Moses, Annett, Kriminalität in Baden im 19. Jahrhundert. Die „Übersicht der Strafrechtspflege“ als Quelle der historischen Kriminologie (= Veröffentlichungen der Kommission für geschichtliche Landeskunde, Reihe B: Forschungen, 163. Bd.). Kohlhammer, Stuttgart 2006. XXXV, 415 S.

 

Die Studie, die im Wintersemester 1998/99 von der Historisch-Philosophischen Fakultät der Universität Heidelberg als Dissertation angenommen und nunmehr in überarbeiteter sowie bibliographisch aktualisierter Fassung veröffentlicht worden ist, hat die Kriminalitätsentwicklung im Großherzogtum Baden im 19. Jahrhundert zum Gegenstand. Im Zentrum der Untersuchung steht der Zeitraum von 1829 bis 1878 (1879). Die Arbeit ist im Kontext der neueren sozialgeschichtlichen Forschung zu sehen, die namentlich die Einflüsse der Modernisierung in Staat und Gesellschaft auf normkonformes wie abweichendes Verhalten analysiert. Die quantitativ angelegte, auf der Makroebene angesiedelte Studie verdankt ihre Entstehung nicht zuletzt dem (glücklichen) Umstand, dass Baden der erste deutsche Staat gewesen ist, der nach dem Vorbild des französischen „Compte général“ von 1827 seit 1829 mit einer umfassenden Kriminalstatistik aufgewartet hat.

 

Zwar sind diesen als „Übersicht der Strafrechtspflege“ firmierenden und jährlich erscheinenden Datensammlungen seit 1808 „Civil- und Criminal-Tabellen“ vorausgegangen, die jeweils im Regierungsblatt veröffentlicht worden sind. Sie haben gewiss auf ein wachsendes Interesse an Informationen über die Tätigkeit der Gerichte sowie die strukturelle Entwicklung der Kriminalität schließen lassen. Doch ist erst mit der „Übersicht“ ein Datenwerk geschaffen worden, das die Geschäftstätigkeit der Strafgerichte in umfassender und vergleichsweise detaillierter Weise dokumentiert hat. Sie ist dann bis zur Einführung einer Reichskriminalstatistik im Jahre 1879 erschienen. Die „Übersicht“ hat nicht nur über die Zahl und Art der Verfahrenserledigungen (bis hin zu Verfahrenseinstellungen gegen Unbekannt, ab 1852 auch gegen Angeklagte), sondern auch über die regionale Verteilung der amtlich erfassten Kriminalität (nach Gerichtsbezirken) Auskunft gegeben. Darüber hinaus sind in diese Statistiken auch Daten über die Deliktsstruktur und das Sozialprofil der Angeklagten (z. B. über das Geschlecht, das Alter, den Familienstand, die Staatsangehörigkeit, die Konfession, die Vermögensverhältnisse und den Beruf) eingegangen. Freilich sind manche dieser Merkmale nur in Gestalt eines mehr oder minder groben Rasters erfasst worden. Ausgespart aus dem Erhebungszeitraum sind allerdings die Jahre 1848 bis 1851, in denen die „Übersicht“ wegen der Märzrevolution und ihrer Folgen nicht erschienen ist.

 

Für die Einführung dieser Kriminalstatistik waren – ganz im Geiste der Zeit – in der Hauptsache drei Ziele maßgebend. Zum einen wollte man sich einen möglichst gründlichen Überblick über die Tätigkeit der Gerichte im Zeitablauf, eine „GeschäftsControlle“, verschaffen. Zum anderen sollten die Daten Anhaltspunkte für die Verbrechensvorbeugung, also für kriminalpräventive Bestrebungen, liefern. Schließlich wollte man dadurch eine „systematische wissenschaftliche Analyse moralstatistischer Fragen ermöglichen“ (S. 102). In zeitgenössischer Sicht – wie sie sich etwa in Äußerungen Zachariä von Lingenthals und C. J. A. Mittermaier manifestierte – erschienen Verbrechen als „Krankheiten und Gebrechen“, an denen Staat und Gesellschaft leiden. In diesem medizinischen Vergleich figurierten kriminalstatistische Erhebungen gleichsam als eine Art Diagnoseinstrument, das sowohl über den Krankheitszustand als auch über die Wirksamkeit der „Arzneien“ informieren sollte - die man in den Kriminalstrafen erblickte.

