Ragg, Sascha, Ketzer und Recht. Die weltliche Ketzergesetzgebung des Hochmittelalters unter dem Einfluss des römischen und kanonischen Rechts (= Monumenta Germaniae Historica, Studien und Texte 37). Hahnsche Buchhandlung, Hannover 2006. XXXII, 303 S. Besprochen von Maximilian Hommens.

 

Zur Besprechung gelangt oben genanntes Werk, welches im Sommersemester 2004 vom Fachbereich Geschichte und Soziologie der Universität Konstanz als Dissertation angenommen wurde. Sie wurde betreut von Prof. Dr. Alexander Patschovsky.

 

Um das Urteil vorwegzunehmen: die Arbeit ist eine reife Leistung des Autors.

 

Doch zunächst zum formalen: Einem Siglen- und Abkürzungsverzeichnis schließt sich ein 21 ½ seitiges Quellen- und Literaturverzeichnis an. Es folgen die eigentlichen Ausführungen zum Thema in drei großen Abschnitten: I. Ketzergesetzgebung in der Spätantike und im Frühmittelalter, II. Häresie im Hochmittelalter – Kirchenrecht und Rechtsliteratur, III. Häresie und Politik im Hochmittelalter.

 

Vorweg gestellt ist eine kurze Einleitung; die Arbeit schließt mit einer 10 ½ seitigen Schlussbetrachtung, angehängt sind ein Personen-, ein Orts- und ein Sachregister. Sauberer Druck, Übersichtlichkeit, ordentliches Papier und feste Fadenbindung sind heutzutage leider nicht mehr selbstverständlich, hier aber vorzüglich gegeben.

 

Zum Inhalt: in seiner Einleitung (S. 2) formuliert der Verfasser seine Forschungsfrage: „Können Häretisierungen in bestimmten Fällen auch als Ausdruck sozialer wie politischer Prozesse und Konflikte interpretiert werden?“. Die Antwort hierauf, die der Verfasser sorgfältig entwickelt und mit Belegen versieht, lautet: „Die von der Kirche forcierte Ausdehnung der Ketzerverfolgung auf die weltliche Rechtsebene, die Ausweitung des Häresiebegriffs und die immer stärkere Einbeziehung der Ketzersympathisanten in die rechtliche Verfolgung bereiteten im 12. und 13. Jahrhundert den Weg für die politische Instrumentalisierung der Ketzerbekämpfung. Die neuen repressiven Maßnahmen, die sehr stark auf das spätantike kaiserliche Ketzerrecht zurückgreifen, mögen der katholischen Kirche als notwendig und unumgänglich erschienen sein, sie verhalfen aber auch der weltlichen Ketzergesetzgebung zu einem ganz anderen funktionalen Stellenwert“ (S. 291).

 

Kurz gesagt: der „Staat“ freute sich, dass die Kirche ihm die Legitimation verschaffte, mittels der Ketzerbekämpfung seine Macht- und Herrschaftsstrukturen zu mehren und zu festigen. So machte der „Staat“ sich die Kirche und ihre Auffassung von Häresie dienstbar. Der Nutzen des „Staates“ bzw. der weltlichen Herrscher bestand in den Ergebnissen, die die von ihnen veranlassten Maßnahmen nach sich zogen:

 

Versammlungsverbot, Zerstörung von Kultgebäuden, Verbrennung von kultischen Schriften und kultischen Geräten (religiös-oppressive Maßnahmen); Verlust bürgerlicher Rechte wie etwa der Klagefähigkeit vor Gericht, Amtsverlust bei staatlichen Amtsträgern, Einkerkerung, Verbannung, Verlust des Erbrechts, Einschränkung der Geschäftsfähigkeit (sozial-repressive Maßnahmen); Konfiskation beweglicher und unbeweglicher Güter (materiell-repressive Maßnahmen) und Folter, Zwangsarbeit, ja Todessstrafe (physische Strafen) (vgl. S. 7).

 

Dabei richteten sich solche Maßnahmen nicht nur gegen die Ketzer an sich, sondern oft genug auch gegen deren Familienmitglieder, Hausgenossen, Helfer und Unterstützer und gegen deren Gesinnungsgenossen; ja auch bisweilen gegen die Amtsträger, weil diese nicht oder nicht genügend gegen die Ketzer vorgingen.

