Schauer, Christian, Aufforderung zum Spiel. Foucault und das Recht. Böhlau, Köln 2006. 383 S. Besprochen von Heinz Müller-Dietz.

 

Das Werk des Kulturwissenschaftlers Michel Foucault (1926-1984) erlebt auch und gerade nach seinem Tod eine bemerkenswerte, aber angesichts seiner herausragenden Gestalt kaum erstaunliche Karriere. So gut wie sämtliche geistes-, insbesondere humanwissenschaftlichen Disziplinen – von der Geschichte über die Philosophie, Soziologie, Anthropologie, Ethnologie, Psychiatrie, Pädagogik bis hin zur Kriminologie – haben seine vielfältigen Schriften ganz oder teilweise in analytischer wie kritischer Absicht rezipiert. Dies ist  zumeist im Bewusstsein geschehen, dass sie fast durchweg die fachlichen Grenzen sprengen, weil dem französischen Meisterdenker an allem anderen als deren Einhaltung gelegen war. Dabei macht die Frage der fachlichen Einordnung nur eines jener zahlreichen Probleme aus, die um sein Werk kreisen und die anhaltende Beschäftigung mit ihm fördern. Die Leerstelle, die Recht und Rechtswissenschaft – trotz etlicher Untersuchungen – in dieser eindrucksvollen Rezeptionsgeschichte im Ganzen doch eingenommen haben, zu schließen, hat sich nunmehr Christian Schauer auf der Grundlage eines umfassenden interdisziplinären Ansatzes angeschickt. Es ist, soweit ersichtlich, die erste deutschsprachige Studie, die sich auf dieses Wagnis – das ja Versprechen und Erwartung eines geistigen Abenteuers ersten Ranges in sich trägt – eingelassen hat. Dass in einem solchen Projekt der Kultur-, namentlich der Philosophiegeschichte ein hervorragender Platz eingeräumt wird, kann auf Grund der einschlägigen Züge und Bezüge des Foucault’schen Werkes nicht weiter verwundern.

 

Vor dem Hintergrund einer schon vom Umfang her fast kaum noch überschaubaren kritischen Auseinandersetzung mit diesen schon thematisch weit auseinanderdriftenden – auch posthum publizierten – Schriften und unveröffentlichten Texten (siehe das Register des Fonds Foucault im Institut Mémoire des Editions contemporaines und die Bibliothek des Collège de France in Paris) nähert sich Schauer ihnen vornehmlich unter kultur- und rechtsgeschichtlichen Vorzeichen, um aus seiner Interpretation zu neuen, teilweise sogar neuartigen Einsichten zu gelangen. Dass er aus Gründen der Authentizität seiner Darstellung und Analyse Foucaults Texte in der französischen Originalfassung zugrunde gelegt hat, stellt ein keineswegs peripheres Element seines hermeneutischen Ansatzes dar. Man kann dessen richtungweisende Topoi bereits der Einleitung entnehmen, in der auf philosophische Fragmente in der kritischen Auseinandersetzung des Kulturwissenschaftlers mit historischen Deutungsversuchen, auf das Fehlen jeglicher methodischer und normativer Ansprüche und die spezifische Eigenart seiner Texte „jenseits von Poesie und Wissenschaft“ (S. 39ff.) hingewiesen wird. Schauer gibt hier zu verstehen, dass er keine Darstellung von Foucaults Vorstellungen vom Recht intendiert, dass ihn insofern nur ein „mittelbares Erkenntnisinteresse“ leitet (S. 38). Da wird denn auch der Titel seiner Untersuchung verständlich (gemacht), der die „Aufforderung zum Gedanken-Spiel“ nahe legt.

 

Gegenstand der Studie – die 2006 von der juristischen Fakultät der Universität Luzern als Dissertation angenommen worden ist – ist nicht das Gesamtwerk Foucaults, sind aber dessen wichtigste Schriften aus der Zeit zwischen 1961 und 1976. Im Schlussteil (S. 348ff.) geht Schauer freilich noch auf die nach 1976 entstandenen Arbeiten ein, die er denn auch zum Verständnis der frühren Untersuchungen heranzieht. Dabei beschränkt er sich keineswegs nur auf die veröffentlichten Schriften. Vielmehr fußt seine Spurensuche zugleich auf überaus gründlichen Archivstudien, vor allem in Paris. Sie folgt der Chronologie der Arbeiten – was aber Querverbindungen zu und Rückgriffe auf kulturgeschichtliche und philosophische Gewährsleute und Bezüge nicht ausschließt.

