Enzyklopädie des Mittelalters, hg. v. Melville, Gert/Staub, Martial, 2 Bände. Primus/Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2008. XIV, 432, VI, 498 S. Besprochen von Arno Buschmann.

 

Enzyklopädien haben heutzutage Konjunktur. Fast fühlt man sich in das Zeitalter der Aufklärung zurückversetzt, als nach dem Vorbild der großen französischen Enzyklopädie Europa geradezu von einer enzyklopädischen Bewegung erfasst wurde. Auch jetzt erscheinen Enzyklopädien in großer Zahl, sei es von Teilgebieten des Wissens oder sei es von ganzen Wissensbereichen, die unterschiedlich gestaltet sind, die einen alphabetisch angelegt, andere systematisch geordnet, wieder andere in Form von bloßen Reihen von monographischen Darstellungen, die in ihrer Gesamtheit eine enzyklopädische Präsentation des Wissens liefern sollen.

 

Die Herausgeber der vorliegenden Enzyklopädie des Mittelalters, Gert Melville, Professor für mittelalterliche Geschichte an der TU Dresden und zugleich Direktor der Forschungsstelle für vergleichende Ordensgeschichte an der Katholischen Universität Eichstätt, und Martial Staub, Professor für mittelalterliche Geschichte an der University of Sheffield, haben einen eigenen Weg gewählt und ihrer Enzyklopädie ein spezifisches Konzept zugrunde gelegt, das von bestimmten geschichtstheoretischen Prämissen ausgeht, die für sie die Grundlage für die Erfassung und Präsentation unseres derzeitigen Wissens über das Mittelalter bilden. Wichtigste dieser Prämissen ist, dass die Geschichte des Mittelalters nicht aus nationalstaatlicher Perspektive zu betrachten und zu erfassen ist, sondern in ihrem europäischen Struktur- und Entwicklungszusammenhang gesehen und aus diesem auch verstanden werden muss. Die regionale Ereignisgeschichte soll demgegenüber zurücktreten und als nachrangig behandelt werden. Zugleich will man die Bedeutung des Nationalstaates für die Erforschung der Geschichte des Mittelalters, die vielfach bis in die Gegenwart die jeweiligen nationalen Forschungen geprägt hat und teilweise noch immer prägt, „hinterfragen“ und in ihrer Gesamtstruktur aufarbeiten. Dieses Konzept soll dazu beitragen, die immer noch vorhandene Dominanz der nationalen Perspektive bei der Darstellung der mittelalterlichen Geschichte zu überwinden und den Gesamtzusammenhang der Geschichte des europäischen Mittelalters sichtbar zu machen.

 

Als „geistiger Vater“ dieses Konzepts wird von den Herausgebern Marc Bloch mit seiner bereits im Jahre 1928 auf dem Osloer Historikerkongress erhobenen Forderung nach einer vergleichenden Betrachtung an Stelle der durch die nationalen Traditionen bestimmten mediävistischen Methodik in Anspruch genommen. Von Marc Bloch stammt auch der sozialgeschichtliche Ansatz des Werkes als Grundlage für die Ordnung des mediävistischen Forschungswissens und die „Hierarchie“ der einzelnen Wissensbereiche, die von den Herausgebern als Ordnungsschema benutzt wird. Fundament für die Ordnung des Forschungswissens ist dementsprechend die menschliche Gesellschaft mit allen ihren Ordnungsvorstellungen, Herrschafts- und Herrschaftsorganisationsformen, ihren sozialen Formationen und Ordnungen, zu denen auch das Recht gezählt wird, und den hierzu gehörigen sozialen Kommunikationsformen und Interaktionen. Das Forschungswissen über diese Bereiche wird an den Anfang aller Wissensbereiche gestellt, die in der Enzyklopädie erfasst sind. An zweiter Stelle folgt der Bereich, der mit den Stichworten Glaube und Wissen umschrieben wird, und in dem unser Wissen über die Religion und deren Formen, das Wesen von Mensch, seiner Welt und Umwelt, seine Glaubens- und Denkformen, die Bildungseinrichtungen sowie die medialen Formen der Wissensvermittlung des Mittelalters in ihrer Gesamtheit vor Augen gestellt werden soll. An dritter Stelle rangieren unsere heutigen Erkenntnisse über die Welt der mittelalterlichen Literatur, der lateinischen wie der volkssprachlichen, und deren Entwicklung, gefolgt von der Darstellung der Forschungsergebnisse zur Geschichte der bildenden Kunst, deren Epochen und deren Trägern sowie  zur Welt der Musik und deren Ausdrucksformen. Daran anschließend werden die Forschungsergebnisse zur mittelalterlichen Wirtschaft, Wirtschaftslehre einschließlich der Wirtschaftsethik und der wirtschaftlichen Praxis sowie die Technik einschließlich der einzelnen Technikformen und Technikbereichen behandelt. An vorletzter Stelle finden sich die Erkenntnisse der mediävistischen Forschung zu den natürlichen Gegebenheiten wie Klima und Natur und den sozialen Lebensräumen im Mittelalter bis hin zur Darstellung unserer heutigen Kenntnis von den Formen der mittelalterlichen Ernährung. Erst an letzter Stelle rangiert die Ereignisgeschichte, beginnend mit der Völkerwanderung und endend mit den Entdeckungen, bei deren Darstellung zwischen „Innen“ und „Außen“ von Europa unterschieden und bei der in Bezug auf den inneren Bereich Europa nach den einzelnen Regionen und deren Entwicklung aufgegliedert und für den äußeren Bereich nach den äußeren Bedrohungen, namentlich dem Verhältnis zwischen Abendland und Byzanz und den äußeren politisch-militärischen Aktionen und deren Schilderung unterschieden wird.

