Winterhoff, Christian, Verfassung - Verfassunggebung – Verfassungsänderung. Zur Theorie der Verfassung und der Verfassungsrechtserzeugung (= Jus Publicum 155). Mohr (Siebeck), Tübingen 2006. XXX, 506 S. Besprochen von Walter Pauly.

 

Verfassungsgeschichtlich betrachtet erscheint Verfassungsänderung auf den ersten Blick als Kontinuitäts- und Verfassunggebung als Diskontinuitätsphänomen. Verfassungstheoretisch liegen die Dinge ungleich komplizierter, da auch Verfassungsänderungen zu einer vollkommen neuen Verfassung führen können und Verfassunggebungen an der materiellen Verfassungslage gegebenenfalls nur wenig ändern. Die anzuzeigende Schrift unternimmt eine theoretisch-begriffliche Aufarbeitung der Unterscheidung und der einzelnen Formen der beiden genannten Arten von Verfassungsentwicklung. Was den in beiden Fällen zentralen Gegenstand „Verfassung“ ausmacht, wird in einem historisch weit ausgreifenden Abschnitt erarbeitet, der die Kontextabhängigkeit von Verfassung und Verfassungsverständnis erweist. Angesichts der zeitlichen und räumlichen Relativität dessen, was Verfassung genannt wird, plädiert Winterhoff für einen Verzicht auf eine begriffliche Verfassungsdefinition zugunsten eines nicht zuletzt unter Rückgriff auf Georg Jellinek apostrophierten typologischen Verfassungsverständnisses. Auf diese Weise entsteht ein Set typischer formeller (u. a. einheitliche Urkunde, Vorrang, erschwerte Abänderung) und materieller (u. a. Verfassungsbindung, Grundrechte, Gewaltenteilung, Volkssouveränität) Verfassungseigenschaften, die den modernen Verfassungsstaat zwar kennzeichneten, jedoch nicht immer alle zugleich zwingend vorliegen müssten (S. 74ff.). Durch gelehrte Fußnoten illustrierte geschichtliche Beispiele liefern die Grundlage für den typologischen Abstrich. Für die Unterscheidung beider behandelter Erzeugungsarten von Verfassungsrecht verblasst die Bedeutung des entwickelten Verfassungstypus weitgehend, wenn Verfassunggebung als „originäre, rechtlich ungebundene Verfassungsrechtserzeugung“ charakterisiert wird, Verfassungsänderung hingegen in der derivativen Verfassungsrechtsetzung durch verfassungsgebundene Organe liegen soll (S. 328). Dieser Positionsnahme geht ein Durchgang durch die Dogmengeschichte der verfassunggebenden Gewalt voraus, der mit dem Abbé Sieyes einsetzt, für den die Nation als pouvoir constituant anders als die von ihr geschaffenen pouvoir constitués ohne verfassungsrechtliche Bindung agiere und auch nach der Verfassungschöpfung als Gewalt des Naturzustandes präsent bleibe (S. 126). Seine „rechtliche Befugnis“ zur Verfassunggebung beziehe der pouvoir constituant samt Begrenzungen aus dem natürlichen Recht (S. 132 und 142). Hieran anknüpfend hat Carl Schmitt eine rechtlich ungebundene verfassunggebende Gewalt als Urheber der von ihm sog. positiven Verfassung, d. h. der konkreten „Gesamtentscheidung über Art und Form der eigenen politischen Existenz“, postuliert, sie jedoch bei keinem bestimmten Subjekt verortet (S. 128 m. w. Nw.). Als rechtlich unfassbarer, faktisch politischer Wille bleibt die verfassunggebende Gewalt bei Schmitt permanent, wird also nicht durch Verfassunggebung konsumiert. Das eine (positive) Verfassung voraussetzende und von ihr geltungsmäßig abgesetzte wie abhängige Verfassungsgesetz kann hiernach zwar in einem rechtlichen Verfahren geändert werden, allerdings nur soweit „Identität und Kontinuität der Verfassung als eines Ganzen gewahrt bleiben“ (S. 176 m. w. Nw.). Dieses Begriffsmanöver des im „Sachregister“ aufgeführten Schmitt wird wie der Versuch Horst Ehmkes, ebenfalls implizite Verfassungsänderungsschranken aufzuweisen, als zu wertungslastig zurückgewiesen (S. 368). Eine gewisse Identitätsvorstellung findet sich allerdings auch bei Hans Kelsen, der leider insoweit nur „zitiert nach Ehmke“ (S. 177 Fn. 62) wiedergegeben wird, wenn erfolgreiche Verstöße gegen verfassungsrechtliche Normerzeugungsregeln zur Annahme einer anderen Grundnorm und damit verbunden eines „neuen“ Staates führen sollen. Wirklich spannend ist die von Winterhoff betrachtete Form der legalen Verfassunggebung im Falle einer deklaratorischen Ablöseklausel, wie sie Art. 146 GG a. F. enthalten habe. Diese lasse sich nur schwer von der Verfassungsänderung im Rahmen eines konstitutiven Ablösungsvorbehalts abheben, wie ihn etwa Art. 119f. der Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft von 1874 gekannt habe. Hier versage sowohl eine Differenzierung nach der Legalität bzw. Illegalität der Verfassungsrechtsetzung einerseits als auch ein Abstellen auf materielle Verfassungskontinuität oder -diskontinuität andererseits (S. 325f. und 384). Auch in diesem Zusammenhang liefert die Verfassungsgeschichte dem Autor letztlich nur das Material, das er verfassungstheoretisch und -dogmatisch durchbildet.

 

Jena                                                                                                               Walter Pauly