Schirmer, Uwe, Kursächsische Staatsfinanzen (1456-1656). Strukturen – Verfassung – Funktionseliten (= Quellen und Forschungen zur sächsischen Geschichte 28). Verlag der sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig/in Kommission bei Steiner, Stuttgart 2006. 1007 S. Besprochen von Michael Stolleis.

 

Unter dem nüchternen Titel verbirgt sich die monumentale Habilitationsschrift eines Leipziger Historikers, die sich, wie der Autor nicht ohne Stolz sagt, „ausschließlich auf ungedrucktes Archivmaterial“ gründet. Auf dieser Grundlage rekonstruiert Uwe Schirmer den gesamten Staatshaushalt Kursachsens während zweier Jahrhunderte. Es kann nur eine Rekonstruktion sein; denn einen Gesamthaushalt im modernen Sinn mit Einnahmen und Ausgaben kannte man damals nicht. Schon dies geleistet zu haben, bedeutet eine große Leistung. Auf der Einnahmenseite war zusammenzufassen die Fülle der verschiedenen direkten und indirekten Abgaben, Steuern und Domanialeinkünfte, Erträge des Bergbaus, der Salzsiedereien und der Forstwirtschaft, der Kreditaufnahmen und weiterer diverser Einnahmen (Schutzgelder, Tuchgeld, Heerfahrtsgeld usw.). Auf der Ausgabenseite standen die Zahlungen für das Herrscherhaus und den Hof, für die Verwaltung, für das Militärwesen, die Investitionen in den Bergbau und die Salzgewinnung, die Flößerei, die Landwirtschaft und – nicht zuletzt – in den Schuldendienst.

 

Dies alles führt das Buch in der Chronologie von der Mitte des 15. bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts vor, für den kursächsischen Haushalt 1470-1485, das albertinische Sachsen 1485-1539/41, das ernestinische Kurfürstentum 1485-1547, den Haushalt des Herzogs Johann 1514-1522, den Kurfürsten Johann Friedrich 1532-1547, das albertinische Sachsen 1539/41-1591, also vor allem für den Kurfürsten Moritz, für den Kurfürsten August 1553-1586, für Christian I. 1586-1591, Christian II. 1591-1611 sowie schließlich für den Kurfürsten Johann Georg I. 1611-1656.

 

Kapitel für Kapitel kann der Leser nachvollziehen, wie sich die Institutionen entwickelten und welche Personen in ihnen tätig waren. Er kann sehen, wie langsam die Entstehung einer geschlossenen Landesfinanzverwaltung vonstatten ging und wie sich aus den ritterlichen Landedelleuten und den bürgerlichen studierten Juristen Finanzfachleute entwickelten. Die Arbeit kombiniert auf diesem Weg Strukturgeschichte und Sozialgeschichte. Die Haushalte werden möglichst quellennah beschrieben, die Institutionen schrittweise erläutert und die beteiligten Personen – es sind viele hunderte – nach Herkunft und Verwandtschaft, Vermögen und Beziehungen charakterisiert. Schließlich gelingt es dem Autor auch, die steuer- und wirtschaftsgeschichtlichen Informationen so zu setzen, dass ein äußerst lebendiges, bisweilen dramatisches Bild entsteht. Der Blick ist auf die innere Landesverwaltung, ja noch spezieller auf die Steuer- und Finanzpolitik gerichtet. Die sächsische Außenpolitik einschließlich der verschiedenen Kriege wird angedeutet, soweit sie für die Finanzkraft des Landes von Bedeutung war.

 