 

Bereits die spätantike Kaisergesetzgebung (die römischen Kaiser Decius, Valerian, Diokletian und Galerius) enthielt Gesetze gegen Ketzer, wobei hierunter auch bis zum Mailänder Toleranzedikt 313 (Kaiser Konstantin I.) die Christen zählten und auch die Juden. Diese Gesetze betrafen weiters die Donatisten, Eunomianer, Arianer, Makedonianer, Montanisten, Monophysiten, Manichäer, Apollinarier, Enkratisten, Hydroparastaten, Aquarier, Ophiten, Samaritaner, Nestorianer, Photinianer, Novatianer, Priscillianisten u. a. m. Erst nachdem das Konzil von Nikaia (325) den katholischen Glauben für verbindlich erklärt und Kaiser Theodosius I. am Ende des 4. Jahrhunderts dieses nicaenische Christentum zur Staatsreligion erhoben hatte, stand das Christentum auf Seiten des „Staates“ und begann seinerseits gegen die Ketzer vorzugehen. Hierbei zählten zu den Ketzern sowohl die Häretiker wie auch die Schismatiker. Beide Arten von Leuten waren geeignet, die Ordnung in der Kirche wie auch im „Staat“ in Unordnung zu bringen, weshalb letztere beide sich aufgerufen fühlten, gegen sie vorzugehen: mit feierlichen Verurteilungen auf Konzilien und Synoden und durch Exkommunikation seitens der Kirche. Der „Staat“ seinerseits aber griff danach zu den oben genannten Zwangsmaßnahmen. Im Codex Iustinianus (um 530) fanden sich schließlich 22 Häretikergesetze aus früherer Zeit (S. 28). „Betrachtet man den Katalog gesetzlicher Maßnahmen, wie er sich im römischen Recht im Umgang mit Ketzern herausbildete, dann stellt man fest, dass hier bereits zahlreiche Regelungen und Sanktionen auftauchen, denen man später im Hochmittelalter wieder begegnen wird. Güterkonfiskation, die Beschneidung öffentlicher Rechte, Verbannung und körperliche Strafen bis hin zur Todesstrafe werden im Laufe des 12. und 13. Jahrhunderts sukzessive in den kirchlichen und weltlichen Gesetzen gegen Häretiker Eingang finden. Es sei hier nur am Rande angemerkt, dass auch im kirchlichen Bereich in der Spätantike und am Beginn des Frühmittelalters bereits der Rahmen der geistlichen Maßnahmen gegen Häretiker (Exkommunikation, Infamie, Amtsenthebung und öffentliche Bußen) durch Konzilien und die Kirchenväter abgesteckt wurde, auf die noch Gratian in seinen Ketzer-Causae innerhalb des Decretum im 12. Jahrhundert zurückgreifen sollte“ (S. 28f.).

 

Am Ende der Spätantike war auch die Verbindung von Häresie mit der Zauberei schon in der Gesetzgebung angedacht; mit der Gleichsetzung dieser Vergehen mit dem crimen laesae maiestatis wurden beide im römischen Reich zum publicum crimen erklärt, was natürlich weitreichende Folgen zeitigte. Die Gleichsetzung der Häresie mit dem Majestätsverbrechen zeigt die enge Verbindung religiöser und politischer Interessen in der kaiserlichen Gesetzgebung. „Das Christentum war im Laufe des 4. Jahrhunderts im Römischen Reich zur Staatsreligion aufgestiegen und zunehmend zu einer tragenden Säule des spätantiken Staates geworden, so dass die kaiserliche Antiketzergesetzgebung nicht mehr der Sicherung der Einheit des Glaubens, sonder zugleich auch – politisch gesehen – der inneren Stabilisierung diente“ (S. 30).

 

Während im noch festgefügten römischen Staatswesen des Ostens die byzantinischen Kaiser den Kampf gegen heterodoxe Bewegungen intensiv weiterführen konnten, verlief die Entwicklung im Westen ganz anders. Die auf römisches Reichsgebiet eingefallenen Germanenvölker waren zum Teil noch heidnisch, zum Teil waren sie arianisch, wie etwa die Westgoten und Ostgoten, Burgunder und auch die Langobarden, weshalb hier eine gegenseitige Duldung heterodoxer Meinungen möglich wurde. Auch das niedrigere kulturelle und intellektuelle Niveau im Westen trug dazu bei, dass innerkirchliche Diskussionen um Glaubensangelegenheiten nicht mehr die Intensität der Spätantike erreichten. Daher spielte die Häresie im frühmittelalterlichen Westeuropa nur eine marginale Rolle. Die germanischen Leges der späteren Jahrhunderten stellten zwar den Schadenszauber (maleficium), die Zubereitung von Liebes- oder Giftgetränken, auch die Wahrsagerei und Geisterbeschwörung unter Strafe, die Strafen bestanden aber regelmäßig nur aus Bußzahlungen.

