Nutzung des Zucht- und Arbeitshauses als „Zuchtfabrik“ und der wirtschaftliche Erfolg des Unternehmens, namentlich der Marmorfabrik, der bis zum Übergang des Territoriums an Bayern im Jahre 1810 anhielt.

 

Den Rechtshistoriker interessierende Beiträge finden sich auch im dritten Abschnitt der Gedächtnisschrift. Als erster sei der Beitrag Hedwig Röckeleins über die sog. Weiberlehen herausgegriffen. Die sog. Weiberlehen waren angesichts des militärischen Ursprungs des Lehnswesens eine Anomalie, gleichwohl jedoch bereits ab dem 11. Jahrhundert vielfach in Europa anzutreffen. Im Reich wurden sie nur zögerlich und zumeist nur durch vertragliche Vereinbarungen im Einzelfall zugelassen. Zu Recht lehnt Röckelein die vereinzelt in der Forschung vertretene Meinung, die Zulassung der weiblichen Lehnserbfolge habe zur Auflösung des Lehnswesens im Heiligen Römischen Reich beigetragen, als unzutreffend ab. Tatsächlich gab es bis zum Ende des Reiches genügend Beispiele für Belehnungen an Frauen und durch Frauen. Auch im übrigen Europa waren die Herrscher bemüht, vor allem adelige Frauen trotz fehlender Waffenfähigkeit und der daraus resultierenden rechtlichen Minderstellung lehnsrechtlich an sich zu binden. Der Reichspublizistik des Alten Reiches war die Problematik der sog. Weiberlehn wohlbekannt, wie die ausgiebige Diskussion in ihr über die weibliche Sukzession namentlich im Hochadel des Reiches zeigt. Ein weiterer für den Rechtshistoriker relevanter Beitrag beschäftigt sich mit der Rückkehr hochadeliger Kleriker in den Laienstand, die in der Praxis des Mittelalters - erst recht übrigens in der der Neuzeit - eine nicht zu unterschätzende Rolle gespielt hat. Sein Verfasser Gerhard Reich betont zu Recht, dass Hauptgrund für das Ausscheiden aus dem geistlichen Stand der Erbfall und die Sukzession der weltlichen hochadeligen Herrschaft war, um den Fortbestand der dynastischen Herrschaft zu sichern. Streich zeigt verschiedene Fälle auf, die höchst unterschiedliche Beschaffenheit zeigen, die im 12. Jahrhundert noch besonderes Aufsehen erregten, ab dem 13. Jahrhundert jedoch kaum mehr als Besonderheit betrachtetet wurden, ausgenommen in spektakulären Fällen wie etwa in dem Fall des letzten Spanheimer Philipp von Kärnten, der als Elekt von Salzburg den geistlichen Stand verließ, um die weltliche Herrschaft in Kärnten für sich und seine Dynastie zu retten. Zu Recht weist Streich darauf hin, dass sich die Kirche mit den Laisierungen immer schwer getan hat und erst in unseren Tagen die Bedingungen hierfür zu präzisieren vermochte.

 

Auch die übrigen Beiträge enthalten etliche für den Rechtshistoriker nützliche und interessante Hinweise und Erkenntnisse, die das Bild vom Rechtsleben im Mittelalter bereichern und vielfältiger erscheinen lassen. Insgesamt spiegeln sie die große Bandbreite der Forschungsinteressen und des wissenschaftlichen Lebenswerkes Ernst Schuberts wider, dessen früher Tod für die Geschichtswissenschaft wie für die Wissenschaft von der Rechtsgeschichte eine von allen, die ihn kannten und seine Werke wegen ihrer Originalität und ihrer profunden Quellenkenntnis schätzten, schmerzlich empfundene Lücke hinterlässt.

 

Salzburg                                                                                 Arno Buschmann