Der Ertrag des Buches geht also über eine Finanz- und Steuergeschichte weit hinaus. Es ist zunächst eine Verfassungsgeschichte Sachsens anhand der Frage, wie sich die Herrscher mit den Ständen auseinandersetzen, wie eine „staatliche“ und eine „ständische“ Steuerverwaltung entstehen und wie sich die Gewichte von Geheimem Rat (Außenpolitik), Hofrat (Inneres, Polizei, Justiz) und Kammer (Finanzen) verschieben. Dann ist es eine Geschichte der Professionalisierung und Vermehrung des Beamtenapparats sowie der Erlernung der Techniken von Steuereinnahme, Finanzverwaltung, Haushaltswesen und Währungspolitik. Es ist weiter eine Geschichte des Steuerwesens, bei der man am konkreten Fall beobachten kann, wie sich das Abgabenwesen langsam bündeln ließ, wie aus dem Ausnahmefall der Steuer die reguläre Geldquelle wurde und wie Städte und Stände sich widerstrebend in den „Steuerstaat“ einzufügen begannen. Das Buch liefert aber auch eine Fülle von Informationen über den sächsischen Adel und die Kaufmannschaft samt ihren jeweiligen familiären und wirtschaftlichen Netzwerken. Man lernt die führenden Politiker und Finanzbeamten samt ihren Schicksalen kennen und man gewinnt aus der Lektüre auch reiches kulturgeschichtliches Wissen, vor allem bei der Ausgabenseite: Wieviel wurde bei Hofe von wie vielen Personen (1531 etwa 500 Menschen) verzehrt und getrunken, was zahlte man für Pferdefutter und was wurde für die täglich geschlachteten böhmischen und polnischen Ochsen ausgegeben, welche Geschenke machte der Kurfürst, was verbrauchte das „Frauenzimmer“ für Schmuck und Kleidung, wie viel ging an die Silberkammer, wie teuer war die Jägerei und welche Prämien bekamen die Jäger für erlegtes Wild, wie groß war die Hofkapelle und was kostete sie?

 

Der Autor beginnt mit der wettinischen Finanzverwaltung ab 1456. Er schildert die Struktur der Ämter und die Spannung zwischen dem wachsenden Geldbedarf des Hofes und den zunächst danieder liegenden Einnahmen. Die Schulden wuchsen, bis 1477 die sensationellen Silberfunde in Schneeberg zu einer Wende führten. Hof, Regierung und Verwaltung finanzierten sich aus dem Bergbau, aus dem Ungeld (Getränkesteuer), aus den Einnahmen der Ämter (Gutswirtschaft, Produkteverkauf, Zölle, Geleit, Zahlungen der Städte, Schutzgelder, Strafgelder, Tuchgeld usw.). Schon jetzt deutet sich eine langfristige Entwicklung an. Die chronischen Liquiditätskrisen, die den Ausbau der Landesherrschaft begleiten, forcierten den Übergang von den alten Einnahmequellen zu Steuern, forcierten dabei aber auch den Einfluss der Stände, die ihre Bewilligungen mit Bedingungen zu verknüpfen pflegten, etwa mit ausdrücklichen Zweckbindungen oder Befristungen. Mit der Teilung in die ernestinische und die albertinische Hofhaltung (1485) stiegen zwar die Kosten der Höfe weiter, auch Erwerbungen von Land wurden getätigt, etwa der Kauf des Herzogtums Sagan, verpfändetes Gut wurde wieder eingelöst, die Schulden mussten bedient werden und gelegentlich riss noch der Hochzeitszug einer Prinzessin ein großes Loch in die Kasse (1496). Dabei gab es weder eine zentrale Finanzverwaltung noch Klarheit über die Summen der Einnahmen und Ausgaben. Von „Staat“ war noch keine Rede, allenfalls von „dezentralisierter Staatlichkeit“.

 

Im zweiten Teil verfolgt der Autor die Entwicklung der ernestinischen und albertinischen Finanzen (1485-1547), sodann das albertinische Herzogtum, in dem der herausragende Reformer Jacob Blasbalg wirkte. Das ernestinische Kurfürstentum mit seinen für das Luthertum so wichtigen Fürsten schließt sich an. Auch hier führte der wachsende Geldbedarf, dessen Hintergrund die ökonomischen Veränderungen des sog. Frühkapitalismus bilden, zu stärkerem Einfluss der Stände, zum Übergang von Naturalabgaben auf Steuern, zur  Modernisierung der Verwaltung, freilich auch zur Ausbildung dualistischer Strukturen. Insgesamt erstarkte die Verwaltung und löste sich schrittweise von der „Hauswirtschaft“ des Fürsten.

