Hartung, Gerald, Die Naturrechtsdebatte. Geschichte der Obligation vom 17. bis 20. Jahrhundert (= Alber Praktische Philosophie 56). Alber, Freiburg im Breisgau, 2. unveränderte Aufl. (Studienausgabe). 1999. 366 S. Besprochen von Götz Schulze.

 

Die „obligatio“ gehört zu den systembildenden Grundbegriffen der Zivilrechtswissenschaft. Sie liegt den schuldrechtlichen Regeln aller großen europäischen Kodifikationen zu Grunde. Im deutschen Bürgerlichen Gesetzbuch ist an ihre Stelle zwar der Begriff „Schuldverhältnis“ getreten (§ 241 Abs. 1 BGB), sachlich hat sich dadurch aber, abgesehen von der weiteren Differenzierung in Schuldverhältnisse im weiteren und im engeren Sinne, nichts geändert. Das Schuldverhältnis im engeren Sinne meint die Forderung und die mit ihr gleichbedeutende Obligation. Das schweizerische Obligationenrecht, das 1911 in Kraft getreten ist und das den Begriffswechsel zum Schuldverhältnis nicht mit vollzogen hat, zeigt den Gleichlauf von Forderung und Obligation exemplarisch. In einem übergreifenden Sinne ist die „obligatio“ aber auch Leitbild für rechtliche Verpflichtung in der gesamten Rechtswissenschaft. In rechtsphilosophischer Betrachtung ist sie eine sinntragende Kategorie, mit der das Recht von der Moral, aber auch von anderen gesellschaftlichen Pflichtstellungen unterschieden werden kann. Die obligatio steht insoweit für das Recht als Systembegriff. Seit Kant wird das Recht nur noch in seinen Entstehungsbedingungen an das Sittengesetz gebunden und kann moralunabhängig befolgt werden. Nach positivistischem Verständnis können nicht einmal mehr Angaben über den Grund des Sollens gegeben werden und nach reiner Rechtslehre (Kelsen) ist dies auch gänzlich unzulässig. Die Frage nach einer moralisch begründeten obligatio ist gleichsam die Frage nach der Moralität des Rechts, die Hartung, Privatdozent der Philosophie in Heidelberg, untersucht.

 

1. Hartung geht den sozialpolitischen, ökonomischen und moralphilosophischen Deutungen der rechtshistorischen Überlieferung des Obligationenbegriffs nach. Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist ein gesellschaftspolitischer Bedarf an Stabilität. Der Verfall des politischen Ordnungsgefüges beruhe auf dem Verfall moralischer Wertvorstellungen, der Aushöhlung des Rechtsempfindens und dem Verlust sozialer Bindungsstrukturen (S. 12). Die Fähigkeit des Menschen, Pflichten zu erlernen und moralische Kompetenz zu erwerben führt ihn zu einer Ideengeschichte des Verpflichtungsbegriffs. Der untersuchte Obligationenbegriff wird philosophisch aufgeladen. Nichts weniger als den Prozess der Aufklärung über die Bedingungen der Moralität zeichnet Hartung nach, den er einmal in historischer und zum anderen in politisch-philosophischer Perspektive verfolgt. Es geht dem Verfasser um den Grund der Moralität, die Moralisierung der Rechtsverhältnisse und die theoretische Bestimmung stabiler politischer Herrschaftsverhältnisse (S. 16). Das gibt der Begriff der obligatio, zumal der rechtliche, an sich nicht her. Erst in der klugen Fokussierung auf die Naturrechtsdebatte und in der ursprünglich religiösen Fundierung im Begriff der obligatio naturalis besitzt die Begriffsgeschichte der obligatio diesen fundamentalen Zug.

