Die lokale Policey. Normensetzung und Ordnungspolitik auf dem Lande. Ein Quellenwerk, hg. v. Wüst, Wolfgang, red. v. Petry, David/Untheim, Carina/Heller, Marina (= Die „gute“ Policey im Reichskreis. Zur frühmodernen Normensetzung in den Kernregionen des alten Reiches 4). Akademie Verlag, Berlin 2008. 607 S., Ill. Besprochen von Michael Stolleis.

 

Um ein anschauliches Bild vom Normbestand der frühneuzeitlichen „Policey“ zu gewinnen, genügt es nicht, ein möglichst umfassendes Repertorium der normsetzenden Territorien und Städte zu erstellen. Ein solches Repertorium ist zwar als Basis unverzichtbar und Schritt für Schritt wird das Unternehmen des Frankfurter Instituts einem Ende zugeführt werden[1]. Notwendig ist vielmehr auch die konkrete Anschauung durch leicht lesbare Texte, die einen Einblick in das regional verfügbare Material geben. Der Erlanger Historiker Wolfgang Wüst hat sich dieser Aufgabe in verdienstvoller Weise verschrieben. Drei Bände sind bereits erschienen[2]. Nun nimmt er sich die die ländliche, in der Herrschaftspyramide die „unterste“ Ebene vor, unterhalb der Territorien und Städte. Es geht um die Normen der Ortsgemeinde, um die genossenschaftlichen Formen der Agrarwirtschaft und der Handwerke, also um Weistümer, Ehaften, Taidingen und Dorfordnungen. Man kann, das ist heute Konsens, diese Normen nicht mehr als Instrumente der Selbstregulierung unter Freien und Gleichen idealisieren. Wolfgang Wüst tut dies auch nicht. Mit Recht weist er darauf hin, dass die Interessen und Aktionen von Einzelnen, Genossenschaften und Obrigkeiten ineinander greifen, wenn auch mit einer langfristigen Tendenz zu hoheitlicher Regelung. Eine schlichte Dichotomie von herrschaftlichem Gebot und genossenschaftlicher Freiheit gibt es also nicht. Als zeitliche Begrenzung bleibt er, wie zuvor, im 15. bis 18. Jahrhundert, in der Hauptepoche der „guten Policey“[3]. Geographischer Raum sind im wesentlichen Orte in Brandenburg-Kulmbach, Brandenburg-Ansbach, im Nürnberger Gebiet, bis in das Gebiet des Hochstifts Würzburg einerseits, das Eichstätter Gebiet andererseits. Wir bewegen uns also in „Franken“.

 

Diese reich gegliederte und von vielfältigen Herrschaftsrechten durchkreuzte Landschaft ist von der Orts-, Regional- und Landesgeschichte vielfach bearbeitet worden. Es gibt ältere Editionen und Untersuchungen von Weistümern, Dorfordnungen sowie auf das Dorf bezogene Policeynormen der bischöflichen, städtischen, adeligen oder landesherrlichen Obrigkeiten. Aus ihnen wurde hier eine Auswahl getroffen, um einen möglichst repräsentativen Überblick über die zu regelnden Materien zu geben. Es ging um die zu wählenden Amtsträger, vom „Dorffmaister“ (oder wie er sonst heißen mochte) bis zum Nachtwächter, zum Schweinehirten und der Gänseliesel, die geordnete Verwaltung der Gemeindekasse, die Ordnung des Marktes und des Gerichts, die Bestimmung der Flurgrenzen und des jeweils neu festzulegenden Brachlandes, die Ordnung der für alle so wichtigen Mühle, die Holz- und Weidnutzung des Gemeindewaldes oder um die Vorsorge vor Bränden. Die agrarische vormoderne Welt wies eine große Vielfalt auf, je nachdem ob die Menschen Ackerbau oder Weinbau, Fischfang oder kleine Handwerke trieben, ob sie einem weltlichen oder geistlichen Herrn unterstellt waren, dessen Zugriff fest oder nachlässig sein konnte. Aber der Rhythmus der Jahreszeiten, die technischen Standards, die Allgegenwart der Kirche und das allgemeine Zeitgefühl schufen doch wiederum eine große Homogenität. Dem entsprechend lassen sich auch die hier präsentierten Regelwerke gut vergleichen[4].

 

Der Band beginnt mit drei Ehaftsordnungen (1471, 1597 und 18. Jh.). Ihnen folgen zwei Gerichtsordnungen (1573, 1702) sowie dreißig chronologisch geordnete Dorf- und Gemeindeordnungen, allesamt aus Franken. Die von Wolfgang Wüst versammelten zwanzig Mitarbeiter, wohl meist aus dem Erlanger Umfeld, beschreiben jeweils die Ortsgeschichte und die Quelle selbst. Anmerkungen geben Erläuterungen zu schwer verständlichen Worten (hier hätte man modernen Lesern etwas mehr entgegenkommen sollen), Schreibvarianten u. ä. Insgesamt ist ein gut lesbarer Band entstanden, der – ohne Vollständigkeit anzustreben – ein lebendiges Bild der normativen Ordnung auf dem Land vermittelt. Dass dieses Bild nicht mit dem Bild des „guten“ Lebens identifiziert werden darf, versteht sich von selbst.

 

Frankfurt am Main                                                                                         Michael Stolleis

 

 



[1] Repertorium der Policeyordnungen der frühen Neuzeit, hg. v. Härter, K./Stolleis, M., 1996 ff. Der Serie der Repertorien, die das Reich und einzelne Territorien erschließt, folgt nunmehr eine Serie von Repertorien ehemaliger freier Reichsstädte (Frankfurt, Köln, Ulm usw.).

[2] Die „gute“ Policey im Schwäbischen Reichskreis, unter besonderer Berücksichtigung Bayerisch-Schwabens, hg. v. Wüst, W. (= Die „gute“ Policey im Reichskreis. Zur frühmodernen Normensetzung in den Kernregionen des alten Reiches 1), 2001; Die „gute“ Policey im Fränkischen Reichskreis, hg. v. Wüst, W. (= Die „gute“ Policey im Reichskreis. Zur frühmodernen Normensetzung in den Kernregionen des alten Reiches 2), 2003; Die „gute“ Policey im Bayerischen Reichskreis und in der Oberpfalz, hg. v. Wüst, W. (= Die „gute“ Policey im Reichskreis. Zur frühmodernen Normensetzung in den Kernregionen des Alten Reiches 3), 2004.

[3] Warum der Herausgeber bei der als geschlossene Einheit verwendeten Formel „gute Policey“ nur das Adjektiv „gute“ in Anführungszeichen setzt, ist dem Rezensenten nicht klar geworden. Um eine ironisierende Verfremdung von „gute“ kann es wohl nicht gehen; denn die Zeitgenossen verstanden ja auch eingreifende strenge Maßnahmen als Merkmal einer „guten Obrigkeit“.

[4] Siehe hierzu auch die leider nicht berücksichtigte Studie zu Württemberg von Achim Landwehr, Policey im Alltag. Die Implementation frühneuzeitlicher Policeyordnungen in Leonberg, 2000 sowie das von mir behandelte württembergische Dorfrecht von 1593, Wirkungen europäischer Rechtskultur. Festschrift für Karl Kroeschell, hg. v. Köbler, G./Nehlsen, H., 1997, 1259 ff.