 

An erster Stelle der „systematischen Werkrekonstruktion“ (S. 19ff.) steht Foucaults – vielfach sozialgeschichtlich und literarisch rezipierte – historische Studie zum Wahnsinn („Histoire de la folie à l’age classique“, 1961, 2. Aufl. 1972) (S. 43ff.). In seiner Analyse ihrer – nicht zuletzt sprachlichen – Struktur und Herkunftsgeschichte stellt der Verfasser – wie auch anderwärts – die wechselvollen Bezüge zu den von Foucault herangezogenen Kulturwissenschaftlern, namentlich zu Georges Dumézil und Jacques Derrida, her. Daran knüpft thematisch wie methodisch die Schrift „Naissance de la clinique“ (1963) an, in der Foucault die historischen Bedingungen und Möglichkeiten des Beobachtens und Erkennens in der wissenschaftlich verstandenen Medizin zurückverfolgt (S. 67ff.). Bereits hier scheinen Machtbeziehungen und Repressionstypen auf, wie sie später, in „Surveiller et punir“ zentrale Gestalt annehmen sollten.

 

In „Les mots et les choses“ (1966) spürt Foucault den insgeheimen, unreflektierten Regelmäßigkeiten und Ähnlichkeitsbeziehungen des Wissens in vorklassischer Zeit, in der Klassik und in der Moderne nach (S. 71ff.). Von grundlegender Bedeutung – nicht zuletzt in rechtsgeschichtlicher und –philosophischer Hinsicht – erscheint Foucaults Studie über die „archäologische Methode“ („L’archéologie du savoir“, 1969) (S. 76ff.). Auf sie kommt der Verfasser keineswegs zufällig in späteren Kontexten immer wieder zurück. Hier begegnet dem Leser der eine jener beiden Schlüsselbegriffe, der „Diskurs“, der neben demjenigen der „Macht“ das Werk Foucaults wie einen roten Faden durchzieht.

 

In dieser Analyse der „Praxis des Diskurses“ setzt Foucault psychiatrische Kategorien und Wissensordnungen zu juristischen in Beziehung. Zum näheren Verständnis des nicht leicht zugänglichen Textes bedient sich Schauer des Mittels der „Parallellektüre“ von Luhmanns Systemtheorie (S. 105 ff.), der er „Verwandtschaften“ entnimmt – wenn auch Foucaults Begriffssprache und -verwendung, wie fast durchweg in seinen Arbeiten, mit dem wissenschaftlichen Comment keineswegs deckungsgleich ist. Die freilich dank der Textstruktur gebrochene Parallelisierung von Foucault und Luhmann und die daran geknüpften Folgerungen für den psychiatrisch-juristischen Diskurs stellen geradezu eine Meisterleistung dar, Demnach mündet diese „Kommunikation“ zwischen zwei heterogenen Disziplinen in eine „Unterminierung des Rechts durch den forensisch-kriminologischen Diskurs“ (S. 140ff.): An die Stelle des dem Recht – und der „Rechtsstrafe“ - verpflichteten Richters tritt der psychiatrische Experte, der sich am spezialpräventiven Behandlungskonzept orientiert. Die „Rechtsstrafe“ wird – verkürzt ausgedrückt – durch die auf der Gefährlichkeitsdiagnose und -prognose aufruhende therapeutische Intervention ersetzt. In diesem glänzend geschriebenen Schlüsselkapitel – das rechtsstaatliche Konsequenzen über seinen „lediglich“ psychiatrisch-kriminologischen Gegenstandsbereich hinaus entfaltet – erörtert der Verfasser insbesondere die „Überforderung des Rechts durch Folgenorientierung“ (S. 153ff.).

 

Zwischen „L’archéologie du savoir“ und der folgenden Monographie („Surveiller et punir“) vollzieht sich im Werk Foucaults keine geradlinige Entwicklung (S. 199) – was auch sonst immer wieder bei ihm beobachtet werden kann. Freilich markieren Vorlesungen und Referate Übergänge zum späteren Werk. Auch schiebt Schauer zwischen seine Rekonstruktionen wiederholt Exkurse ein, die zuweilen auch ganz andere Facetten öffentlichen Wirkens Foucaults zur Geltung bringen. Beispielhaft dafür erscheint etwa seine kriminalpolitische Kritik an den katastrophalen Strafvollzugsbedingungen Frankreichs im Jahre 1971, die ja nicht ganz ohne Folgen geblieben ist (S. 224ff.).