 

Die Studie von Annett Moses setzt bereits bei der Vorgeschichte des Großherzogtums Baden ein, die der Einführung der „Übersicht“ vorausgegangen ist. Sie vermittelt zugleich einen Einblick in die verschiedenen Entwicklungsphasen, die Verwaltung und Justiz des Landes seit seiner Entstehung im Jahre 1803 bis zum Ende des 19. Jahrhunderts durchlaufen haben. Diese Epochen spiegeln das Ringen um die allmähliche Herausbildung und den Aufbau eines „modernen Rechtsstaates“ wider, das für die Ausgestaltung der Gerichtsverfassung, des Strafverfahrens und damit auch für die Tätigkeit der Gerichte maßgebliche Bedeutung erlangt hat. Am Anfang hat das von K. S. Bader als „Kunststaat“ charakterisierte Staatsgebilde gestanden, das bis 1810 noch erheblichen Zuwachs an Staatsgebiet erfahren hat. Im Zuge eines mehr oder minder langwierigen und schwierigen Prozesses hat das Großherzogtum allmählich zu einer politischen, administrativen und jurisdiktionellen Einheit finden müssen, in der es – auch wegen standesherrlicher Privilegien auf dem Gebiet der Gerichtsbarkeit -  um die Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols gegangen ist. Die Konstitution vom 22. 8. 1818 – die den Bürgern zu einer freilich recht begrenzten Partizipation verholfen hat – hat keineswegs in hinreichendem Maße in diesem Sinne zu wirken vermocht.

 

Bis zu den gerichtsverfassungs- und strafverfahrensrechtlichen Reformen der Jahre 1845-1851 hat der Inquisitionsprozess mit der weitgehenden Personalunion von Ankläger, Verteidiger und Richter das Bild des Strafverfahrens bestimmt. Die Grundlage dafür hat das Strafedikt vom 4. 4. 1803 abgegeben, das trotz Überarbeitung der CCC von 1532 wesentliche Mängel dieses Gesetzeswerkes übernommen und fortgeschleppt hat. Erst jene Reformen haben es – jedenfalls im Grundsatz – vermocht, rechtsstaatlichen Forderungen (des Frühliberalismus) zum Durchbruch zu verhelfen (z. B. Trennung der Justiz von der Verwaltung, Einführung des Anklagesystems und der Staatsanwaltschaft, der Öffentlichkeit und Mündlichkeit der Verhandlung sowie der Geschworenengerichte, Anerkennung des Indizienbeweises). Eine neue Gerichtsverfassung und Strafprozessordnung hat das Land dann durch ein umfangreiches Gesetzeswerk erhalten, das am 1. 10. 1864 in Kraft getreten ist. Es ist schließlich durch die Reichsjustizgesetze des Jahres 1879 abgelöst worden.

 

Die Studie der Verfasserin ist ganz im Sinne heutiger sozialgeschichtlicher Forschungsansätze interdisziplinär angelegt. Sie setzt die im Zeitablauf registrierten kriminalstatistischen Daten zu Befunden in Beziehung, die – vor allem auf der Grundlage neuerer Modernisierungstheorien – Aufschluss  über strukturelle gesellschaftliche Zusammenhänge und prozesshafte soziale Verläufe zu geben vermögen. Dementsprechend werden die Kriminalitätsentwicklungen während der im Einzelnen unterschiedenen vier Perioden (1830-1847, 1852-1864, 1865-1871 und 1872-1878) in Form von Korrelationsanalysen aufbereitet, in denen sog. Modernisierungsvariablen – aus den Bereichen der Demographie, der Urbanisierung und der Ökonomie – eine maßgebliche Rolle spielen. In jenen Epochen hat die Bevölkerung in starkem Maße zugenommen; sie ist im Zeitraum von 1830 bis 1879 um etwa 30 % gewachsen. Diese Entwicklung ist namentlich mit den Phänomenen der Industrialisierung und Verstädterung (Urbanisierung) einhergegangen. Sie haben denn auch in Kriminalitätsverläufen einen mehr oder minder signifikanten Niederschlag gefunden. Insgesamt ist die Kriminalitätsquote im Untersuchungszeitraum deutlich angestiegen. Dies ist vor allem auf sog. Massendelikte wie Diebstahl, Körperverletzung und Beleidigung zurückzuführen gewesen, die einen Anteil von mehr als drei Vierteln aller Fälle zu verzeichnen gehabt haben. Demgegenüber sind die Prozentsätze schwerer Verbrechen weitgehend konstant geblieben. In der ungleich höheren Kriminalitätsbelastung städtischer Bezirke erblickt die Verfasserin desintegrierende Auswirkungen der Urbanisierung und Industrialisierung. „Der Diebstahl offenbarte sich als stadtspezifisches Delikt schlechthin.“ (S. 372) In dem auf die „Übersicht“ folgenden Zeitraum bis zur Jahrhundertwende konstatiert Annett Moses einen weiteren Kriminalitätsanstieg, der ihr zufolge für eine weitere, zweite Phase der „Hochindustrialisierung“ charakteristisch ist.