 

2. Die „kleine Geschichte der Obligation“, mit der die Untersuchung beginnt (S. 17) ist für den ideengeschichtlichen Hintergrund wichtig. Allerdings muss schon die Prämisse unter der Hartung sie untersucht nachdenklich stimmen. Danach habe erst das Naturrechtsdenken Pufendorfs die Moral als Fessel des Rechts entdeckt. Dem Schuldrecht der Antike, das der Verfasser mit grausamen Strafritualen und gefühlloser Unbarmherzigkeit assoziiert, seien erst durch die jüdisch-christliche Religiosität in ihrer Maßlosigkeit Grenzen gesetzt worden. Die Annahme, dass sich das Verschuldungsverhältnis im moraltheologischen Diskurs des Spätmittelalters zu einem Verpflichtungsverhältnis gewandelt habe (S. 19), entspringt einem verbreiteten namentlich im 19. Jahrhundert herrschenden Vorurteil gegenüber dem für amoralisch gehaltenen römischen Recht. Was für die Zwölftafelzeit (450 v. Chr.) aufgrund der schwierigen Quellenlage kaum widerlegt werden kann, ist jedenfalls für das entwickelte klassische römische Recht nicht mehr richtig. Die Rezeption der Stoa in mehreren Phasen und stilprägend spätestens durch Cicero (90 v. Chr.) spricht gegen diese These. Bona fides, aequitas, officium und obligatio naturalis prägen das juristische Denken Roms seit frühklassischer Zeit. Hinzu kommt, dass erst die Institutionen des Gaius (um 160 n. Chr.) als das zeitlich früheste Zeugnis für den Terminus obligatio als rechtliche Verpflichtung gelten. Die Zeit der Zwölftafeln mag als archaisch gewaltsamer Ursprung eines zwangsgebundenen Rechtsdenkens gelten, wobei sakrale Momente den Rechtsverkehr stark beeinflusst haben dürften. Den Ausgangspunkt einer Moralisierung des Rechts in das Spätmittelalter zu verlegen dürfte aber nur insoweit zutreffen, als die Moral hier von theologisch religiösen Inhalten erstmals unterscheidbar und im Prozess der Aufklärung sukzessive getrennt wird.

 

3. Hartung arbeitet den historischen Begriff der obligatio naturalis heraus, wie er für den Zeitraum der Naturrechtsdebatte seit dem 17. Jahrhundert in einer philosophisch ganzheitlichen Sicht zutreffend ist. Die Pflicht folgt aus der lex naturae und ist als ursprüngliche Verschuldung des Menschen gegenüber der Gottheit zu verstehen (S. 22, 36, 50). Im Naturrecht bis zum 18. Jahrhundert erscheint das Verschuldungsverhältnis als Urgrund der Moral nach einem göttlichen Naturgesetz. Beachtet werden muss aber auch das fundamentale Erkenntnisinteresse dieser Epoche. Es gehr ihr - noch im Paradigma des christlich-scholastischen Vollkommenheitdenkens - um die „Gränzenbestimmung zwischen der eigentlichen Rechtswissenschaft und der Sittenlehre“[1]. Zur „eigentlichen Rechtswissenschaft“ gehört das Naturrecht als vernunftmäßig erschlossenes Universalrecht neben dem Gesetzes- und Gewohnheitsrecht. Die obligatio naturalis steht am Ende dieser Entwicklung, als religiöse Grundlage des Rechts außerhalb desselben.

 

4. Die begriffliche Fassung des Terminus obligatio naturalis von Ludovicus Molina (1535-1600) ist die einer Gewissensbindung. Die Befolgung natürlicher gerechter Normen wird gefordert, sie ist aber zivilrechtlich nicht einklagbar (S. 53). Das trifft bezogen auf den moralischen Aspekt einer innerlichen Bindung zu. In seiner historischen Ursprungsbedeutung im römischen Recht ist die obligatio naturalis dagegen ein rechtstechnisches Instrument zur Integration von Sklaven und anderen gewaltabhängigen Personen in den allgemeinen Geschäftsverkehr. Die weit entwickelte Sklavenhaltergesellschaft spätestens seit Ende des ersten nachchristlichen Jahrhunderts nutzte den Sklaven als Geschäftsmann. Die aktive und passive Verbindlichkeit des Sklaven war eine obligatio naturalis. Den Begriff benutzten die Römer per abusionem, weil der Rechtsstatus des Sklaven der einer Sache blieb. Hartung sieht diese doppelte Perspektive der römischen Rechtslehre auf der einen und des kanonischen Rechts auf der anderen Seite (S. 54 u. Fn. 84). Er bleibt in seiner Darstellung aber ganz dem kanonischen Verständnis verbunden und blendet damit den pragmatischen Zweck des Obligationenbegriffs aus.