 

Die Darstellung und Analyse der Entstehung und Verläufe der Diskurse über Wissen und Wahrheit, die von Foucault in eine mehr oder minder nahe Beziehung zum Recht gebracht werden, nehmen im weiteren Gedankengang Schauers einen breiten Raum ein. Deutlich werden die Anleihen bei Nietzsche, aber auch die Divergenzen zu ihm herausgearbeitet (S. 226ff., 263ff.). In kultur- und rechtsgeschichtlichen Kabinettstücken rückt der Verfasser die Antike in den auf das Verhältnis von Recht und Wahrheit gerichteten Blick. Sie knüpfen an   Foucaults Rekurse auf Ilias (S. 246ff.) und seine Interpretation von Sophokles’ Tragödie „König Ödipus“ (S. 268ff.) an, erweitern und vertiefen aber den historischen Raum hin zur Deutung des Diskursverständnisses von Recht und Wahrheit, wie es hier im Werk des Kulturwissenschaftlers zutage tritt. Foucaults Sicht der fast schon „klassisch“ zu nennenden Analogie von Bühne und Gericht wird problematisiert. Seine genealogischen Skizzen, in denen er historische Untersuchungen als Quellenmaterial verwendet hat, sind Schauer zufolge von der rechtsgeschichtlichen Sekundärliteratur bisher kaum wahrgenommen worden. Einmal mehr werden hier die ambivalenten Züge des von Foucault zugrunde gelegten Machtbegriffs sichtbar.

 

Das gilt erst recht für die Studie „Surveiller et punir“ (1975). Sie ist ja längst eine Art „Klassiker“ geworden, nämlich zu einem zentralen Anknüpfungspunkt für eine Vielzahl historischer Untersuchungen zur Kriminalpolitik und Strafvollzugspraxis avanciert. Freilich hat sie auch zu weit verbreiteten Missverständnissen Anlass gegeben. Im Mittelpunkt steht hier der geschichtliche „Zusammenhang von Wissensproduktion und Disziplinierung“ in psychiatrischen Einrichtungen und Gefängnissen (S. 298). Zentrale Grundlage bildet die Verbindung von Macht und Wissen. Foucault geht es in dieser Studie mitnichten etwa um eine gar noch theoretisch untermauerte Kritik an Machtverhältnissen und -techniken im gängigen wissenschaftlichen Sinne, sondern um die „Steigerung der Produktivität der Körper durch Einsatz von Machtinstrumenten“ (S. 303). Schauer entnimmt der Darstellung, welche die menschliche Psyche als Produkt extremer Konditionierung begreift, folgerichtig behavioristische Elemente. Das „Disziplinarsystem“, das nach Foucault die innere Gestalt des französischen Gefängnisses im 19. Jahrhundert charakterisiert, erweist sich im Grunde als Ausgeburt „biopolitischer“, vitalistischer Vorstellungen. Als architektonischer Ausdruck des Machtdispositivs erscheint – wie schon öfter analysiert und rezipiert – das Bentham’sche „Panopticon“, das ja weit mehr als ein bloßes Gefängnismodell verkörpert. Dieses Disziplinarsystem fußt auf der ständigen Beobachtung des Individuums und arbeitet – was an frühere Gedankengänge Foucaults erinnert – mit forensisch-psychiatrischen Kriterienkatalogen „zur Bestimmung der Gefährlichkeit“ (S. 312). Foucault begreift denn auch das „Kerkerkontinuum“ als „,Unabhängigkeitserklärung des Gefängnisses’ gegenüber der Strafjustiz“ (S. 321).

