Modernisierung durch Transfer zwischen den Weltkriegen, hg. v. Giaro, Tomasz (= Rechtskulturen des modernen Osteuropa. Traditionen und Transfers 2 = Studien zur europäischen Rechtsgeschichte 215). Klostermann, Frankfurt am Main 2007. VIII, 317 S. Besprochen von Herbert Küpper.

 

Seit 2004 betreibt das Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte das Projekt „Rechtskulturen des modernen Osteuropa. Traditionen und Transfers“. Nachdem 2006 ein erster Projektband zur Entwicklung von Recht und Rechtskultur im „langen“ 19. Jahrhundert herausgegeben wurde, liegt nun der Anschlussband vor, der die zwar deutlich kürzere, aber nicht weniger bewegte Zwischenkriegszeit darstellt. Einzelne Länderberichte beleuchten die Entwicklungen in den verschiedenen Staaten. Positiv hervorzuheben ist, dass auch Griechenland einbezogen wird, denn in der Zwischenkriegszeit kämpfte das Land mit denselben strukturellen Modernisierungsproblemen wie die übrigen südosteuropäischen Staaten und wurde daher von der zeitgenössischen deutschsprachigen Ostrechtsforschung in den Kreis der von ihr beobachteten Länder aufgenommen. Inkonsequent ist insofern die Nichtaufnahme Finnlands in den Band, obwohl die zahlreichen Parallelen zu den baltischen Staaten beim Überwinden des russischen Rechtserbes die Zuordnung Finnlands zu den „neuen Staaten“ in der östlichen Hälfte des Kontinents nahelegt und in der Zwischenkriegszeit Finnland zum ‚legitimen’ Gegenstand des deutschsprachigen Ostrechts gemacht haben. Ebenso bleiben die Kleinstaaten Danzig und Fiume ausgespart.

 

Den Länderberichten vorgelagert ist eine kurze theoretische, allerdings rein deskriptive Grundlegung zur Frage des Rechtstransfers aus der Feder von V. Hangăs. Er umreißt v. a. die Phänomene Rezeption und erzwungener Transfer und behandelt darüber hinaus kurz Nachahmung und Annahme. Der Leser vermisst hier insbesondere eine Auseinandersetzung mit der Nostrifikation, die in einer abstrakten Betrachtung der Handlungsmuster in der osteuropäischen Rechtsentwicklung der Zwischenkriegszeit nicht fehlen darf.

 

Der erste Länderbericht ist den drei baltischen Republiken gewidmet, wobei sein Autor T. Anepaio ausreichend betont, dass auch in der Zwischenkriegszeit die Unterschiede die Gemeinsamkeitenn zwischen den Staaten überwogen und daher die Zusammenfassung zu „den baltischen Staaten“ sehr relativ gesehen werden muss. Der Bericht legt den Schwerpunkt auf die Einbettung der Rechtsentwicklung in ihre sozioökonomischen und politischen Bedingungen und veranschaulicht die Probleme der jungen Nationalstaaten vom Elitenwechsel – gerade die die Jahre nach der Unabhängigkeit prägenden Juristen waren oft Intellektuelle der ersten Generation mit bäuerlichem Hintergrund, die an den nach 1864 reformierten Fakultäten des Zarenreichs ihre Ausbildung genossen hatten – bis zur Überwindung der territorialen und ständischen Rechtszersplitterung. Von besonderem Interesse sind die Darstellungen zum Aufbau einer nationalen Rechtswissenschaft und eines nationalen rechtswissenschaftlichen Nachwuchses, denn hier bündelten sich viele rechtkulturelle Probleme der Zeit.