 

Der zentrale dritte Teil des Buchs betrifft das albertinische Sachsen von 1539/41 bis 1591. Hier spielen sich auf einem dramatischen politischen Hintergrund während der Regierungszeit von Moritz und August von Sachsen wichtige Vorgänge auch für die Finanzen ab. Schon der Zugewinn an Land führte zu einem Modernisierungsschub. Unter Kurfürst August (1553-1586), der sich – misstrauisch und nicht immer erfolgreich – selbst um die Finanzen kümmerte, vollzogen sich bemerkenswerte Verschiebungen. Die Stände übernahmen die Tranksteuer – später auch noch die Landsteuer - und nutzten sie zur Schuldentilgung, also auch zur Rückzahlung an ihre finanzkräftigen Mitglieder; denn die Untersuchung Schirmers zur sozialen Herkunft der Gläubiger zeigt, wie eng die Verflechtung von landsässigem Adel und bürgerlichen Kaufleuten mit den Geldgeschäften des Hofes war. Freilich bedeutete dies auch den Aufbau einer landständischen Steuerverwaltung. Und es gab Nebeneffekte: Die Erhebung der Tranksteuer nötigte die Verwaltung der verschiedenen Landesteile auch zur Normierung der Hohlmaße, ein schönes Beispiel für die Verzahnung von Reformschritten.

 

Wie modern und großräumig das reiche Sachsen plante, zeigt das Projekt des Augsburgers Konrad Rott, mit Hilfe mehrerer Gesellschaften unter Beteiligung von Kurfürst August den gesamten europäischen Pfefferhandel unter Kontrolle zu bringen. Die Konkurrenz wehrte sich freilich, das Ganze endete in einem Fiasko. Der Kurfürst schrieb seine Verluste ab. Auch sonst lebte man auf großem Fuß und gefährlich: Nach Unterschlagungen von 130.000 fl. beging der Kammermeister (Finanzminister) Hans Harrer 1580 in der Silberkammer des Dresdner Schlosses Selbstmord. Der ehrgeizige Kanzler Nikolaus Krell, der die Stände zurückzudrängen suchte, wurde 1601 hingerichtet. Der Finanzbeamte Dr. David Döring, der zum Ärger der Stände zahlreiche Immobilien und Dörfer an sich brachte, entging 1628 diesem Schicksal nur dadurch, dass sich der Kurfürst energisch für ihn einsetzte.

 

Auch unter Augusts Nachfolger Christian I. (1586-1591) war Kursachsen immer noch eines der reichsten und am besten organisierten Territorien. Die Stände wurden immer wichtiger, sorgten auch für finanzpolitische Transparenz, konnten aber die teils personell, teils durch den kulturellen Wandel bedingte Verschwendung bei Hofe nicht verhindern. Nun ging es bergab. Der Hof war inzwischen auf 600-700 Personen gewachsen, das Bargeld wurde knapp, Schuldverschreibungen traten an seine Stelle. Unter den vergleichsweise schwachen Nachfolgern (Christian II., Johann Georg I.) setzen sich die Langzeittrends fort, also die Verselbständigung der Finanzverwaltung, der Übergang zur Ressortbildung und die Verflechtung von ständischer und staatlicher Verwaltung. Aber auch die Luxusausgaben wuchsen immens. Christian II. „verschleuderte … das Geld in einer noch nie dagewesenen Art und Weise“ (770). Unter seinem Bruder Johann Georg I., der ihm nachfolgte, setzte sich dies fort. Das System, das unter normalen Umständen, mit energischen Ständen und qualifizierteren Herrschern noch zu sanieren gewesen wäre, geriet nun im Dreißigjährigen Krieg außer Kontrolle. Die absichtliche Verschlechterung des Geldwerts, an der sich auch der Kurfürst in unseriöser Weise beteiligte, die Hyperinflation 1622/23, die Kriegskosten, die Besetzung durch die Schweden, der Verfall des Bergbaus, die Unordnung in der Verwaltung –

am Ende kam alles zu dem faktischen Staatsbankrott von 1624 zusammen. 1626 leistete der Rat der Stadt Leipzig den Offenbarungseid. Noch 1657 gab es knapp 25 Mio. fl. Schulden.

 

Das mit tabellarischen Nachweisen, Literaturverzeichnis und Registern mustergültig ausgestattete Buch stellt eine enorme Leistung dar, vor allem wegen der darin steckenden Archivarbeit, aber auch wegen der synthetischen Kraft, aus den unvollkommen überlieferten Zahlenwerken Gesamthaushalte zu rekonstruieren, die einen diachronen und regionalen Vergleich erlauben. Für die Steuer- und Finanzgeschichte, Verfassungs-, Sozial- und Kulturgeschichte sind hier große Fortschritte erzielt worden. Der dem Buch vorangestellte Seufzer Luthers nach Abschluß der Bibelübersetzung, es sei „gut pflügen, wenn der Acker gereinigt ist“ trifft die Sache und kann dem Autor voll zugerechnet werden.

 

Frankfurt am Main                                                                                         Michael Stolleis