 

5. In diesem Blickwinkel ist es zutreffend, dass der göttliche Wille in der obligatio naturalis das principium obligationis war und erst durch Kants Selbstverpflichtung aus der autonomen Vernunft überflüssig wurde (S. 198). Die Metaphysik der Sitten überwindet das Naturrechtsdenken (S. 190) und der Strafrechtler Feuerbach löst die Vernunft weitergehend auch vom Sittengesetz ab (S. 223). Die instruktiv und detailgenau dargestellte Naturrechtsdebatte, dargestellt nach den großen Denkern Pufendorf, Thomasius, Wolff und Kant, versteht Hartung als den Zersetzungsprozess des Naturrechtsdenkens (S. 167). Unter der Prämisse einer religiösen Grunddeutung aller Verpflichtung lässt sich die Entwicklung auch anhand des Obligationenbegriffs darzustellen, der nach und nach seine religiöse Seite abstreift. Die historische Entwicklung des Naturrechtsdenkens tritt dabei deutlich hervor und liefert ein anschauliches Beispiel für die angemahnte Historisierung der Naturrechts- und Vernunftsrechtsdiskussion[2].

 

6. Die historische Rechtsschule hat mit Hugo, von Savigny und Puchta die Frage nach der Quelle des natürlichen Rechts im Gewohnheitsrecht, respektive im Volksgeist, verankert. Der Verfasser schildert die Positionen (S. 227 - 255) und wirft ihr im Anschluss an Böckenförde[3] (S. 234 Fn. 543) ein ungeschichtliches Denken vor. Der Rekurs auf die römischen Rechtsverhältnisse der Antike sei nur dann plausibel, wenn zweifelsfrei bewiesen werden könne, dass die Grundbegriffe des modernen Privatrechts (Rechtsfreiheit und Geschäftsfähigkeit etc.) bereits in der Zeit römischer Weltherrschaft zum geltenden Recht gehörten (S. 245). Abgesehen davon, dass der Verfasser hier ein Beweiserfordernis aufstellt, das einer probatio diabolica gleicht, bekräftigt er seine These von der fehlenden Innerlichkeit und des fehlenden Konzepts einer Verpflichtung im antiken römischen Recht. Hartung will zeigen, dass die kantische Position eines Vernunftrechts beruhend auf einem Konzept der Persönlichkeit neu war und von der historischen Rechtsschule zu Unrecht als historische aus ius civile und ius gentium abgeleitete römische Position ausgewiesen wurde (S. 247). Die angebliche Leere im römischen Recht ist eine historische Annahme[4], die zunächst ihrerseits zu beweisen wäre.

 

7. In Friedrich Nietzsche zeigt Hartung den politischen Denker, der in der Genealogie der Moral den Ursprung des Obligationenrechts mit dem Ursprung der Moral gleichsetzt. Nietzsche erkennt ihn anthropologisch im Beginn des Abmessens und Abwägens (S. 276). Hintergrund von Nietzsches Position sei die Diskussion um Shakespeares Kaufmann von Venedig, der im 19. Jahrhundert als die Parabel des modernen Obligationensrechts erscheine (S. 272). Kennzeichen des Obligationenrechts ist danach die körperliche Personalhaftung und damit das Recht am Körper des Schuldners. Es liegt ganz in der Willkür des Gläubigers, ob er mehr oder weniger vom Fleisch des Schuldners herunter schneide (S. 261). Die Genese des schlechten Gewissens, die aus der Härte und Grausamkeit der Rechtspraxis entspringt, moralische Werte hervorbringt und zur innerlichen Triebhemmung führt (S. 282), ist eine von Hartung überzeugend herausgearbeitete, psychologisch gedeutete und von historischen Quellen gelöste Vorstellung, die eher den philosophischen als den juristischen Diskurs beeinflusst haben dürfte.