 

Anschließend bietet L. Goga einen Abriss der Entwicklung des rumänischen Rechts. Seine Bilanz des betrachteten Zeitraums ist bis zum Ende der 1920er Jahre positiv, während ab dann die wirtschaftliche Krise und das zunehmend autoritäre politische System zu einem stetigen Verfall führten. Als Hauptprobleme der rumänischen Rechtsentwicklung identifiziert Goga erstens die Vereinheitlichung der Rechtsräume und zweitens die notwendige Modernisierung. Während das öffentliche Recht im zentralistischen Geist relativ rasch vereinheitlicht werden konnte, verlangsamte die notwendige Rücksichtnahme auf lokale Wirtschaftsstrukturen diesen Prozess im Zivilrecht.

 

Als ‚Kontrastprogramm’ zu Rumänien folgt Ungarn, dessen Rechtsgeschichte von K. Gönczi nachgezeichnet wird. Seine Lage war teils der in Rumänien entgegengesetzt, denn es mussten Gebietsverluste und nicht Gebietsgewinne verkraftet werden. Teils fallen die Parallelen zwischen beiden Staaten im Zusammenhang mit dem Bemühen auf, den Anforderungen der Moderne gerecht zu werden. Letzteres versuchte Ungarn mit einer Mischung aus faktischer Modernisierung und ideologischer Restauration im Zeichen der Rechtskontinuität. Gönczi beschreibt die für das Horthy-Regime typische Mischung aus rechtsstaatlicher Fassade und autoritärer Willkür der Exekutive und weist auf zahlreiche weiße Flecken in der ungarischen Rechtshistoriographie hin, z. B. die frühen Judendiskriminierungen unter Horthy ab 1920 oder die politischen Hintergründe, warum der BGB-Entwurf von 1928 im Parlament nicht verabschiedet wurde.

 

Die sowjetische Rechtsgeschichte wird in zwei Beiträgen aufgearbeitet. M. Kazimirova widmet sich der Frage nach dem Verhältnis von Revolution und Recht, während O. Subbotin mit dem Arbeitsrecht eine ideologisch besonders aufgeladene Materie exemplarisch herausgreift. Nach einer Einführung in die rechtskulturellen Kontinuitäten zwischen zaristischem und sowjetischem Recht legt Kazimirova den Schwerpunkt auf das Entstehen einer revolutionären Rechtstheorie 1917/18. Durch diese zeitliche Verengung blendet sie die wechselvolle Geschichte der sowjetischen Rechtstheorie zwischen 1918 und den 1930er Jahren völlig aus. Ihr Abriss über die Entwicklung des materiellen Rechts hingegen umfasst die gesamte Zwischenkriegszeit. Ärgerlich bei diesem französischsprachigen Beitrag ist das Fehlen einer Konzeption zur Übertragung russischer Namen und Bezeichnungen: mal werden sie transkribiert, mal transliteriert, oft ohne Konzept in die französische Orthographie übertragen, und sogar Transliterierungen nach deutscher Norm kommen vor. Im Gegensatz zu Kazimirova legt Subbotin seinen Schwerpunkt nicht auf die Zeit der Revolution, sondern bietet einen detaillierten Abriss des Arbeitsrechts der gesamten Zwischenkriegszeit von den autoritär-hoheitlichen Arbeitsbeziehungen des Kriegskommunismus über die Stärkung der Vertragselemente in der Neuen Ökonomischen Politik bis hin zur Einpassung des Arbeitsrechts in die Planwirtschaft nach 1928 durch den Abbau privatrechtlicher und die Betonung subordinationsrechtlicher Elemente. Hierbei vergisst Subbotin auch die Sondervorschriften für die Zwangsarbeit nicht.

 

Als Hauptzug der bulgarischen Rechtsentwicklung identifizieren J. Kirov und C. Takoff die Tendenz zu einer autoritären politischen und Rechtskultur, um mit den wirtschaftlichen und sozialen Krisen fertig zu werden. Deren Lösung gelang weder der sozialreformerisch-autoritären Bauernunion noch den restaurativ-autoritären Folgeregimen der Demokratischen Einheit und des Volksblocks. Erst unter der anschließenden Königsdiktatur stellen die Autoren eine „Stabilisierung durch Entpolitisierung“ fest.

