Wiggenhorn, Harald, Verliererjustiz. Die Leipziger Kriegsverbrecherprozesse nach dem ersten Weltkrieg (= Studien zur Geschichte des Völkerrechts 10). Nomos, Baden-Baden 2005. XVI, 548 S. Besprochen von Dominik Westerkam.

 

Der Autor stellt mit den Leipziger Kriegsverbrecherprozessen der Jahren 1920 bis 1922 ein bislang wenig beachtetes Kapitel deutscher Rechtsgeschichte des letzten Jahrhunderts vor.

 

Den Ausgangspunkt seiner Darlegungen bilden die Verpflichtungen Deutschlands aus den Artikeln 228 bis 230 des Versailler Vertrages. Darin war unter anderem vorgesehen, dass Deutschland alle Personen zur Aburteilung durch alliierte Militärgerichte auszuliefern hatte, die sich gegen Gesetze und Gebräuche des Krieges vergangen hatten. Der Autor weist zunächst nach, dass für die deutsche Regierung seinerzeit angesichts der Stimmung und des Drucks aus der Bevölkerung in dieser Frage eine Auslieferung eigener Militärangehöriger nicht zur Debatte stand. Weite Teile der Nationalversammlung hätten das ähnlich gesehen. Eine Lösung glaubte man in der Durchführung dieser Strafverfahren vor dem Reichsgericht zu finden. Zu diesem Zweck wurde das Gesetz über die Verfolgung von Kriegsverbrechen und Kriegsvergehen vom 18. 12. 1919 erlassen. Im Folgenden beschreibt der Autor die Besonderheiten dieses und der nachfolgend erlassenen Ergänzungsgesetze vom 24. 03. 1920 und vom 12. 05. 1921. Kennzeichnend seien hinsichtlich des ersteren die ausschließliche Zuständigkeit des Reichsgerichts, das Fehlen eines Zwischenverfahrens und eines Eröffnungsbeschlusses, sowie hinsichtlich der Ergänzungsgesetze, dass danach Kosten des Verfahrens und Auslagen aus Billigkeitsgründen der Reichskasse auferlegt werden konnten, auch wenn der Angeklagte verurteilt worden war, sowie, dass der Oberreichsanwalt, wenn er in einem Fall keinen genügenden Anlass zur Anklageerhebung sah, den Vorgang gleichwohl dem Reichsgericht zur Verhandlung und Entscheidung vorlegen konnte. Das Ergänzungsgesetz vom 12. 05. 1921 ordnet der Autor pointiert, aber treffend als „(umgekehrtes) Schauprozessgesetz“ ein, weil dieses sich nur auf Fälle beziehen konnte, in denen der Angeklagte in öffentlicher Verhandlung freigesprochen werden sollte. Eine solche öffentliche „Reinwaschung“ konnte es bei einer normalen Verfahrenseinstellung durch Beschluss des Reichsgerichts nicht geben. Im zweiten und dritten Kapitel seiner Arbeit stellt der Autor den Ablauf von insgesamt zehn Strafverfahren gegen deutsche Militärangehörige dar, die im Zeitraum von Januar bis Juli 1921 vor dem Reichsgericht stattfanden. Fast im Wechsel wurden niederrangige Soldaten, die sich sog. gemeiner Verbrechen und Vergehen – z. B. Plünderung – schuldig gemacht hatten, und Offiziere angeklagt. Sofern Offiziere betroffen waren, waren Gegenstand des Vorwurfs jedoch Kriegshandlungen, die nach der Haager Landkriegsordnung oder anderen völkerrechtlichen Vorschriften verboten waren (z. B. Erschießung von Zivilisten als Repressalie, Duldung oder Förderung mangelhafter hygienischer Zustände in Gefangenenlagern, wodurch bei ausbrechenden Krankheiten Kriegsgefangene zu Tode kamen). Der Autor kommt zu dem Ergebnis, dass hinsichtlich der niederrangigen, einfachen Soldaten teilweise erhebliche Strafen bis zu fünf Jahren Zuchthaus verhängt wurden, bei den Offizieren jedoch überwiegend Freisprüche erfolgten bzw. auf geringe Freiheitsstrafen erkannt wurde, insbesondere in Form der als nicht entehrend angesehenen Festungshaft. Auch die Vollstreckung dieser Strafen gegen die Offiziere sei noch übermäßig milde gewesen, was sich in geglückten Fluchtversuchen einerseits und in verschiedensten Privilegien, die die gefangenen Offiziere genossen hätten, andererseits manifestierte. Im Übrigen hätten die angeklagten Offizieren auch die Unterstützung des Reichswehrministeriums genossen (bis hin zur Zahlung der Verteidigerhonorare), es habe Absprachen zwischen Reichsanwaltschaft und Reichswehrminsterium über den Verfahrensverlauf gegeben, in einem Fall sei es sogar zur heimlichen Wiederaufnahme des Verfahrens mit anschließendem Freispruch ohne mündliche Verhandlung gekommen.

 

Dem Autor gelingt es, die Geschichte der Leipziger Kriegsverbrecherprozesse anhand vieler Beispiele (z. B des Llandovery-Castle-Falls, der Versenkung eines britischen Lazarettschiffs durch ein deutsches U-Boot) anschaulich und lebendig darzustellen. Abschließend ist positiv hervorzuheben, dass die Arbeit auf einer umfassenden Recherche fußt, was sich insbesondere auch im umfangreichen Literaturverzeichnis widerspiegelt.

 

Kassel                                                                                                  Dominik Westerkamp