Lesebuch Altes Reich, hg. v. Wendehorst, Stephan/Westphal, Siegrid (= bibliothek altes Reich 1). Oldenbourg, München 2006. VIII, 283 S., 19 Ill., mit einem ausführlichen Glossar. Besprochen von Peter Oestmann.

 

Mit dem Lesebuch Altes Reich eröffnen Siegrid Westphal und Stephan Wendehorst eine neue wissenschaftliche Reihe, die „bibliothek altes Reich“ (baR). Zwei Bände sind bereits erschienen, zwei weitere angekündigt. Die Reihenherausgeber, zu denen neben Westphal und Wendehorst auch Anette Baumann zählt, verfolgen vier Ziele. Zuvörderst geht es ihnen um eine „inhaltliche und methodische Neuausrichtung“ der Erforschung des Alten Reiches. Das Alte Reich „als Gesamtzusammenhang“ soll interdisziplinär und mit neuen methodischen Ansätzen behandelt werden. Sodann dient die Reihe der Bündelung der Forschung. Auf diese Weise soll das Gewicht des Alten Reiches innerhalb der Geschichtsschreibung gestärkt werden. Drittens streben die Herausgeber die Popularisierung von Fachwissen an. Über den Kreis der engeren Forschung hinaus soll ein größeres Publikum die Möglichkeit erhalten, den aktuellen Wissensstand verständlich und in gebotener Kürze zu rezipieren. Schließlich geht es um institutionelle Unabhängigkeit. Damit ist nicht nur gemeint, dass die Schriftenreihe an keine Institution angebunden ist. Vielmehr betonen die Herausgeber, dass sie über die Annahme von Manuskripten nicht allein entschieden, sondern ein transparentes peer review-Verfahren zur Qualitätskontrolle eingerichtet hätten. Es wäre an dieser Stelle untunlich, die Gründung einer wissenschaftlichen Reihe als solcher zu kommentieren. An Arbeiten zum Alten Reich und an Veröffentlichungsmöglichkeiten bestand jedenfalls auch bisher kein Mangel. Die angekündigte peer review ist freilich erstaunlich, wenn man bedenkt, dass in den ersten vier Bänden dreimal die Reihenherausgeber zugleich als Bandherausgeber bzw. Autoren auftreten. Aber die Leistung von Wissenschaft lässt sich nicht anhand von Ankündigungen, sondern nur anhand von Ergebnissen beurteilen.

 

Das Lesebuch Altes Reich setzt auf äußerste Kürze. Neben der Einleitung gibt es 36 Skizzen im Umfang von wenigen Seiten, die jeweils ein Schlagwort, oftmals einen zeitgenössischen Terminus aufgreifen und knapp beleuchten. Literaturverzeichnis, Glossar und Register runden den Band ab. Die Ausgangsthese der Herausgeber lautet, das Alte Reich sei außerhalb von Fachkreisen bis heute ein unbekanntes Wesen geblieben. Das ist zum Teil sicherlich richtig, man darf aber nicht die falschen Schlussfolgerungen daraus ziehen. Wenn die Einleitung etwa beklagt, die Entstehung von Repräsentativverfassungen werde regelmäßig am englischen Parlament und nicht am alten Reichstag erklärt, so ist dieser Befund doch in keiner Weise erstaunlich. Unser heutiger Parlamentarismus hat seine Vorbilder tatsächlich in England, Amerika und Frankreich und nicht im Alten Reich. Dieses Detail steht für das grundlegende Problem: Die liebevolle Zuwendung zum Alten Reich gerät allzu leicht in Versuchung, überall Modernität und Kontinuität zu sehen, funktionierende Staatlichkeit über viele Jahrhunderte hinweg, die lediglich von der älteren Forschung missachtet wurden. Die Behauptung der Herausgeber, dass das Alte Reich in den offiziellen heraldischen Symbolen Deutschlands immer noch allgegenwärtig sei, kann man durchaus bestreiten. Wenn eine (im übrigen erstaunlich schlechte) Abbildung der Internetseite des Bundesfinanzministeriums mit dem Hinweis kommentiert wird, hier handele es sich um eine modifizierte Version des Reichsadlers (3), hat man es letztlich mit einer Neuauflage der translatio imperii-Theorie zu tun. Angela Merkel ist aber nicht Amtsnachfolgerin Karls des Großen, das sollten Historiker in ihrer Begeisterung nicht übersehen. Das Ende des Alten Reiches 1806 bedeutete eine Zäsur, die Reichsgründung bzw. die Errichtung des Norddeutschen Bundes schuf ein ganz anderes staatliches Gebilde. Man muss aufpassen, dass man unter den wohlfeilen Rahmenbedingungen der europäischen Integration diese historischen Brüche nicht einfach übersieht. Das Problem taucht in mehreren Beiträgen des Lesebuchs auf. So meint Andreas Klinger, das Alte Reich habe insgesamt über alle für das staatliche Funktionieren notwendigen Einrichtungen verfügt, nur eben nicht an einem einzigen Ort (73). Aber wo war denn die funktionierende Exekutive? Es spricht für die Herausgeber und erhöht den Wert des Bandes, dass der Widerspruch zu solchen Irreführungen postwendend erfolgt. Nur zwanzig Seiten später belegt Karl Härter, dass das Alte Reich keine Exekutivorgane besaß und man deswegen aus der Perspektive von Recht und Gesetzgebung kaum von einem Staat sprechen könne. Andere Streitstände lassen sich ebenfalls leicht erkennen. Für Axel Gotthard ging das Reich sang- und klanglos unter, Wolfgang Burgdorf möchte dagegen tiefstes Entsetzen der Zeitgenossen beobachten. Wenn Andreas Klinger süffisant fragt, „wer wollte bestreiten“, dass Berlin im 18. Jahrhundert „streng genommen“ zu den Hauptstädten des Reiches zählte (73), muss der Rezensent bekennen, dass er zu den Unverbesserlichen gehört, die weiterhin glauben, das Alte Reich habe gar keine Hauptstadt gehabt.

