Bornschier, Volker, Konflikt, Gewalt, Kriminalität und abweichendes Verhalten. Ursachen, Zeit- und Gesellschaftsvergleiche. Loreto-Verlag, Zürich 2007. V, 773 S. Besprochen von Heinz Müller-Dietz.

 

Das umfangreiche Werk des seit 1976 in Zürich lehrenden Soziologen ist als Lehrbuch zu seiner einschlägigen Vorlesung konzipiert. Gegenstand sind Konflikte, wie sie sich in modernen Gesellschaften namentlich auf Grund von Gewalt, Kriminalität, abweichendem Verhalten und Protestbewegungen herausgebildet haben und weiterhin an der Tagesordnung sind. Volker Bornschier geht in seinem Werk natürlich auch der Frage nach, welche Lösungsansätze entwickelt worden sind und praktiziert werden. Die Darstellung knüpft an entsprechende sozialwissenschaftliche Theorien und Fragestellungen an, um diese dann an einer Fülle empirischer Untersuchungen zu veranschaulichen. Ungeachtet einer deutlichen Orientierung an US-amerikanischen und europäischen – nicht zuletzt schweizerischen – Studien wartet das Werk auch mit einschlägigen Informationen über Australien, Japan, Südkorea und Neuseeland auf. Im Zentrum stehen freilich weitgehend die Konflikte entwickelter westlicher Industriegesellschaften – die indessen den besonderen Problemen sog. Transformationsländer konfrontiert werden. Diese umfassende soziologische Perspektive wird bereits an Titel und Untertitel deutlich. Und sie kehrt im abschließenden Epilog wieder, der den Konflikten der Weltgesellschaft – vor dem Hintergrund massiver sozialer Ungleichheit und ausgeprägter Globalisierungstendenzen – gewidmet ist.

 

Das übersichtlich gestaltete Werk ist in vier Teile gegliedert, die jeweils mit eigenen Literaturverzeichnissen versehen sind. Ausführliche Stichwort- und Personenverzeichnisse runden das Ganze ab. Im ersten Teil führt der Verfasser an Hand von Fragestellungen, Begriffen und Theorien in die Konfliktproblematik und Konfliktfelder ein und gibt einen ersten Überblick über einschlägige empirische Befunde. Bereits hier kommen die Themen zur Sprache, die denn auch im weiteren Gedankengang des Werkes unter Rückgriff auf zahlreiche empirische Studien detailliert behandelt werden. Dabei stehen im Mittelpunkt die politischen Bewegungen und Konflikte des 20. Jahrhunderts, die Kriminalität (nicht zuletzt die Homizidraten), die Selbstschädigung, namentlich der Suizid, die Unterschiede zwischen verschiedenen Ländern (im Blick auf Konfliktindikatoren) und gesellschaftlichen Gruppen sowie die Konfliktmanifestationen im Zeitablauf bis hin zu den jüngsten Entwicklungen.

 

Im zweiten Teil konfrontiert Bornschier bisherige Konflikttheorien mit den verschiedenen Formen aktuellen abweichenden Verhaltens. Nicht zuletzt wird ihre Bedeutung für die Erklärung von Kriminalität reflektiert. Dabei geht der Verfasser auf die keineswegs nur kriminologisch, sondern für das Verständnis gesellschaftlicher Vorgänge schlechthin konstitutive Problematik ein, wie sich individuelle Dispositionen in kollektivem Verhalten realisieren. Hier stellt sich also die – auch anderwärts diskutierte – Grundfrage nach einer theoretisch zureichenden Vermittlung von Makroebene und Mikroebene. Kritik übt Bornschier an einer häufig anzutreffenden täterzentrierten Betrachtungsweise, welche die Rolle und das Schicksal des Opfers im Tatgeschehen (und dessen Folgen) ausblendet. Besonderes Gewicht legt er in diesem Teil auf die Herausarbeitung der Rolle des sozialen Wandels und der Selbstkontrolle.

 

Der dritte Teil ist der Darstellung und Analyse der verschiedenen Formen selbstschädigenden und kriminellen Verhaltens – unter Akzentuierung der Gewaltkriminalität – gewidmet. Dabei knüpft Bornschier namentlich an bisherige kriminologische Erkenntnisse, das sog. „Basiswissen“ über Kriminalität, an. Hier präsentiert er gleichsam ein Kompendium vorliegender (statistischer) Befunde über nationale und regionale deliktsspezifische Entwicklungen im Zeitablauf und Gesellschaftsvergleich. Kriminalität setzt er ferner zur Schichtzugehörigkeit und zum Bildungsstand in Beziehung.

