Siebenpfeiffer, Hania, „Böse Lust“. Gewaltverbrechen in Diskursen der Weimarer Republik (= Literatur – Kultur – Geschlecht. Große Reihe 38). Böhlau, Köln 2005. VIII, 409 S., Ill.

 

Seit einiger Zeit geht die – keineswegs nur kriminologische – Forschung den Spuren nach, welche die „Natur“ des kriminellen Menschen in der Kriminalitäts-, Kultur- und Literaturgeschichte hinterlässt oder hinterlassen hat. Es sind vor allem Bilder oder Vorstellungen, die sich mit den Tätern – namentlich mit mehr oder minder „großen Verbrechern“ – verbinden. Wenn es nicht gar Mythen sind, die sich im Zuge öffentlicher Darstellungen und Inszenierungen in den Massenmedien und im Publikum entwickelt und – in welcher Gestalt auch immer – Eingang in kriminal- und kulturwissenschaftliche Disziplinen gefunden haben. Die Epoche der Weimarer Republik – die ja von Anbeginn an unter der Zerreißprobe extremer politischer Strömungen und kultureller Spannungen gestanden und schließlich daran zugrunde gegangen ist – verkörpert und veranschaulicht in exemplarischer Weise solche Auseinandersetzungen. Hania Siebenpfeiffer, die bereits durch kultur- und literaturwissenschaftliche Studien zum Thema „Frauen und Gewalt“ auf dem Gebiet der Geschlechterforschung hervorgetreten ist, hat nunmehr die publizistischen und literarischen Gewaltdiskurse jener Epoche in den Blick genommen. Dargestellt und analysiert hat sie die geschlechtsbezogenen Deutungsmuster krimineller Gewalt, wie sie sich in der Fachwelt und in der öffentlichen Wahrnehmung der Weimarer Zeit – nicht zuletzt auf der Grundlage einer noch aus dem 19. Jahrhundert herrührenden Vorgeschichte – herausgebildet haben.

 

Für die Auswahl einschlägigen Materials haben sich vor allem die gegen das Leben gerichteten Delikte des Mordes und Totschlags angeboten. Sind sie es doch, an denen sich erfahrungsgemäß das Publikums- und mediale Interesse entzündet. Sie stehen in der öffentlichen Wahrnehmung und Rekonstruktion gleichsam repräsentativ für die Kriminalität schlechthin . Damit bestimmen sie nicht zuletzt geschlechtsbezogene Interpretationen der Genese und Phänomenologie von Verbrechen. Schwere Straftaten wie Tötungsdelikte finden deshalb seit jeher besondere kriminalwissenschaftliche Aufmerksamkeit, bewegen und regen die Phantasie der Medien, Autoren und des Publikums an. Von den einschlägigen Erscheinungsformen hat die Verfasseriu jene drei Deliktsarten zum Gegenstand ihrer Untersuchung gemacht, die schon vor der Weimarer Ära in einen geschlechtsspezifischen Zusammenhang gebracht worden sind: Der Giftmord und die Kindstötung sind bereits in historischer Zeit als genuin „weibliche“ Delikte begriffen und dementsprechend Frauen zugeschrieben worden. Den sog. Lustmord hat man genetisch wie phänomenologisch als Ausdruck – wenn nicht gar Inkarnation – männlicher Gewaltkriminalität gedeutet.

 

Die Verfasserin hat das umfangreiche, in der von ihr vorgestellten Fülle fast kaum noch überschaubare Material nach systematischen und historischen Gesichtspunkten gegliedert. In systematischer Hinsicht hat sie es den verschiedenen Diskursformen des Strafrechts, der Kriminologie und der Literatur folgend ausdifferenziert – die freilich ihrerseits jeweils unterschiedliche Akzente gesetzt haben. So hat etwa der Strafrechtsdiskurs der Weimarer Zeit nicht nur unter dem bereits vorgefundenen Vorzeichen des Gegensatzes zwischen Vergeltungs- und Zweckstrafrecht gestanden, sondern auch – angesichts der Eigenart jener Delikte -  unter demjenigen der Frage nach der Schuldfähigkeit solcher Täter. Das hat auf die Kontroversen im Spannungsfeld krankhaften Verhaltens und freier Willensbestimmung (Zurechnungsfähigkeit) ebenso wie auf die Auseinandersetzungen mit den Sanktionsformen, insbesondere die Todesstrafe, zurückgewirkt.

