Kraus, Hans-Christof, Englische Verfassung und politisches Denken im Ancien Régime 1689-1789 (= Veröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts London 60). Oldenbourg, München 2006. XII, 817 S. Besprochen von Roland Kleinhenz.

 

Zu besprechen ist die Münchener Habilitationsschrift des an der Universität Passau neuere und neueste Geschichte lehrenden Verfassers.

 

Bevor sich Kraus der Darstellung des eigentlichen Themas widmet, versucht er in einem Kapitel „Fragestellungen“ die Weichen für die anschließende Analyse zu stellen. Nach zunächst sehr abstrakten Ausführungen über das Wesen der Staatsverfassung mit Rückblick bis in die Antike, werden die Fragen in bezug auf England dann präziser formuliert. Kraus geht richtig auf herausragende Begriffe ein, wie den der Mischverfassung (mixed constitution), den er zurückführt bis auf Polybios. Zu Recht betont er die Antikenbezogenheit der englischen Verfassungstheorie. Hier wäre zu ergänzen, dass in den Debatten im britischen Parlament des 18. Jahrhunderts -die leider nicht in die Darstellung einbezogen werden- sowohl häufig der Begriff der „mixed constitution“ auftaucht als auch antike Verfassungsbespiele (Rom, Griechenland) teils als Vorbilder teils als Ahnherren für das englische politische System namhaft gemacht wurden. Richtig wie interessant ist die Einbeziehung der Geostrategie für das Auseinanderdriften der Verfassungsentwicklung in Großbritannien einerseits und auf dem Kontinent andererseits. So hat die insulare Lage Großbritanniens entscheidend zu seiner relativen militärischen Unverwundbarkeit beigetragen (Kraus spricht insoweit den prinzipiell zutreffenden Lehrsatz an, je weniger Bedrohung von außen, umso mehr Freiheit nach innen). Hier wären zu ergänzen gewesen die Gegensätze zwischen Landmacht und Seemacht, ferner zwischen deutscher Vielstaaterei und britischem Einheitsstaat mit seinem wesentlich größeren außenpolitischen Einfluss. Die englische Außenpolitik des 18. Jahrhunderts war wesentlich von der Doktrin des Gleichgewichts der Kräfte (balance of power) geleitet. Auf dem Kontinent sollte es keine Vormacht geben, da dies zugleich eine Bedrohung Großbritanniens bedeutet hätte. Dies war eine zentrale Bedingung für das Gedeihen der englischen Verfassung und des ihr vorangehenden Freiheitsmythos. Mit dem Aufstieg Preußens nach 1815, letztlich aber erst mit der Gründung des Deutschen Reiches von 1871 stellte sich hier eine grundlegend neue Situation ein, deren Auswirkungen in diesem Rahmen aber nicht zu diskutieren sind.

 

Im zweiten Kapitel des ersten Abschnitts gibt Kraus einen Überblick über die englische Verfassungsentwicklung zwischen 1688 und 1789. Die Akzente der Darstellung sind durchweg gut und ausgewogen gesetzt. Das englische Schrifttum wird bis in die neueste Zeit weitgehend berücksichtigt. Zu beanstanden sind in der Darstellung nur marginale Fehler. So begann der letzte Jakobitenaufstand nicht 1746, sondern schon 1745 (S. 49). Die „Regency Act“ trat erst 1706, nicht schon 1705 (S. 49) oder erst 1707 (S. 62) in Kraft. Die Reform-Bill datiert nicht von 1830 (S. 60), sondern von 1831 (zum Gesetz wurde sie 1832). Lord Godolphin war nicht nur von 1704 bis 1710 Erster Schatzlord (First Lord of the Treasury), S. 50, sondern hatte dieses Amt zu folgenden Zeiten inne: 15. XI. 1690-30. X. 1696, 9. XII. 1700-29. XII. 1701 und sodann vom 8. V. 1702-9. VIII. 1710, s. Hayton/Cruickshanks, The History of Parliament, The House of Commons, 1690-1715, Cambridge 2002, Bd. I, S. 546/547). Außerdem kann er nicht als erster Premierminister bezeichnet werden (so Kraus, S. 50, unter Berufung auf ältere Forschung), sondern bildete zusammen mit dem Herzog von Marlborough ein sogenanntes „Führungsduumvirat“ (vgl. zutreffend Hayton, S. 454ff.).

 

Die eigentliche Untersuchung des Themas ist in zwei Abschnitte aufgeteilt. Zum einen geht es um das Bild der englischen Verfassung in England (Großbritannien) und Westeuropa (S. 71-308) und zum anderen, und hier liegt der erklärte Schwerpunkt des Werkes, in Deutschland (S. 309-697).