 

Das reichhaltige kriminal- und gesellschaftsstatistische Material, das die Verfasserin in ihrer Darstellung im Einzelnen aufbereitet und analysiert hat, hat Eingang in eine Vielzahl von Tabellen, Karten, Diagrammen und Verzeichnissen gefunden. Sie sind teils in den Textteil eingearbeitet, teils im Anhang wiedergegeben. Insgesamt stellen sie eine Fundgrube an Informationen dar.

 

Annett Moses ist sich der Probleme vollauf bewusst, die sich mit der Deutung und Aussagekraft von Kriminalstatistiken – nicht zuletzt nach Art der „Übersicht der Strafrechtspflege“ – verbinden. Sie setzt sich daher sowohl einleitend als auch in ihren Detailanalysen mit dem Einwand auseinander, dass solche Datensammlungen in erster Linie Auskunft über die Tätigkeit der Strafgerichte im Zeitablauf geben. Dass derartige Quellen – allein schon wegen des stets beachtlichen Dunkelfeldes – die reale Kriminalitätsentwicklung nicht widerzuspiegeln vermögen, gibt die Studie denn auch durchgängig zu erkennen. Gleichwohl hält die Verfasserin dem heutigen Forschungsstand entsprechend die Heranziehung kriminalstatistischer Daten zur Darstellung und Interpretation von Kriminalitätsabläufen – ungeachtet notwendiger Vorbehalte – für unverzichtbar. Dies gilt nicht zuletzt im Hinblick auf das Fehlen anderer Erhebungsinstrumente für den  Untersuchungszeitraum, die (wie z. B. Befragung, Interview, teilnehmende Beobachtung) der heutigen Sozialforschung zu Gebote stehen.

 

Ebenso nimmt die Problematik einen gebührenden Raum ein, die sich mit der Herstellung etwaiger Zusammenhänge zwischen der Makroebene und der individuellen verbindet, sofern ihnen mehr als eine bloß statistische Bedeutung zukommen soll. Es ist ja nachgerade eine Binsenweisheit, dass gesellschaftliche, namentlich ökonomische Strukturen und Prozesse von den Zeitgenossen unterschiedlich erlebt und verarbeitet werden. Auf der anderen Seite ist aber auch zunehmend deutlich geworden, in welchem Maße solche Entwicklungen auf individuelle Einstellungen und Verhaltensweisen zurückwirken. In diesem Sinne erblickt die Verfasserin denn auch in den Phänomenen sozialen Wandels – etwa auf den Feldern der Demographie, der Urbanisierung und der Industrialisierung -, welche die Entwicklung Badens im 19. Jahrhundert geprägt haben, „Bestimmungsfaktoren“, die zwar notwendige, aber keineswegs hinreichende Bedingungen für kausale Abhängigkeiten darstellen (z. B. S. 26). Dass solche Faktoren – namentlich wenn sie mit gesellschaftlichen Krisen, Spannungen und Konflikten einhergehen – kriminogenen Charakter annehmen und dadurch etwa die Entwicklung sog. Massendelikte beeinflussen können, steht nach heutigen Erkenntnissen außer Frage.

 

Die thematisch wie inhaltlich weit ausgreifende Studie schöpft die Erkenntnismöglichkeiten, die eine derartige Makroanalyse auf kriminalstatistischer und sozialgeschichtlicher Grundlage bietet, in vollem Umfange aus. Dies geschieht durchweg in kritischer Reflexion der Grenzen, die der Aussagekraft der zugrunde gelegten Befunde gleichsam inhärent sind. Insgesamt spiegelt die Arbeit den internationalen Forschungsstand auf dem Gebiet der neueren Sozialgeschichte in eindrucksvoller, ja über weite Strecken bestechender Weise wider. Ungeachtet ihres regionalen Bezugs und ihrer Beschränkung auf Zeitabschnitte des 19. Jahrhunderts – die allerdings für die gesellschaftliche Modernisierung überaus bedeutsam erscheinen – stellt die Studie zugleich einen gewichtigen wissenschaftsgeschichtlichen Beitrag zur Entwicklung der Kriminologie als Disziplin selbst dar. Annett Moses ist mit ihrer Untersuchung ein Kabinettstück sozial- und kriminalitätsgeschichtlicher Forschung gelungen. Zu wünschen wäre, dass die von ihr als Ergänzung und Pendant vorgeschlagenen, auf kleineren Erhebungseinheiten beruhenden Fallstudien ebenso wie entsprechende Analysen anderer deutscher Einzelstaaten zum 19. Jahrhundert zustande kämen. Dadurch könnte allmählich ein sozialgeschichtliches Tableau geschaffen werden, das die Prozesse gesellschaftlicher Modernisierung schärfer und präziser zu konturieren vermag.

 

Saarbrücken                                                                                                  Heinz Müller-Dietz