 

Eine noch größere Vielfalt an Deutungs- und Erklärungsmustern haben die kriminologischen Diskurse jener Zeit charakterisiert. Dies hing offenkundig mit einer seit dem wissenschaftlichen Positivismus des späten 19. Jahrhunderts sowie seit Franz von Liszts wachsender Bedeutung für die Entwicklung der Disziplin selbst zusammen. Kriminalbiologische (Vererbung, Körperbau und Charakter), kriminalpsychologische (Psychopathie, abnorme psychische Verfassung) und kriminalsoziologische (Deprivation, Krieg) Konzepte haben um die Vorherrschaft gerungen. Im Vordringen begriffene psychoanalytische Ansätze namentlich Freud’scher Provenienz haben delinquenztheoretische Erklärungsmodelle hinsichtlich der  Verbrechensgenese (vom sog. „Urverbrechen“ über den Todes- und Destruktionstrieb bis hin zu mangelnder Ich- oder Über-Ich-Kontrolle) geliefert. An literarischen Figuren wie derjenigen des Dr. Mabuse hat z. B. der Romancier Norbert Jacques (1880-1954) den Typus des „geborenen großen Verbrechers“ exemplifiziert ( der durch Hypnose andere beherrscht). An Erich Wulffens geschlechtsbezogener Rekonstruktion der Frau als „Sexualverbrecherin“ veranschaulicht Hania Siebenpfeiffer die „Ätiologisierung weiblicher Delinquenz“. Als eher noch vielgestaltiger erweisen sich literarische Vergegenwärtigungen männlicher und weiblicher Gewaltdelikte. Dies zeigt sich schon an der Auffächerung von Kriminal- und Verbrechensliteratur, die so unterschiedliche Genres wie Kriminal-, Detektiv-, Gerichts- und Gefängnisromane einschließt. In diesem Kontext tritt auch das alte Muster des „Künstlers als Verbrecher“ ins Blickfeld, dessen Genealogie ja weit, nicht zuletzt bis Benvenuto Cellini (1500-1571), zurückreicht, also eine denkbar lange Vorgeschichte aufweist - um dann immer wieder, wie z. B. im Werk Thomas Manns, Neuauflagen zu erleben.

 

Einen zweiten Schwerpunkt setzt die Studie mit der Darstellung und Analyse der drei im Mittelpunkt stehenden Verbrechensformen anhand eines reichen journalistisch und literarisch aufbereiteten Materials. Durchweg sind es Fälle, welche die Aufmerksamkeit der Medien und des Publikums in der Weimarer Zeit in einer ungewöhnlichen Weise erregt und in einem mehr oder minder starken Maße wissenschaftliche (kriminologische, psychoanalytische u. a.) Deutungen herausgefordert haben. Der Giftmord wird etwa an Prozessberichten und literarischen Schilderungen der Fälle Klein/Nebbe (z. B. Alfred Döblin) und Vukobrankovics (Ernst Weiß) exemplifiziert. Freilich spielen da auch fiktive Darstellungen (wie z. B. Claire Golls Roman „Jedes Opfer tötet seinen Mörder [Arsenik]“) und auch die – eher seltene – Tat eines männlichen Giftmörders (der Fall Richter) eine Rolle. Der nicht minder alte Problemkomplex der Kindstötung – der in der literarisch vielfach paraphrasierten „Gretchen-Tragödie“ seinen sinnfälligen Ausdruck gefunden hat – hat namentlich auch psychopathologische und sozialätiologische Erklärungsmuster auf und nach sich gezogen. Unter den literarischen Vergegenwärtigungen der Zeit figurieren insbesondere Paul Leppins „Rede der Kindsmörderin vor dem Weltgericht“ (1928) und Bertolt Brechts Ballade „Von der Kindesmörderin Marie Farrar“ als sprachlich wie sachlich problematische Beispielsfälle. Freilich ist das keine ganz neue Erfahrung, in welchem Maße literarische Gestaltung und realer Gegenstand auseinander treten können. Im Zentrum des Kapitels über den sog. Lustmord stehen belletristische Darstellungen – wie etwa der weitgehend in Vergessenheit geratene Roman Rahel Sanzaras „Das verlorene Kind“ und Alfred Döblins weltbekannter Roman „Berlin Alexanderplatz“. Zum anderen nehmen die zahlreichen (journalistischen) Berichte und Analysen des Falles Haarmann einen besonderen Rang ein.

 