 

Zur Sprache kommt bei Schauer nicht zuletzt die intensive Kritik an der Art und Weise, in der Foucault Disziplinargesellschaft und politisch-rechtliche Strukturen miteinander verknüpft (S. 317). Ein wesentliches Problem dieser Darstellung erblickt er in der mangelnden Trennung von historischer Beschreibung des Gefängnisses und der Gegenwartsdiagnose (S. 325). Freilich wirft „Foucaults machttheoretische ‚Entlarvung’ der aufklärerisch-liberalen Rechtsphilosophie und Rechtsinstitutionen“ (S. 331) letztlich doch die Frage auf, ob dieser Wissenschaftler mit seiner jeglicher Wertung entkleideten und auch theoretisch nicht näher begründeten Analyse – ungeachtet ihrer metaphorischen Übersteigerungen – nicht doch einen Wechsel auf zukünftige gesellschaftliche Entwicklungen zieht. Die „negative Anthropologie“, die darin zum Ausdruck kommt, sieht den Menschen zwar als „historisch-kontingentes, also relatives Produkt“ (S. 343), könnte aber durchaus als eine die Zukunft antizipierende Utopie begriffen werden, die eben (noch) nicht Wirklichkeit geworden ist.

 

Das Werk Foucaults lässt viele der hier nur angedeuteten oder fragmentarisch wiedergegebenen Fragen hermeneutischer Provenienz offen – zu deren Beantwortung Schauer 

eine fast schon überreich anmutende Vielfalt kultur- und rechtsgeschichtlicher Quellen und Querverbindungen aufgeboten hat. Wie ein roter Faden ziehen sich Erkenntnisse durch seine Studie, die er in geduldiger, immer wieder neu ansetzender Deutungsarbeit Foucaults Schriften abgewonnen hat: Eine Rezeption dieses Werkes im herkömmlichen Verstande kann es angesichts der Eigenart seiner Wahrnehmung und Verarbeitung von Wissenschaft und Welt nicht geben. Versuche, Foucault zu kopieren, wären zum Scheitern verurteilt. Sein Werk taugt – ungeachtet aller Bezüge zu historischen und philosophischen Autoren und Fragestellungen – nicht zur Schulenbildung. Es wartet im eigentlichen Sinne des Wortes nicht mit Theorien auf. Das gilt natürlich auch für die Materien, die Foucaults herausragendes Interesse gefunden haben: die universalistischen Deutungsansätze und Geltungsansprüche der Humanwissenschaften, der gesellschaftliche und staatliche Umgang mit dem Wahnsinn, ja mit sozialen Abweichungen überhaupt, die Praxis des Strafens, die geschichtlichen Formen des Strafvollzugs bis hin zur Gegenwart. Wenn man Foucaults Werk – in etwa Schauer folgend – auf einen stark vereinfachenden Nenner bringen will, dann ließe sich sagen: Es ist – im Zuge der Erschließung neuer Blickrichtungen und Fragestellungen- vor allem auf Dechriffrierung und Delegitimierung „gängiger“ wissenschaftlicher Sichtweisen und Selbstverständnisse angelegt.

 

Schauers Studie lädt nicht nur zu neuer, sondern zugleich auch zu einer neuartigen Lektüre Foucaults ein. Dafür taugt ihm zufolge freilich die Brille des eigenen Fachs nicht – wie sehr es sich inzwischen auch entwickelt haben mag. Ein Werk, das zu tradierten, methodologischen Verständnissen gleichsam „querliegt“, will auch „anders“ gelesen und gedanklich verarbeitet werden. Freilich stellt sich dann die Gretchenfrage, welche schöpferischen Anregungen und Impulse ihm für die Fortentwicklung der eigenen Disziplin entnommen werden können. Sie könnten – auch was die Rechtsgeschichte betrifft – in den Gegenständen und der Art des Zugangs zu ihnen gesucht, vielleicht auch gefunden werden.

 

Schauer hat eine glanzvolle und im besten Sinne des Wortes tiefgründige Analyse vorgelegt. Seine profunde Studie stellt nach Anspruch auf Niveau eine Herausforderung für viele bisherige Interpreten des Foucault’schen Werkes dar. Jenseits der sterilen akademischen Frage, ob sie dessen letztgültige Deutung bildet, wird man ihr zumindest einen zweifachen wissenschaftlichen Gewinn entnehmen können: Zum einen hat sie es vermocht, eine Reihe von Fehldeutungen und Missverständnissen, die sich um jene kulturwissenschaftlichen Schriften ranken, als solche kenntlich zu machen, wenn nicht auszuräumen. Zum anderen hat sie neue methodische und inhaltliche Zugänge zu den Texten Foucaults erschlossen. Das ist eine wissenschaftliche Leistung, die einen gewichtigen Teil bisheriger Deutungsansätze hinter sich, ja geradezu Habilitationsreife erkennen lässt.

 

Saarbrücken                                                                                       Heinz Müller-Dietz