Zusammengesetzte Staatlichkeit in der europäischen Verfassungsgeschichte, hg. v. Becker, Hans-Jürgen (= Der Staat, Beiheft 16). Duncker & Humblot, Berlin 2006. 297 S. Besprochen von Gerhard Köbler.

 

Vom 19.-21. März 2001 tagte die Vereinigung für Verfassungsgeschichte in Hofgeismar. Ziel der Tagung war ein neuer Forschungsweg. Während es frühere Historiker als vordringliche Aufgabe betrachteten, die Staatswerdung der mehrheitlich erst im 19. oder 20. Jahrhundert zu staatlicher Einheit findenden europäischen Staaten in einem Lichte nationaler Einheitlichkeit erscheinen zu lassen, erkennt die Gegenwart, dass viele europäische Staaten in einem vielschichtigen politischen Zusammenschluss kleinerer staatlicher Einheiten entstanden sind und durch diesen Werdegang ihre besondere staatliche Prägung erfahren haben, weshalb es die Beiträge der Tagung unternehmen, diese alteuropäische Prägung von Staatlichkeit zu überprüfen und in Erinnerung zu rufen.

 

Insgesamt sind dabei zehn Arbeiten versammelt. Sie reichen vom Mittelalter bis zur Gegenwart und Zukunft. In etwa dieser Reihenfolge sind sie auch in dem Beiheft zu der 1962 gegründeten Zeitschrift der Staat hintereinandergestellt.

 

Den Beginn macht Arno Buschmann mit dem heiligen römischen Reich. Wichtigstes Ergebnis seiner notwendigerweise skizzenhaften Darstellung dieses monströsen Gegenstands ist, dass die rechtliche Struktur vom Hochmittelalter an auf einer Königs- und Fürstenherrschaft beruhte und von dieser bis zum Ende geprägt war, weil die mittelalterlichen Ursprünge bis zum Ende maßgebende Grundlage blieben. Als eine dauerhafte rechtliche Organisation mit einem festen Bestand an Institutionen sieht er sie als Staat (Komplementärstaat, Rahmenstaat) an und nicht als atypischen völkerrechtlichen Staatenbund.

 

Hans-Werner Hahn, derzeitiger Vorstand, befasst sich mit dem Deutschen Bund. Er sieht ihn nicht als eine von Anfang an zukunftslose Vorstufe eines deutschen Einheitsstaats. Er weist aber auch nachdrücklich auf die bis 1860 anhaltende Repressionspolitik, die Defizite in der politischen Partizipation und die lange Untätigkeit bei der Bewältigung wirtschaftlicher Aufgaben hin.

 

Bis 1329 greift Karel Malý bei seiner Verfassung des Staates der böhmischen Krone zurück, bis 1581 Simon Groenveld bei der Union von sieben Provinzen für die niederländische Republik, bis in die Mitte des 16. Jahrhunderts Hans-Heinrich Nolte für die Autonomien im vorpetrinischen Russland, dessen nachpetrinischen Nachfolger er ebenfalls als zusammengesetzten, fraglos absolutistischen Staat einordnet. Mit der supranationalen Staatsbildung in Großbritannien und Irland im frühen 17. und 18. Jahrhundert befasst sich Ronald G. Asch. Konflikte um die Reichseinheit in der frühneuzeitlichen spanischen Monarchie behandelt Peer Schmidt.

 

Der Mitte nähert sich dann wieder Wilhelm Brauneder, der für die Habsburgermonarchie in den unterschiedlichsten Konfigurationen die stetige Zusammensetzung aus bestimmten Ländern feststellt, obgleich im 19. Jahrhundert die als unteilbar angesehene monarchische Gewalt einen Staatscharakter der Länder ausschloss und der Bundesstaat von 1920 deshalb auf keine unmittelbare Tradition zurückgreifen konnte. Für das Werden Preußen betont Helmut Neuhaus die Eingebundensein Kurbrandenburgs in das Reich einerseits und die Souveränität des Herzogtums/Königreichs Preußens andererseits. Am Ende entwickelt Christian Hillgruber Perspektiven der künftigen Rechtsform Europas, für die er den Fortbestand und die behutsame Fortentwicklung der bisherigen Rechtsform eines Staatenverbundes für besonders realistisch und tragfähig hält.

 

Der mit einer enttäuschenden Vorbemerkung über die misslungene Aufzeichnung der Aussprachen beginnende Band endet mit der Wiedergabe der Satzung der Vereinigung und dem Verzeichnis der Mitglieder mit Stand Ende März 2006. Danach gehören ihr von Ableitinger bis Zlinsky derzeit 173 Mitglieder an. Möge der Begegnung von Verfassungshistorikern und Rechtshistorikern weiterer Erfolg beschieden sein.

 

Innsbruck                                                                               Gerhard Köbler