 

In den Kapitularien der Merowinger und Karolinger, die seit dem 6. Jahrhundert als gesetztes Recht neben die Volksrechte, die oft eine Mischung von gesetztem und ungesetztem Recht enthielten, finden sich drei Kategorien von Normen: erstens die, die einfache Gläubige vor häretischem Gedankengut bewahren sollten. Zweitens diejenigen, die sich gegen die Simonisten im kirchlichen Bereich richteten. Drittens diejenigen, die einzelne Personen verurteilten, weil sie häretische Ansichten verbreitet hatten.

 

Strenge Ermahnungen gab es für die einfachen Gläubigen, für hartnäckige Ketzer Klosterhaft, nur in ganz wenigen Fällen auch die Todesstrafe. Natürlich auch kirchliche Bußen und die Zerstörung heidnischer Opferstätten. Doch erst zu Beginn des 11. Jahrhunderts wurde die Häresie wieder zu einem großen Thema. Dies vor allem durch das Auftauchen immer mehr oder weniger größerer Gruppen von Ketzern innerhalb relativ kurzer Zeit in Italien, Spanien, Frankreich und Deutschland. Man denke an die Albigenser bzw. Katharer und an die Waldenser, welche Gruppen erstmals heterodoxe Massenbewegungen bildeten, die an die Stelle kleiner, meist lose organisierter Gruppierungen traten und für die Kirche wie auch für das jeweilige Staatsgefüge eine völlig neue Herausforderung darstellten. Hiergegen entwickelte die Kirche ein effektives Instrumentarium der Bekämpfung. Papst Innozenz III. baute die bis dahin vorhandenen kirchlichen Ketzerbestimmungen aus und systematisierte sie, Gregor IX. errichtete die Ketzer-Inquisition, Innozenz IV. formalisierte diese und fasste kirchliche und weltliche Häretikergesetze (u. a. die Kaiser Friedrichs II.) zusammen. Mit der Durchführung der Inquisition beauftragte der Papst die Dominikaner. Die systematische Zusammenfassung dieser Ketzernormen auf dem IV. Laterankonzil erhob den Anspruch auf universale Geltung, „dem Ketzertum innerhalb des gesamten Christentums sollte der Kampf angesagt werden“ (S. 72). „Die Bestimmungen, die der Ketzerkanon des IV. Laterankonzils enthielt, wurden Friedrich II. von Papst Honorius III. als Vorlage für das Ketzergesetz zugesandt, das Friedrich bei seiner Kaiserkrönung zusammen mit weiteren Krönungsgesetzen erließ“ (S. 72).

 

In Frankreich nutzten die französischen Könige das neue Instrumentarium zur effektiven Beseitigung der verstreuten, katharischen Widerstandsnester nach dem Albigenserkreuzzug. Heinrich VII. und Friedrich II. unterstützten die Dominikaner in Deutschland gesetzgeberisch, während der Kaiser in Sizilien eine eigene staatlich kontrollierte Inquisition aufbaute und für seine eigenen Zwecke einsetzte.

 