 

Der vierte Teil, in dem Bornschier den politischen Protest und die politische Gewalt thematisiert, schließt an sein früheres Werk „Westliche Gesellschaft im Wandel“ (1988, Neuausgabe 1998) an, in dem er seine Theorie konfliktiver Evolution entwickelt hat. Das erinnert an das zentrale Thema Wilhelm Heitmeyers, der 1997 in dem von ihm herausgegebenen zweibändigen Werk danach gefragt hat, was eine Gesellschaft zusammenhält und was sie auseinandertreibt. Diese grundsätzliche Problematik hat ja unter dem Vorzeichen gestanden, den „Weg der Bundesrepublik von der Konsensgesellschaft zur Konfliktgesellschaft“ zu beschreiben und zu analysieren. In diesem Sinne enthält der vierte Teil  eine Darstellung und Analyse neuerer, wenn nicht jüngster Formen politischen Protests und politischer Gewalt. Am Anfang steht die Frage, woran es liegt, dass gesellschaftlicher Friede sich trotz unablässiger, darauf gerichteter Bemühungen nicht einstellen will. Eine Antwort ergibt sich aus der mit dem Fortschritt einhergehenden Herausbildung neuer konflikthafter Strukturen und Prozesse. Sie ist im Grunde schon im dritten Teil durch den Verweis auf Phänomene gesellschaftlicher Desorganisation, wie sie in Institutionen auftreten, und sozialer Desintegration, wie sie Individuen treffen und betreffen, sinnfällig und verständlich gemacht worden. Nur sind jetzt eben vor und nach der letzten Jahrhundertwende neue Risikodeterminanten und Konfliktpotenziale in Erscheinung getreten – wie sie sich z. B. in den religiös-fundamentalistisch „legitimierten“ Selbstmordattentaten manifestieren. Auch hier nehmen die Aspekte sozialen Wandels und sozialer Bewegungen im Zeitablauf und Gesellschaftsvergleich in der Darstellung entsprechenden Raum ein.

 

Bornschier weist auf der Grundlage reichen empirischen Materials und eines aktuellen Fundus an Erklärungsansätzen Konflikten in der Entwicklung moderner Gesellschaften eine maßgebende Rolle zu. Nach seiner Analyse sind gesellschaftliche Konflikte durch ambivalente Züge gekennzeichnet. Auf der einen Seite treiben sie die gesellschaftliche Weiterentwicklung an, auf der anderen Seite weisen sie retardierende, wenn nicht regressive Elemente auf. Dabei kommt den Reaktionen auf Konflikte besondere Bedeutung zu. Sie bringen nicht nur verschiedene Verhaltensmuster hervor, sondern führen auch zu deren Auswahl. Einen grundsätzlichen Topos dieser Evolutionstheorie bildet die Überzeugung, dass gesellschaftliche Konflikte nach allen bisherigen Erfahrungen nur auf Zeit hinreichend kontrolliert werden können und in den Griff zu bekommen sind. In diesem Kontext hat das Funktionieren sozialer Mechanismen, namentlich die Qualität einer Gesellschaftsordnung, hervorstechendes Gewicht. „So verläuft das Geschehen in der sozialen Welt durch Aufbau und Zersetzung von Gesellschaftsmodellen.“ (S. III)

 

Diese – hier stark verkürzt und vereinfacht wiedergegebene – Evolutionstheorie spiegelt in gewisser Weise die Rezeptionsgeschichte soziologischer Forschung wider, die von Emile Durkheims anomietheoretischem Konzept über Max Weber, Georg Simmel, Robert Merton und Talcott Parsons bis hin zu einer ganzen Reihe zeitgenössischer Autoren führt – von denen hier nur Ralf Dahrendorf, Ulrich Beck, Wilhelm Heitmeyer, Peter Heintz und Niklas Luhmann genannt seien.  Bornschier versteht sein Erklärungsmuster – guter sozialwissenschaftlicher Tradition entsprechend – nicht in einem verengten dogmatischen Sinne. Er erblickt darin vielmehr einen offenen Ansatz, der des Diskurses, der empirischen Überprüfung sowie der Fortentwicklung im Zeitablauf zugänglich ist. Was daran beeindruckt, sind die systematische Ordnung und theoretische Durchdringung einer fast kaum noch überschaubaren Materialfülle, die durch überaus heterogene, weltweit auseinanderdriftende und in der Veränderung begriffene Erscheinungsformen gesellschaftlicher Konflikte charakterisiert ist. Dieses Konzept hat auch etwas vom Januskopf wissenschaftlichen und technischen Fortschritts, der neben schöpferischen, die Menschheit fördernden Impulsen eben auch die Konterbande entwicklungsgefährdender regressiver Tendenzen mit sich führt.

