Pernthaler, Peter, Die Identität Tirols in Europa. Springer, Wien 2007. XXI, 351 S. Besprochen von Gerhard Köbler.

 

Die Vorfahren des seit 1963 durch zahlreiche Veröffentlichungen bekannten Innsbrucker Verfassungsrechtlers Peter Pernthaler sind durch Jahrhunderte am Ritten bei Bozen ansässig gewesen. Sein Vater wurde 1925 vom faschistischen Regime aus Italien ausgewiesen. Deswegen haben Südtirol und die „Einheit des ganzen Landes“ für ihn nicht nur eine wissenschaftliche Bedeutung, sondern hat er gemeinsam mit seinem Lehrer Felix Ermacora die jahrzehntelangen Bemühungen um den Abschluss und die Umsetzung der Paketlösung einer erneuerten Autonomie für Südtirol verfolgt und nach der Streitbeilegung von 1992 als Abteilungsleiter der europäischen Akademie Bozen die Südtirol-Autonomie gemeinsamem mit engagierten Mitarbeitern wissenschaftlich aufzuarbeiten versucht, musste aber bald erkennen, dass seine österreichischen föderalistischen und verfassungsrechtlichen Vorkenntnisse und Erfahrungen nicht mehr geeignet waren, die neue Selbständigkeit der Südtiroler Verfassung richtig zu erfassen.

 

Gleichwohl erwuchs aus dieser geschichtlichen, politischrechtlichen und persönlichen Erfahrung der Plan zu einer Untersuchung der komplexen Grundlage der regionalen Selbständigkeit und politgeographischen Einheitlichkeit des mit dem Begriff Identität gefassten Landes Tirol. Diese Identität hat wichtige historische Wurzeln, ist in der Gegenwart aber vor allem ein dynamischer Prozess der Entwicklung und Veränderung. Wesentlich verursacht wurde er durch die Trennung des seit dem 12. Jahrhundert entstandenen Tirol in zwei Teile (Bundesland Tirol Österreichs und autonome Provinz Bozen-Südtirol Italiens) in unterschiedliche nationalstaatliche Systeme mit eigenen gesellschaftlichen, politischen und staatsrechtlichen Grundlagen.

 

Deswegen kann nach einleuchtender Ansicht des Verfassers die Identität des „ganzen Landes“ (Tiroler Landesverfassung) nur als ein Komplex unterschiedlicher nationaler Autonomien beschrieben werden, zwischen denen es einige rechtliche und politische Verbindungen wie das Pariser Abkommen von 1946, die Paketlösung von 1969, die Streitbeilegung von 1992 und die Schutzmachtfunktion Österreichs gibt, die auf den kulturellen und ethnischen Gemeinsamkeiten der Bevölkerung der Landesteile beruhen. Allerdings sieht der Verfasser mit tiefem Bedauern ein Zurücktreten der integrierenden Elemente gegenüber einer Dynamik eigener Identität zweier Landesteile. Selbst das Projekt einer rechtlichen Zusammenarbeit der Landesteile in einer Europaregion Tirol-Südtirol-Trentino vermag dies bislang nicht zu ändern.

 

Ein Schwerpunkt der Untersuchung liegt in der Analyse der Auswirkungen der europäischen Integration. Hier stehen auf der einen Seite zentralisierende Tendenzen europäischer Planungen, Bürokratie und Rechtsentwicklung vor allem in der Europäischen Union. Andererseits haben aber auch die europäischen Grundfreiheiten Auswirkungen auf die regionale Identität im Rahmen des Minderheitenschutzes und der sensiblen ökologischen Lebensbedingungen im Alpenraum und sind zusammen mit den wichtigen Ansätzen des europäischen Föderalismus und Regionalismus zu berücksichtigen.

 

Für seine Untersuchung entwickelt der Verfasser auf Grund seiner lebenslangen Erfahrungen eine eigene wissenschaftliche Methode. Sie soll die politische und staatsrechtliche Selbständigkeit eines Gliedstaates eines Bundesstaates und einer Region eines dezentralisierten Einheitsstaats mit allgemeiner Zielsetzung beschreiben, vergleichen und nach einem föderalistischen Standard in einem System des funktionalen Föderalismus bewerten. Damit strebt die Arbeit nach wissenschaftlicher Durchdringung der Autonomie der Regionen als unabdingbaren Bausteinen einer bürgernah gegliederten Demokratie in der Integration Europas.

 

Dabei bezeichnet das als erste Kategorie der Selbständigkeit einer Region zugrundegelegte Element Land einerseits die geschichtsräumliche Grundlage und den Lebensraum als Komplex von Landschaft, Siedlung und Kultur eines Regionalvolkes, während das Land andererseits als Gebietskörperschaft die unaufhebbare Einheit von Landesvolk und Landesgebiet als Rechtssubjekt und juristischer Träger der Autonomie bzw. gliedstaatlichen Selbständigkeit der Landesteile ist. Das zweite Element Volk wird als Träger des Selbstbestimmungsrechts der Völker und als Subjekt demokratischer Rechte analysiert. Typisch für das dritte Element Heimat ist die Wechselwirkung von individuellen Elementen des Erlebens und Empfindens mit der überindividuellen Integration in einen Raum-, Kultur- und Gemeinschaftszusammenhang der Menschen, so dass es ein individuelles Heimatrecht und eine rechtliche Einheit von Volk und Volksgruppe in einem bestimmten Gebiet gibt, in dem sie beheimatet sind, und die regelmäßig stabil bleibende Mehrheit der Bevölkerung die Kontinuität durch Integration Zugezogener auch in liberalen Systemen wahren kann.

 

In einem letzten Teil des Werkes werden kompakte Informationen über die gesellschaftlichen, rechtlichen, politischen und ökonomischen Determinanten der Identität beider Landesteile mit Quellen angeboten. Dabei behandelt Irmgard Rath-Kathrein das österreichische Bundesland Tirol. Florian von Ach stellt die Gegebenheiten Südtirols dar.

 

Insgesamt bietet das mit einem englischen Summary ausgestattete Werk eine umfassende Gesamtschau der verfassungsrechtlichen Lage Tirols aus menschlicher Eingebundenheit und wissenschaftlicher Distanz zugleich. In besonderen Anhängen werden die Petition Klecatsky und die zweisprachigen Ortsnamen als wichtige zeitgeschichtliche Dokumente angefügt. Ein wertvolles Literaturverzeichnis rundet die eindrucksvolle Leistung angenehm ab.

 

Innsbruck                                                                                           Gerhard Köbler