 

Die Aufgliederung des Berichts zu Jugoslawien in zwei Teile je über das Privatrecht (M. Krešić) und über das Verfassungsrecht (S. Šarkić, M. Kulauzov) schafft zwar Raum für die detaillierte Darstellung überaus vielschichtiger Vorgänge. Sie lässt aber kaum Gespür und Verständnis für eines der bemerkenswertesten Phänomene der jugoslawischen Rechtsentwicklung jener Zeit aufkommen, nämlich die Tatsache, dass eine nennenswerte zentralstaatliche Vereinheitlichung der extremen territorialen Zersplitterung des Privatrechts – Hauptbestreben der jugoslawischen Rechtspolitik während der gesamten Epoche – nur in der parlamentslosen Zeit nach der sog. Januardiktatur als exekutivische Rechtsetzung gelang.

 

Die Darlegungen zu Albanien von N. Shehu zeigen einen Staat, der zwischen Aufbauversuchen und Zusammenbrüchen der staatlichen Autorität schwankt. Die instabilen Verfassungen waren eine Mischung aus einheimischen Elementen und Versatzstücken, die aus verschiedenen ausländischen Grundgesetzen rezipiert wurden. Dasselbe gilt für die drei Gesetzbücher, die in der Zwischenkriegszeit zu Stande kamen. Die ausländischen Elemente wurden auch ausgesucht, um die albanischen Sozialverhältnisse zu modernisieren, z. B. in Richtung Geschlechtergleichheit. In einer zu über 90% analphabetischen Bevölkerung war die Modernisierungswirkung des geschriebenen neuen Rechts allerdings denkbar gering.

 

Während Staat, Gesellschaft und Recht in Albanien in der Zwischenkriegszeit den Sprung in die Moderne nicht schafften, präsentiert die folgende Studie P. Skřejpkovás als Kontrast das ‚Erfolgsmodell’ der tschechoslowakischen Entwicklung. In Bezug auf die Verfassungsordnung beleuchtet sie die Entstehung der Tschechoslowakei als „vorbildliche mitteleuropäische Demokratie“. Die Fortentwicklung der Rechtsordnung prägte das doppelte Bestreben, den Dualismus aus österreichischem Recht (Böhmen, Mähren, Schlesien) und ungarischem Recht (Slowakei) zu überwinden und zugleich das Rechtserbe zu modernisieren. Während sich der Beitrag Skřejpkovás auf die Modernisierung des österreichischen Rechts konzentriert, ist der Geschichte des ungarischen Rechts in der Slowakei ein separater Aufsatz M. Laclavíkovás gewidmet. Ein Hauptproblem im slowakischen Landesteil war die wegen der unpräzisen Rezeptionsnormen umstrittene Frage der Fortgeltung ungarischen Gewohnheitsrechts und Richterrechts und somit des unkodifizierten ungarischen Privatrechts.

 

M. Tsapogas schildert die enormen Modernisierungsprobleme, die das griechische Recht in der Zwischenkriegszeit zu bewältigen hatte. Im Zivilrecht gelang der Schritt von der vormodernen Mischung aus reanimiertem byzantinisch-römischem Privatrecht, napoleonischem Handelsrecht und einem religiösen Personalstatut im Familien- und Erbrecht über zahlreiche mosaikartige Einzelgesetze hin zu der Zivilrechtskodifikation von 1940, die allerdings wegen ihres Zustandekommens unter der Diktatur rückwärtsgewandte Sozialmodelle und Moralvorstellungen rechtlich festschrieb und daher der griechischen Rechtsordnung nur unvollkommen den Weg in die Moderne öffnete. Im öffentlichen Recht war die Entwicklung ähnlich zwiespältig.

