Müller, Philipp, Auf der Suche nach dem Täter. Die öffentliche Dramatisierung von Verbrechen im Berlin des Kaiserreichs (= Campus Historische Studien 40). Campus, Frankfurt am Main 2005. 423 S. Besprochen von Heinz Müller-Dietz.

 

Nicht erst die Weimarer Epoche war gekennzeichnet durch vielfältige und  publikumswirksame massenmediale Darstellungen spektakulärer Verbrechen und Strafprozesse. Bereits im wilhelminischen Zeitalter ist namentlich die Presse zum Sprachrohr öffentlicher Diskurse über Kriminalität und deren strafrechtliche Aufarbeitung geworden. Daran haben nicht zuletzt die Betroffenen in einer teilweise fast schon modern anmutenden Weise partizipiert. Der Fall des Schusters Wilhelm Voigt, der als „Hauptmann von Köpenick“ in die Rechts- und Literaturgeschichte eingegangen ist – wie etwa Carl Zuckmayers „deutsches Märchen“ von 1930 und dessen spätere Verfilmungen demonstrieren – erscheint gleichsam symptomatisch für die erfolgreiche Vermarktung eines einschlägigen Lebensschicksals wie autobiografischer Tätererfahrungen. Er ist damals, wie die Quellenstudie Philipp Müllers zeigt, keineswegs der einzige, aber wahrscheinlich der bekannteste gewesen.

 

Der Verfasser ist am Beispiel von Berichten und Kommentaren der Berliner Tagespresse im Zeitraum von 1887 bis 1914 der Frage nachgegangen, in welcher Weise aufsehenerregende Straftaten und Strafprozesse in mehr oder minder engem Austausch – oder gar Zusammenwirken – von Strafverfolgungsorganen, Justiz und Zeitungen der Öffentlichkeit präsentiert wurden. An dieser publikumwirksamen Aufbereitung von Verbrechen wirkten beileibe nicht nur Täter nach ihrer Entdeckung und Aburteilung selbst mit. Vielmehr wurde auch die Bevölkerung in wachsendem Maße in die Aufklärung und Bekämpfung von Verbrechen einbezogen. Diese „öffentliche Dramatisierung“ von Straftaten hat den Verfasser denn auch dazu veranlasst, die von der Polizei – etwa im Wege von Steckbriefen und öffentlicher Aussetzung von Belohnungen für die Täterermittlung und Täterergreifung – betriebene Praxis der Beteiligung des Publikums an Fahndungen als eine Art „Vorläufer“ von „Aktenzeichen XY ungelöst“ zu begreifen.

 

Dass Müller die Berliner Tageszeitungen ins Zentrum seiner überaus detaillierten Darstellung und Analyse der Wechselbeziehungen zwischen Polizei und Presse gerückt sowie mit der massenmedialen Präsentation dieser Kooperation und ihrer Ergebnisse verknüpft hat, hat offensichtlich seinen Grund in der führenden Rolle, die vor allem auflagenstarke Blätter der Metropole damals in der Presselandschaft des Kaiserreichs wahrgenommen haben. Freilich hat der Verfasser keineswegs nur einschlägige Artikel bekannter Tageszeitungen der großen Zeitungsverlage Mosse, Scherl und Ullstein – z. B. des „Berliner Tagblatts, des „Berliner Lokal-Anzeigers“ und der „Berliner Morgenpost“ – sowie parteipolitischer Blätter – wie z. B. des sozialdemokratischen  „Vorwärts“ – ausgewertet. Er hat auch einschlägige Dokumente verschiedener Pressearchive und Presseinstitute herangezogen. Des weiteren hat er Akten des Berliner Polizeipräsidiums und des preußischen Innenministeriums und Justizministeriums sowie Materialien der in jener Zeit allmählich entstehenden Massenunterhaltung (z. B. des Heimatmuseums Köpenick und von Filmmuseen) verwendet. Namentlich den (kriminal-)polizeilichen Unterlagen hat der Verfasser Aufschlüsse über die vielfältigen (Wechsel-)Beziehungen zwischen Strafverfolgungsbehörden und der Presse entnehmen können, die denn auch den Weg zur Mitwirkung der Bevölkerung an Fahndungen erschlossen und zur Entstehung gesellschaftlicher Verbrechens- und Verbrecherbilder im Kaiserreich beigetragen haben.

 

Müller hat zunächst die Berliner Presselandschaft nach ihren Erscheinungsformen, ihrer Entwicklung und Rezeption durch ein zunehmend aufnahmebereites, wenn nicht gar sensationslüsternes Publikum durchforstet. Zeitungslektüre ist damals für viele ein preisgünstiges Vergnügen geworden. Einen besonderen Rang in der Darstellung nimmt die ausführliche Gerichtsberichterstattung ein, die Lesern Straftaten, Täter und Abläufe von Prozessen in fast schon minutiöser Weise nahegebracht hat. Dies gilt auch für das Verhältnis von Polizei und Presse, in dem namentlich die Pressepolitik der Kriminalpolizei einen eigenen Schwerpunkt bildet. Den Befunden zufolge ist die ursprünglich übliche Geheimhaltung oder wenigstens Zurückhaltung der Polizei gegenüber Zeitungen allmählich einer offensiveren Pressepolitik gewichen, die das Informationsinteresse der Massenmedien in wachsendem Maße für die polizeilichen Fahndungszwecke genutzt hat. Diese Entwicklung ist dann weitgehend in Gegensatz zum repressiven Charakter der nach wie vor bestehenden Zensur geraten. Freilich hat sich das Interesse an einem möglichst engen Zusammenwirken zwischen Polizei und Presse dort (nicht mehr) gedeckt, wo letztere nicht nur über Verbrechen und Straftäter informiert, sondern auch Kritik am Handeln von Strafverfolgungsorganen geübt, vor allem etwaige Ermittlungsfehler oder gar Ermittlungspannen gerügt hat.