 

Die Stoff- und Themenfülle, die der Verfasser vor dem Leser ausbreitet, ist schon bemerkenswert. Das gilt zum einen für das Spektrum der Abweichungen, die – dem umfassenden Anspruch des Werkes entsprechend – im Einzelnen dokumentiert und analysiert werden. Das trifft zum anderen aber auch auf die theoretischen Diskurse zu. Praktisch alle für den Zusammenhalt und den Zerfall von Gesellschaften, für soziale Integration und Desintegration relevanten Theorien kommen zur Sprache und werden im Blickwinkel empirischer Untersuchungen auf ihre Aussagefähigkeit und Konsistenz befragt. Oft genug sind es denn auch Ansätze, die Bausteine zur Erklärung kriminellen Verhaltens enthalten (vgl. z. B. die Aggressions-, Anomie-, Deprivations-, Desintegrations-, Ettikettierungs-, Kontroll-, Kulturkonflikt-, Neutralisierungs- und Subkulturtheorie).

 

Das Werk lässt deutlich die Vorzüge und Probleme großflächiger, gleichsam globaler Darstellungen erkennen Auf der einen Seite werden die vorherrschenden gesellschaftlichen Strukturen und Prozesse in übersichtlicher Weise reflektiert. Der Leser gewinnt dadurch relativ rasch einen theoretisch wie empirisch fundierten Durchblick. Auf der anderen Seite bleibt zuweilen für Feinzeichnungen und Differenzierungen in der Wiedergabe von Entwicklungen in der Forschung vergleichsweise nur begrenzter Raum. Ein sprechendes Beispiel liefert etwa jene Partie des Werkes, die sich mit Rolle und Position der sog. kritischen Strafrechtssoziologie und eines ihrer maßgebenden Wortführer (Fritz Sack) auseinandersetzt. Darüber, dass dessen Ausgangspunkt ein marxistischer gewesen ist – wovon Bornschier ausgeht -, ließe sich ja reden. Ebenso auch darüber, dass Sacks gesellschaftstheoretischer Ansatz auch in seinen späteren Ausprägungen starke ökonomische Anleihen aufgenommen hat, während er demgegenüber durchaus empiriebedürftig erscheint. Doch werden die Veränderungen in den Sichtweisen und die Verlagerung mancher Schwerpunkte in der Darstellung nicht registriert – ebenso wie der Wandel des für die sog. kritische Kriminologie zentralen Organs, des „Kriminologischen Journals“, praktisch ausgespart wird. Gewiss, in einem vorrangig soziologischen Werk kann oder muss dergleichen nicht vertieft werden, wenn es nicht an der Überfülle der Detailinformationen ersticken will. Doch ist dies wohl der Preis, der für eine großangelegte Darstellung gezahlt werden muss, die ihre Fühler nach den verschiedensten gesellschaftlichen Entwicklungen und ihrer Rekonstruktion in wissenschaftlichen Diskursen ausstreckt.

 

Ein solcher Einwand stellt indessen den positiven Gesamteindruck, den das Werk hervorruft, mitnichten in Frage. Es hält mit seinem umfassenden Überblick über den internationalen Forschungsstand und der Heranziehung zahlreicher empirischer Untersuchungen – unter Verwendung eines bemerkenswerten Datenapparats – eine Fundgrube an Informationen und Erkenntnissen bereit. Dies gilt ungeachtet offen gebliebener – und wohl weiterhin offen bleibender – Fragen, die sich namentlich angesichts neuartiger gesellschaftlicher Entwicklungen stellen. Das Werk kann auch als eine durch und durch aktuelle Darstellung zentraler kriminologischer, insbesondere kriminalsoziologischer Befunde und Erkenntnisse gelesen und verstanden werden. Es ist eine Darstellung, die im Grunde nach Gestalt und Inhalt über den Zuschnitt eines Lehrbuchs hinausreicht. Bornschier hat damit auch eine Art Nachschlagewerk vorgelegt, das durch seinen diskursiven Ansatz und seine empirische Fundierung zugleich vielfältige Anregungen für weitere Forschung zu Grundfragen nicht nur der Gesellschafts-, sondern auch der Rechtstheorie und -politik vermittelt.

 

Saarbrücken                                        Heinz Müller-Dietz