Hania Siebenpfeiffers Studie lotet die kriminologischen und medialen Rekonstruktionen, welche die Weimarer Epoche hinsichtlich männlicher und weiblicher Gewaltkriminalität präsentiert, nach allen nur erdenklichen Richtungen und Facetten hin aus. Insofern bildet sie geradezu eine Fundgrube an Informationen darüber, wie reale gesellschaftliche Gewalterfahrungen sich in Stereotypen niederschlagen, ja in regelrechte Mythen – selbst in wissenschaftlicher Form – einverwandeln können. Dem grundsätzlichen Ausgangspunkt der Untersuchung entsprechend stehen im Mittelpunkt indessen geschlechtsspezifische Zugänge und Interpretationen der von ihr thematisierten Verbrechensformen. Da wird denjenigen, der den Verlauf des wissenschaftlichen Gender-Diskurses verfolgt hat, das Ergebnis, zu dem die Verfasserin gelangt, wenig überraschen. Das gilt gewiss weniger für den Befund, dass die von ihr dokumentierten und analysierten Diskurse Prozesse fortschreitender Ausdifferenzierung sog. Tätertypen und Tätertypologien erkennen lassen. Vielmehr trifft dies eher auf die Deutung der kriminalätiologischen und kriminalphänomenologischen „Theorien“ zu, welche die Verfasserin ihrem reichhaltigen kriminologischen, journalistischen und literarischen Material entnimmt. Denn demzufolge erschöpfen sich die vorfindlichen, mehr oder minder „gängigen“ Zuordnungen der drei Verbrechensarten nicht in ihrer geschlechtsspezifischen Gestalt, sondern sind erst vor dem Hintergrund qualitativ unterschiedlicher Sichtweisen von Mann und Frau zu verstehen. Hiernach erscheint das Phänomen des sog. Lustmordes als Ausdruck eines ins Übermaß gesteigerten männlichen Sexualtriebes, in dem sich der Normverstoß manifestiert. Das unterscheidet die Tat im gesellschaftlichen Verständnis grundlegend von der Sichtweise, die den Diskursen über die von Frauen begangenen Verbrechen des Giftmordes und der Kindstötung zugrunde liegen. Diese Delikte fallen – der Verfasserin zufolge – gleichsam in doppelter Weise aus dem Rahmen der „Normalität“ heraus: Sie werden nicht „nur“ als Bruch geltender (Rechts-)Normen erfahren und gewürdigt, sondern zugleich als Verstoß gegen die „Natur“ der Frau, gegen den „weiblichen Charakter“, gebrandmarkt. Damit wird in der Öffentlichkeit, namentlich aber auch in den fachlich damit befassten Disziplinen ein Bild von der kriminellen, insbesondere gewalttätigen Frau gezeichnet, das sich in qualitativer („kategorialer“) Hinsicht von demjenigen des gewalttätigen Mannes unterscheidet.

 

Diese geschlechtsspezifische Interpretation gesellschaftlicher wie wissenschaftlicher Wahrnehmung weiblicher (Gewalt-)Kriminalität ist allerdings nicht ganz neu. Sie findet sich zumindest ansatzweise in Analysen medialer Darstellungen und Deutungen solcher Straftaten, die – gemeinhin oder nicht – von Frauen begangen werden (z. B. in dem von der Verfasserin nicht herangezogenen Werk: Hexenjagd. Weibliche Kriminalität in den Medien, hg. v. Petra Henschel und Uta Klein, 1998). Freilich wird in diesen Studien weniger die von Hania Siebenpfeiffer vertretene These vom doppelten Normverstoß expliziert, sondern namentlich auf eine gesellschaftliche Sichtweise abgestellt, die in der kriminellen Frau per se eine grundsätzliche Abweichung von „weiblichen Charakter“ erblickt. Die Frage ist freilich, weshalb dieser geschlechtsspezifischen Perspektive im Falle des männlichen Gewalttäters keine vergleichbare Bedeutung zugewiesen wird. Läge es im Falle des sog. Lustmordes nicht nahe, wenn und soweit er denn als Ausdruck „unnatürlich“ (?) „gesteigerten Sexualtriebes“ verstanden wird, in ihm gleichfalls einen Verstoß gegen die „Natur des Mannes“ zu erblicken? Eine gewisse Parallele mag sich hinsichtlich des Giftmordes ergeben, der ja in gesellschaftlicher Sicht als „typisch weibliches Delikt“ figuriert, kriminalstatistischen Befunden zufolge aber in nicht unerheblichem Maße auch von Männern begangen wird (S. 145). Werden solche Fälle jedoch mit „Verweiblichung“ des Täters erklärt (S. 251), dann provoziert dies einmal mehr die Frage, ob hier nicht gleichfalls von einem Verstoß gegen die „Natur des Mannes“ gesprochen werden muss. Dafür, dass sich männlich dominierte Sichtweisen bis in die neuere Zeit hinein auch und gerade in kriminologischen Diskursen durchgesetzt und behauptet haben, hat die Verfasserin jedenfalls ein einrucksvolles Material beigebracht.

 

In der Erschließung, Ausdifferenzierung und Zusammenführung der verschiedenen kriminologischen, journalistischen und literarischen Diskurse liegen fraglos die Stärken dieser auch in theoretischer Hinsicht auf hohem Niveau stehenden Studie. Von ihrer Anlage her und nach ihrem wissenschaftlichen Gewicht weist sie sowohl über den Untersuchungszeitraum, die Weimarer Epoche, als auch über den kriminalwissenschaftlichen und medialen Umgang mit den drei ausgewählten Verbrechensformen noch hinaus. Insofern stellt die überaus dicht geschriebene und stringent strukturierte Untersuchung einen ebenso anregenden wie weiterführenden Beitrag zur neueren Wissenschafts- und Kulturgeschichte dar, der sich beileibe nicht in der Herausarbeitung geschlechtsspezifischer Kriminalitätsbilder erschöpft.

 

Saarbrücken                                                                                        Heinz Müller-Dietz