 

Die einzelnen Abschnitte und Artikel des Werkes sind zum Teil von ausgewiesenen Sachkennern verfasst, nicht selten wahre Kabinettstücke konziser Darstellung und enthalten oftmals eine Fülle interessanter Beobachtungen, Überlegungen und Deutungen, aus denen nicht nur der Historiker, sondern auch der Rechtshistoriker vielfältige Anregungen schöpfen kann. Für den Rechtshistoriker ist enttäuschend, dass ausgerechnet für den wichtigen Abschnitt über das Recht im Mittelalter kein rechtshistorischer Sachkenner gewonnen werden konnte, so dass die Lektüre gerade dieses Abschnitts sowohl in der Darstellung wie in der Bibliographie angesichts etlicher Ungereimtheiten, Unausgewogenheiten und Fehleinschätzungen einen unbefriedigenden Eindruck hinterlässt.

 

Auch wenn diese enzyklopädische Darstellung unseres derzeitigen Wissens über das Mittelalter (die sich im übrigen durch eine gediegene typographische Ausstattung auszeichnet) angesichts der von Herausgeber, Verlag und den meisten Autoren der Beiträge erbrachten Leistungen Respekt einflößt, bleiben doch etliche Zweifelsfragen. Streiten kann man zunächst über die Grundanlage des Werkes. Die Frage ist, ob es eine glückliche Entscheidung war, in der enzyklopädischen Darstellung einer geschichtlichen Epoche wie der des Mittelalters die Ereignisgeschichte und mit ihr das faktische Fundament aller historischen Forschung an den Schluss der systematischen Ordnung der Materien zu stellen. Zweifel regen sich auch in Bezug auf den sozialgeschichtlichen Ansatz, mit anderen Worten, ob es gerechtfertigt ist, mit dem Stichwort Gesellschaft zu beginnen, ihm alles unterzuordnen und darunter Herrschaft und Herrschaftsformen, politischen Ordnungsvorstellungen, Organisationsformen und Institutionen, ständische Ordnungen, verwandtschaftliche und gentile Ordnungen, Normen und das Recht und die Formen der Kommunikation und Interaktion unterschiedslos zu subsumieren. Es fragt sich auch, ob es nicht besser gewesen wäre, vorrangig die geographischen Bedingungen jener Räume zu behandeln, in denen sich das geschichtliche Geschehen abgespielt hat, und damit die natürlichen Vorrausetzungen des menschlichen Lebens zu schildern, welche die Basis für die geschichtlichen Vorgänge bilden. Außerdem fragt sich, ob es dem Gegenstand angemessen ist, dass manche Beiträge einen deutlichen Überhang an Reflexion gegenüber der Mitteilung von historischen Fakten erkennen lassen, wodurch zwar vielleicht interessante Erkenntnisse vermittelt werden, die Vermittlung von Wissen über die zugrunde liegenden Fakten jedoch entschieden zu kurz kommt. Geschichtsdarstellungen müssen nun einmal faktenorientiert sein, was darüber hinausgeht, mag wie auch immer beschaffener Reflexion überlassen bleiben. Überhaupt ist das ganze Werk nach Anlage und Inhalt eher eine Theorie der Strukturgeschichte des Mittelalters denn eine enzyklopädische Darstellung der Faktizität mittelalterlichen Geschichte und ist damit ein Spiegel für eine verbreitete Richtung innerhalb der modernen Mediävistik, auf deren Problematik an dieser Stelle nicht eingegangen werden kann.

 

Salzburg                                                                     Arno Buschmann