 

8.         Überzeugend stellt der Verfasser die rationalistisch pessimistische Sicht Max Webers an das Ende seines historisch philosophischen Abrisses. Auch Weber hält die ethische Konzeption der Obligation für eine neuzeitliche Errungenschaft. Eine spezifische Gesinnungsethik sei das Fundament einer modernen Lebenswelt, in der es um Schuld und Verantwortlichkeit gehe (S. 291). Webers Interesse an der Herkunft des Phänomens des Kapitalismus führt ihn aber zur Entzauberung der Welt. Der Mensch habe die Fähigkeit eingebüßt, prinzipielle moralische Entscheidungen treffen zu können. Der Grund der Moralität lasse sich nur im religiösen Zusammenhang stellen. Eine skeptische Sicht, der sich der Verfasser anschließt (S. 329).

 

9. Hartung hat eine in weiten Strecken überzeugende Begriffsgeschichte der obligatio aus Sicht der Philosophie vorgelegt. Das Thema ist gesellschaftspolitisch wichtig und in ihren Zeitdiagnosen unverändert aktuell. Eine zum Teil eindringliche und schöne Sprache zeichnen das Buch aus. Dass ihm der juristische Blick und das pragmatische Interesse an einem rechtstechnischen Systembegriff und einer sozialen Praxis zur Kontingentierung der Zukunft fehlen, ist nicht zu kritisieren. Die Innerlichkeit der Person und ihre Bedeutung auch für rechtliche Überlegungen in einem gesellschaftlichen Kontext ist ein wertvoller Beitrag für die Rechtsphilosophie. Der Arbeit liegt eine Dissertation aus dem Jahr 1994 zu Grunde. Sie ist 1998 und 1999 in zweiter Auflage erschienen. Namentlich die Arbeiten Wolfgang Kerstings über den historischen Abgrenzungsprozess des Rechts von der Moral könnten eine wertvolle Ergänzung für eine wünschenswerte 3. Auflage sein[5].

 

Heidelberg                                                                                                     Götz Schulze



[1]  Zur Dichotomie in vollkommene und unvollkommene Verbindlichkeiten, vgl. Schaumann, Johann Christian Georg, Kritische Abhandlung zur philosophischen Rechtslehre, Halle, 1795, Nachdruck Brüssel 1969, S. 50.

[2]   Etwa Rückert, Historie und Jurisprudenz bei Justus Möser, in: Stolleis (Hrsg.), Die Bedeutung der Wörter. Festschrift für Sten Gagnér, 1991, S. 357, 362 und Fn. 20;..

[3]   Böckenförde, Die Historische Rechtsschule und das Problem der Geschichtlichkeit des Rechts. In: ders., Recht, Staat, Freiheit. Studien zur Rechtsphilosophie, Staatstheorie und Verfassungsgeschichte, 1991, S. 17.

[4] Dagegen Behrends, Treu und Glauben. Zu den christlichen Grundlagen der Willenstheorie im heutigen Vertragsrecht. In: Dilcher/Staff (Hg.), Christentum und modernes Recht. Beiträge zum Problem der Säkularisation. 1984, S. 255; ders., Gesetz und Sprache. Das römische Gesetz unter dem Einfluß der hellenistischen Philosophie. In: Behrends/Sellert (Hg.), Nomos und Gesetz. Ursprünge und Wirkungen des griechischen Gesetzesdenkens, 1995, S. 135.

[5]   Kersting, Das starke Gesetz der Schuldigkeit und das schwächere der Gütigkeit, in: Kersting (Hrsg.), Recht, Gerechtigkeit und demokratische Tugend, 1997, S. 74; ders., Die Verbindlichkeit des Rechts, in: ebd. S. 19; ders., Freiheit und Tugend, in: ebd., S. 436; ders., Die Unabhängigkeit des Rechts von der Moral, in: Johann Gottlieb Fichte, Grundlage des Naturrechts, 2001, S. 21.