 

Das Publikum, das die eingehende Berichterstattung über Verbrechen geradezu genossen, ja goutiert hat, hat sich gern in die Prozesse der Ermittlung, namentlich der Täteridentifizierung und Täterfestnahme, einspannen lassen. So nehmen denn auch Denunziationen einen relativ breiten Raum in der Darstellung ein. Insbesondere Wahrnehmen und Verfolgen stellen die maßgebenden Stichworte für die Vorgänge dar, die sich in dieser Wechselbeziehung von Polizei, Presse und Publikum abspielen. Es sind im Ganzen vier freilich verschieden gewichtige Phasen, durch die die Berichterstattung durch die Presse und das öffentliche Interesse daran ihr spezifisches Gepräge erhalten. Müller veranschaulicht diese Abläufe in überaus detaillierter und materialreicher Weise an zwei besonders herausragenden Kriminalfällen, denen im Kaiserreich ungewöhnliche Aufmerksamkeit zuteil geworden ist. Zum einen hat es sich um den Raubmörder Rudolph Hennig gehandelt, der 1905 einen Kellner erschossen, 1906 wegen Mordes zum Tode verurteilt und hingerichtet worden ist – nicht ohne vor seinem Tod noch um die Kommerzialisierung seines Falles bemüht gewesen zu sein. Zum anderen dokumentiert der Verfasser den schon erwähnten Fall des Schusters Voigt, der 1906 wegen Betrugs zu einer vierjährigen Gefängnisstrafe verurteilt, aber bereits 1908  von Kaiser Wilhelm II. begnadigt worden ist.

 

In der ersten Phase hat die Ermittlung und Festnahme des Täters im Mittelpunkt gestanden. „Die öffentliche Recherche nach den Verbrechern“ (S. 229) hat im Falle des Raubmörders buchstäblich die Züge sog. „Hennig-Jagden“ angenommen, die durch den Steckbrief der Polizei und eine  entsprechende Presseberichterstattung in Gang gebracht worden sind. Dabei haben Zeitungsmeldungen und gesellschaftliche Wahrnehmung – in charakteristischer Weise - namentlich zwischen mehr oder minder gesicherten Informationen sowie Spekulationen und Gerüchten changiert. Eine zweite, eher kurze Phase hat sich auf die Überführung des Täters konzentriert, die zwar wiederum starkem Publikumsinteresse begegnet, aber in publizistischer Hinsicht eher von relativ kurzer Dauer gewesen ist. Ungleich breiteren Raum haben in der Berichterstattung die Verhandlungen vor Gericht eingenommen, die denn auch der Darstellung und Deutung von Persönlichkeitstypus, Biografie und krimineller Karriere größere Möglichkeiten eröffnet haben. Nicht selten haben sich zwischen dem öffentlichen Nimbus und Bild des Verbrechers und seiner realen Erscheinung erhebliche Diskrepanzen aufgetan. Als ausgesprochen ambivalent hat sich die vierte, letzte Phase der gesellschaftlichen Wiedereingliederung im Fall des Schusters Voigt erwiesen. Sie hat auf Grund der Vorgeschichte zu einer öffentlichen Solidarisierung mit dem falschen „Hauptmann von Köpenick“ geführt, die der Kaiser wiederum in publikumswirksamer Weise zum Anlass für die Begnadigung genommen hat. Müller spricht denn auch von einer gleichsam gesellschaftlichen Entkriminalisierung des Verurteilten, der ja als „Opfer polizeilicher Engherzigkeit“ bezeichnet worden ist.

 

Aus alledem ist ein anschauliches und lebendiges Bild entstanden, das auf der einen Seite staatliche Instanzen, Polizei, Staatsanwaltschaft und Gerichte, und auf der anderen Seite  Presseorgane und Publikum als Akteure und Teilnehmer eines Informations-, Kommunikations- und Verarbeitungsprozesses erscheinen lässt, der die Maßnahmen und Tendenzen der Verbrechensverfolgung und Verbrechensbekämpfung gesellschaftlich vermittelt. Dass die öffentliche Verfolgung und die Festnahme von Verbrechern auch dem Publikum, dem es ja an polizeilichen und journalistischen Kompetenzen mangelt, vielfach Gelegenheiten zur Mitwirkung geboten haben, ist offenkundig dem verbreiteten Interesse, wenn nicht Vergnügen an Verbrechensensationen entgegengekommen. In diesem Geschehen sieht Müller im Unterschied zu Max Webers „Entzauberung der Welt“ durch den Bruch mit dem Magischen vielmehr – im Anschluss an Alf Lüdtke – gerade einen Vorgang der „Verzauberung der Moderne“ (S. 366). Seine Studie vermag denn auch – am Beispiel des Verhältnisses von Polizei und Presse in der Kaiserzeit - den Blick für Zusammenhänge zwischen staatlicher Verbrechenskontrolle sowie gesellschaftlicher Wahrnehmung und Verarbeitung von Kriminalität zu schärfen.

 

Saarbrücken                                                                                                  Heinz Müller-Dietz