 

Der Anspruch, möglichst viele Facetten abzubilden, führt teilweise zum Verlust des Reichsspezifischen. Die Sektionen des Buches heißen: Was ist das Alte Reich? Wissensspeicher, das Alte Reich als Erfahrungsraum, das Alte Reich als politisches System, Gesellschaft, Wirtschaft und Religion. Der Sache nach geht es vielfach um Themen, deren spezieller Bezug zum Alten Reich unklar ist. So ist etwa Eigentum in keiner Weise für das Alte Reich spezifisch. Wenn Nicole Grochowina versucht, die Unterscheidung von Eigentum und Besitz auf ein Reichsgesetz, nämlich die Carolina von 1532, zurückzuführen, ist dies ebenso verfehlt wie die Vermutung, es habe „Diskurse“ über die Eigentumsfähigkeit von Frauen gegeben. Einen mittelalterlichen Eigentumsbegriff ohne „Impulse“ durch das römische Recht hat es im übrigen nie gegeben, und fahrende Habe ist keineswegs ein Synonym für immobile Güter (so aber 198). Enger am Alten Reich ist der Beitrag Georg Schmidts angesiedelt, der sich mit der sog. deutschen Freiheit beschäftigt. Aber das Alte Reich war eben nicht mit Deutschland identisch, die deutsche Nation, auf die der offizielle Name des Monstrums verwies, waren keineswegs alle Menschen, die innerhalb der weitgesteckten Reichsgrenzen lebten. Im übrigen ist es bedenklich, den Fürsten im Alten Reich das „monarchische Prinzip“ (117) zu unterstellen. Dieses Prinzip bedeutet gerade die Vereinigung der gesamten Staatsgewalt in der Person des Herrschers. Genau dies war vor 1806 ausgeschlossen, weil die deutschen Einzelstaaten keine volle Souveränität besaßen. Andere Beiträge des Bandes sind in ihrer Konzentration auf die Reichsebene exzellent. Stephan Wendehorst arbeitet das Verhältnis von Juden, Kaiser und Reich klar heraus, Martina Schattkowsky beleuchtet die Reichssteuern, Franz Brendle und Anton Schindling äußern sich zur Reichskirche.

 

Ärgerlich sind wie immer Ungenauigkeiten und Fehler im Detail, gerade für den sprichwörtlichen interessierten Laien, der keine andere Informationsmöglichkeit besitzt. Benedikt Carpzov als Leipziger Publizisten zu titulieren (23), ist für einen Rechtshistoriker schwer zu ertragen, und der zitierte Commentarius stammt auch von 1623 und nicht von 1640. Das Restitutionsedikt von 1629 erließ Ferdinand II. und nicht Friedrich II. (267). Friedrich III. wurde 1440 König und nicht 1314 (280). Auch war das Allgemeine Landrecht nicht die erste europäische Kodifikation (273), wenn man an Kreittmayrs bayerische Gesetzgebungen denkt.

 

Die Gesamtwürdigung fällt nicht leicht. Einerseits sind kurze Zusammenstellungen des Forschungsstandes hilfreich, um eine gewisse Breitenwirksamkeit zu erzielen. Die Jubiläumsausstellung „Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation“ hat das große Interesse am Thema deutlich bewiesen[1]. Die Berliner Ausstellung sowie der Essayband sind in ihrem thematischen Spektrum traditioneller und umgehen daher viele Probleme, denen sich das Lesebuch ausgesetzt sieht. Vielleicht ist es unvermeidbar, dass dort, wo gehobelt wird, Späne fallen, vor allem, wenn so viele Autoren beteiligt sind. Die Frage, wie man auf gedrängtem Raum ein möglichst perspektivenreiches Bild des Alten Reiches zeichnen kann, bleibt damit freilich im Raume stehen. Barbara Stollberg-Rilinger hat sie mit einer glänzenden Kurzmonographie beantwortet[2]. Was die „bibliothek altes Reich“ hierzu beitragen kann, werden die nächsten Bände der Reihe zeigen.

 

Münster                                                                                             Peter Oestmann



[1] Dazu der Essayband zur Neuzeit: Heinz Schilling/Werner Heun/Jutta Götzmann (Hrsg.), Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation 962 bis 1806. Altes Reich und neue Staaten 1495 bis 1806. Essays, Dresden 2006.

[2] Barbara Stollberg-Rilinger, Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation. Vom Ende des Mittelalters bis 1806, München 1806.