Stern, Klaus, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band 5 Die geschichtlichen Grundlagen des deutschen Staatsrechts. Beck, München 2000. CXXXVIII, 2298 S. Besprochen von Andreas Kley.

 

Der monumentale Band umfasst die Zeitspanne vom alten Deutschen Reich bis in die Gegenwart mit der Erlangung der Deutschen Einheit. Die Gewichtung des Stoffes ist auf ein Grundlagenwerk des Staatsrechts bezogen, d. h. die Neuzeit und noch genauer die Zeit seit dem Norddeutschen Bund bis heute steht auch quantitativ im Vordergrund. Zu Recht, denn die jüngere Vergangenheit bestimmt das geltende Recht direkt, dieses ist aus ihr hervorgegangen. Dabei ist es freilich keine Selbstverständlichkeit, dass das riesige Werk Sterns zum Staatsrecht überhaupt einen derart grossen Band allein zur Geschichte aufweisen muss. Andere staatsrechtliche Gesamtdarstellungen sind andere Wege gegangen und haben es bei relativ bescheidenen geschichtlichen Einleitungen belassen. Beides ist möglich, es hängt vom Konzept des Werkes ab, welchen Weg man beschreiten will. Für das Staatsrecht Sterns war es geradezu zwingend, dass ein Band sich umfassend allein der Geschichte annimmt. Auch die übrigen Bände erörtern den Stoff in so grundsätzlicher und umfassender Weise, dass dieser geschichtliche Band durch die zahlreichen Verweise eine wertvolle Ergänzung bietet.

 

Der Band gliedert sich in drei Kapitel, nämlich die ältere Form der deutschen Staatlichkeit, die Errichtung des deutschen Nationalstaates und die deutsche Staatlichkeit nach 1945. Pars pro toto sei auf interessante Passagen aus den drei Kapiteln des Bandes hingewiesen. Für die deutsche Verfassungsgeschichte erweist sich Art. 13 der deutschen Bundesakte (1815) als wichtig: „In allen Bundesstaaten wird eine landständische Verfassung stattfinden“. Die Bundesstaaten wehrten sich gegen zu große Eingriffe in ihr Innenleben, der Begriff der „landständischen Verfassung“ blieb deshalb undefiniert und beliess ihnen einen weiten Gestaltungsspielraum (S. 210). In der nachfolgenden Auseinandersetzung setzte sich der Vorrang der Landesherren durch. Art. LVII der Wiener Schlussakte von 1820 wies die gesamte Staats-Gewalt dem „Souverain“ zu; dieser konnte durch die landständische Verfassung nur in der Ausübung bestimmter Rechte an die Mitwirkung der Stände gebunden werden. Damit war die monarchisch-konstitutionelle Regierungsform festgelegt (S. 213). In der Sache war damit nur scheinbar nichts für die politische Repräsentation der Bevölkerung gewonnen; die vorgeschriebene Form sollte sich in den folgenden Jahrzehnten – 1848 zunächst noch erfolglos – weiterentwickeln, und am Schluss resultierte daraus der demokratische Verfassungsstaat.

 

In der Weimarer Republik ist unter anderem die Debatte über die Bedeutung der Grundrechte besonders illustrativ. Das deutsche Reichsgericht hatte sie als „Heiligtum des deutschen Volkes“ hervorgehoben (S. 665), wobei Lehre und Rechtspraxis aus ihnen nun gerade nicht – wie diese Formulierung es nahelegen würde – den grundgesetzlichen „rocher de bronce“ machte. Vielmehr setzte sich die Auffassung durch, dass die Grundrechte keine justiziablen Rechtssätze, sondern vielmehr unverbindliche Programmsätze seien. Einzelne Autoren meinten, die Grundrechte zögen einen „Wechsel auf die Zukunft“ (S. 661) oder aber sie seien nur Wiederholung des ohnehin geltenden Grundsatzes der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung (Richard Anschütz, S. 664). Diese Auffassung, formal nicht zu beanstanden, hatte sich besonders verheerend ausgewirkt; Grundrechte galten nur im Rahmen der Gesetze (so Herbert Krüger, S. 665). Die Erkenntnis, dass dem Gesetzesvorbehalt aus rechtsstaatlichen Gründen Schranken-Schranken zu ziehen seien, setzte sich erst nach 1945 durch.

 

Die zwölf Jahre des so genannten Tausendjährigen Reiches stellt Stern genau und souverän dar. Er legt die einzelnen staatsrechtlichen Akte dieser Willkürherrschaft, die das Recht generell verachtete, offen. Das Regime achtete dennoch darauf, dass, von außen und in großer Distanz gesehen, das staatsrechtliche Gebahren als korrekt erscheinen konnte. Sterns differenzierte Darstellung blickt hinter die „Maske der Legalität“ (S. 772), und da zeigt es sich z. B., dass Hitler am 5. März 1933 gerade nicht von der Mehrheit des deutschen Volkes gewählt worden war.

 

Es muss nicht eigens hervorgehoben werden, dass die Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes gerade wegen dieser Vorgeschichte von 1933-1945 größten und berechtigten Raum einnimmt (S. 1209–1431). Selbstverständlich wird auch die Weiterentwicklung des Grundgesetzes durch die verschiedenen Regierungskoalitionen genau nachverfolgt.

 

Alles in allem handelt es sich hier um einen historischen Band von größtem Wert, der erschöpfend über die verfassungsgeschichtlichen Ereignisse in Deutschland Auskunft gibt. Die Verwendung von Originalquellen, die vielen Querverweise und die übersichtliche Gliederung machen ihn zu einem nützlichen Werkzeug für den Verfassungsjuristen, der am Grundlagenwissen interessiert ist. Der Band wird auf lange Zeit ein Standardwerk der deutschen Verfassungsgeschichte darstellen.

 

Zürich                                                                                                            Andreas Kley