1252 publizierte Papst Innozenz IV. zwei bedeutende Dekretalen: Ad extirpanda und Adversus haereticam, welche die kirchlichen Maßnahmen gegen Ketzer erweiterten und kirchliche und weltliche Ketzergesetze verbanden. Die Dekretale Adversus haereticam beinhaltete die Ketzergesetze Friedrichs II. und machte sie damit auch im kanonischen Recht zu einer Grundlage der Ketzerverfolgung. Auf diese Weise wurden die Aufgaben des weltlichen Arms hierbei klar definiert. Die Dekretale Ad extirpanda formulierte das Verfahren und billigte nun offiziell als Mittel zur Wahrheitsfindung den Einsatz der Folter. Eingeschränkt wurde deren Verwendung nur durch den Passus, dass der Gefolterte nicht verstümmelt werden oder bei der Prozedur gar sterben durfte. Weil es Klerikern schon immer untersagt war, an Prozeduren teilzunehmen, bei denen Blut floss, blieb die Ausführung der Folter dem weltlichen Arm überlassen. Im Kirchenrecht war diese Regelung neu, während in der Praxis die Folter zwar schon üblich war, aber nur in weltliche Gesetze Eingang gefunden hatte. Solange die Kirche gegen einzelne Gläubige bzw. Häretiker oder gegen eine relativ kleine Gruppierung von solchen vorging, genügten die kirchlichen Bußen weitgehend, als aber die Gruppen größer wurden, wurde das Phänomen der Ketzerverfolgung politisiert. Die weltlichen Herrscher ließen sich deshalb sehr gern von der Kirche als „weltlicher Arm“ in Anspruch nehmen. Ja, sie instrumentalisierten so regelrecht die Ketzerverfolgung politisch und gaben ihr mit der weltlichen Ketzergesetzgebung, die sich auf die weltlichen einschlägigen Gesetze der Spätantike beriefen, einen ganz neuen funktionalen Stellenwert. „Die sozial- und materiell-regressiven Maßnahmen der Ketzergesetzgebung richteten sich daher nicht alleine gegen religiöse Devianz, sondern boten sich auch als Mittel sozialer Disziplinierung an. Die Gleichsetzung von Häresie und Majestätsverbrechen ermöglichte unter bestimmten Voraussetzungen sogar den Missbrauch der Maßnahmen gegen Ketzer zur gewaltsamen Unterdrückung politischer Opposition (Königreich Sizilien).“ (S. 291f.)

 

Kirchliche Kreise waren nie ohne weiteres mit der Tötung von Ketzern einverstanden gewesen. „Als Beispiel hierfür sei der hl. Bernhard von Clairvaux angeführt. Als es 1144 in Köln zu einem Pogrom kam, bei dem Ketzer gegen den Willen des Klerus von der entfesselten Volksmenge auf den Scheiterhaufen geschleppt und verbrannt wurden, weigerte sich auch Bernhard, dem Tun des Volkes zuzustimmen“ (vgl. W. Brandmüller: Licht und Schatten, Kirchengeschichte zwischen Glaube, Fakten und Legenden, Augsburg 2007, 82f.).

 

Der Wandel im Vorgehen gegen die Häresie oder besser: die Verschärfung im Vorgehen bis hin zur Todesstrafe für die Ketzer, wurde durch den Wandel der Häresie selbst hervorgerufen, die von privatem, theologisch-religiösen zum sozialen, politischen Phänomen wurde. Für das „gläubige“ Volk waren die Ketzer wie die Pest, wie eine zum Losschlagen bereite Verschwörergruppe.“ Zur Verfolgung der Ketzer führte – mehr als Glaubensintoleranz oder Hass – die Angst und Bestürzung einer Gesellschaft, die instinktiv ihre geistigen Grundlagen bedroht fühlte“ (W. Brandmüller S. 79).

 

Sascha Ragg legt eine überzeugende Arbeit vor, deren Aussagen anhand gesetzlicher Quellen begründet und in ihren Schlussfolgerungen stringent sind. Man merkt dem Verfasser sein großes historisches Wissen an und seine Fähigkeit, damit umzugehen. Ganz wenige orthographisch Fehler und manche etwas „schiefe“ juristische Formulierung sind unerheblich. Es liegt eine sehr gute Arbeit vor, die deutlich macht, wie zwei große Machstrukturen, Kirche und „Staat“, zur damaligen Zeit deviante Minderheiten ausgrenzten und bekämpften, wobei ersterer der Vorwurf nicht erspart bleiben kann, über das Ziel hinausgeschossen zu sein; denn der Glaube lässt sich nur durch gewaltlose Überzeugungsarbeit verbreiten, nicht mittels Gewalt. Der „Staat“ aber bediente sich der kirchlichen Gesetzgebung allzu gern und nutzte sie für seine eigenen Zwecke. Auch heute sind durchaus solche Konstellationen möglich zwischen den Mächtigen, die Minderheiten und Einzelnen zum Verderben werden können.

 

Trier                                                                                                   Maximilian Joh. Hommens