 

Auf das öffentliche Recht konzentrieren sich die Ausführungen von W. Witkowskis und von A. Wrzyszcz unter dem Titel „Modernisierung des Rechts im unabhängigen Polen“. Ausführlich schildern sie die Entwicklung im Verfassungsrecht, bei den öffentlich-rechtlichen Obergerichten (Staatsgerichtshof, Verwaltungsgerichtshof, Kompetenzgericht), der kommunalen Selbstverwaltung und den Grundrechten. Hierbei wird klar, dass weder die erste demokratische noch die folgende autoritäre Phase die zahlreichen Probleme des Zwischenkriegspolen bewältigen konnte. Der Modernisierung der übrigen Rechtsgebiete, die v. a. im Zeichen der Unifizierung stand, widmet der Beitrag zu Polen nur vergleichsweise wenig Raum. Das ist bedauerlich, ist doch die Geschichte der Rechtsvereinheitlichung in der Zweiten Polnischen Republik u. a. wegen der intensiven und qualitativ hochstehenden rechtsvergleichenden Diskussion und wegen zahlreicher origineller Lösungen von besonderem rechtsgeschichtlichem und -theoretischem Interesse. Immerhin gelingt es den Autoren, der polnischen Rechtswissenschaft und dem Kodifikationsausschuss ein kleines Denkmal zu setzen.

 

Das Buch schließt mit einigen Gedanken des Herausgebers zu Rechtswanderung, Europa und einigen anderen Grundbegriffen als Ergänzung und Gegenpunkt des Eröffnungsbeitrags Hangăs. Giaro setzt die in den Länderberichten dargestellten Entwicklungen in einen weiteren räumlichen (ganz Europa) und zeitlichen (vom Mittelalter bis heute) Kontext und zeichnet die theoretischen Konstrukte nach, die das Phänomen der Rechtswanderung erfassen und erklären wollen.

 

Damit erhält der Leser einen umfassenden und stellenweise vertieften Einblick in die Rechtsentwicklung der alten und neuen Staaten östlich von Schweden, Deutschland und Italien in der Zwischenkriegszeit. Der Buchtitel ist insofern etwas irreführend, als zwar viel von Modernisierung gesprochen, aber der Transfer nur stellenweise thematisiert wird. Die Qualität der Einzelbeiträge ist meist hoch, wenn auch nicht überall gleich. Das ist bei einem derartigen Sammelband unvermeidlich. Positiv zu vermerken ist, dass die Länderberichte von – meist jüngeren – Wissenschaftlern aus den jeweiligen Ländern verfasst wurden. Das eröffnet dem Leser immer wieder Einblicke in fremdes Selbstverständnis, nationale Klischees und blinde Flecke, so z. B. die Überschätzung der Einzigartigkeit des polnischen Unifizierungsproblems unter Außerachtlassung vergleichbarer Problemlagen in Jugoslawien, Rumänien und der Tschechoslowakei oder die recht undifferenzierte Diskussion der Frage des Selbstbestimmungsrechts bei der Abtretung Siebenbürgens an Rumänien 1920. Auch spezifisch nationale Fragestellungen wie etwa die, ob die Entstehung der Tschechoslowakei eine Revolution war, werden dem deutschen Leser präsentiert. Interessant ist auch zu sehen, dass die Vorgänge von München 1938, welche die Zerstörung des tschechoslowakischen Staates einleiteten, von der tschechischen Autorin als „Diktat von München“ bezeichnet werden, während die slowakische Autorin neutral vom „Munich Agreement“ spricht. Insgesamt bildet der vorliegende Sammelband eine lohnende Lektüre für alle an der jüngeren europäischen Rechtsgeschichte Interessierten, dessen Lesevergnügen durch ein sorgfältiges Lektorat – die erwähnten Mängel bei der Übertragung kyrillischer Namen ins Französische bilden nur die Spitze des Eisbergs – noch gesteigert werden könnte.

 

München                                                                                                                   Herbert Küpper