 

In der Regel stellt Kraus den Autor in einer kurzen biografischen Skizze vor und teilt die wesentliche Literatur zu Autor und Werk kommentierend mit. Anschließend gibt er die zentralen Aussagen und wesentlichen Leitsätze und Leitmotive des besprochenen Werks wieder. Am Schluss eines Kapitels erfolgt eine Zusammenfassung der Ergebnisse. Dieses System durchzieht die gesamte Studie. Die Masse der behandelten Autoren und Werke (etwa 140) und der sehr umfangreiche Anmerkungsapparat (über 3500 Anmerkungen), nebst einem Anhang über Quellen und Darstellungen von fast 100 Seiten, zeugen von einer stupenden Forschungsleistung.

 

Kraus untersucht als erstes Autoren zur englischen Verfassung bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts. Den Auftakt machen, scheinbar überraschend, hugenottische Theologen (Jurieu, Abbadie, La Combe de Vrigny). Diese von der religiösen Verfolgung des Roi Soleil (Ludwig XIV.) hart getroffene Gruppe preist einhellig den englischen Verfassungszustand von 1689, rechtfertigt die „Vertreibung“ König Jakobs II. vom englischen Thron und die Investitur des protestantischen Wilhelm von Oranien und hebt besonders den Zusammenhang zwischen religiöser und politischer Freiheit in England hervor. Zu Recht weist Kraus darauf hin, dass es diese Theologen waren, die die Diskussion um die englische Verfassung und damit natürlich im Gegensatz dazu, die des absolutistischen Frankreich, wesentlich angestoßen haben.

 

Im weiteren werden sodann die Werke von fast 30 Autoren bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts besprochen. Die Masse kommt aus Großbritannien und Frankreich, zwei sind Schweizer (Miege und Muralt). Fast alle sind Befürworter der englischen Verfassung. Kritik wird hie und da allenfalls an der politischen Praxis (Stichwort: Korruption, Wahlsystem) geübt. Die Hauptschlagworte, unter denen sich das Lob für die englische Verfassung findet, sind: Mischverfassung (Jurieu, Marquis of Halifax, Trenchard, Gordon, Miege, Thoyras, Bruzen de la Martinière, Toland, Bolingbroke), ferner die englische Freiheit und/oder synonym die protestantische Freiheit  (Nelson, Abbadie, Miege, Muralt, Thoyras, der junge Voltaire und Lyttelton), außerdem das Unterhaus als Garant der Freiheit (Mackworth, Muralt) und endlich eine germanisch-angelsächsische Urverfassung, auf die die aktuelle englische Verfassung von 1689 angeblich zurückverfolgt werden könne (Acherley, Thoyras). Die wenigen Gegner, allesamt Franzosen, kritisieren die Mischverfassung und betonen, dass es im Staat letztlich nur eine unhinterfragte Autorität geben kann, weshalb ständiger Kleinkrieg zwischen den drei Staatsgewalten herrsche (Bayle, d´Argenson, zeitweiliger Außenminister unter Ludwig XV, Le Blanc) und/oder üben scharfe Kritik an der Verfassungspraxis (vor allem Korruption und Wahlsystem), was ihr Urteil bestätige (Le Blanc) oder steigern sich zu der radikalen Aussage, dass man bei England von einer entarteten Monarchie, einer misslungenen Mischverfassung, sprechen müsse (Raynal).

 

Die Arbeit hätte noch mehr gewonnen, wenn Kraus bei den behandelten Politikern (George Savile, Marquis of Halifax, Sir Humphrey Mackworth und Henry St. John, Viscount Bolingbroke) die überaus gründlich recherchierten biografischen Artikel in den einschlägigen Bänden der monumentalen History of Parliament herangezogen hätte. So hat Mackworth bereits vor dem von Kraus besprochenen 1704 erschienenen Werk ein Pamphlet im Jahre 1701 unter dem Titel „Vindication of the Rights of the Commons of England“ veröffentlicht. Hier verteidigt er am konkreten Beispiel des Impeachmentverfahrens (Ministeranklage) aus demselben Jahr gegen die früheren Minister Wilhelms III., Lord Somers und andere, leidenschaftlich die Rechte des Unterhauses, bösartige Minister (evil ministers) anzuklagen und so ein Bollwerk für die Freiheit zu sein. Dieses Pamphlet von 1701 ging im Werk von 1704 auf, erlebte so eine Neuauflage (s. D. W. Hayton in der zitierten History of Parliament – The House of Commons 1690-1715, Band IV, S. 726-728). Bei Henry St. John (ab 1712 Viscount Bolingbroke und sodann Mitglied des Oberhauses) ist zu bemerken, dass er während der Regierungszeit Königin Annes nicht nur als Tory mehrfach Ministerämter innehatte (bereits mit 26 Jahren Kriegsminister und später Außenminister erst mit nördlicher, dann südlicher Zuständigkeit), sondern vor allem eine der schillerndsten Figuren im Unterhaus bis 1712 war, nicht zuletzt wegen seiner Redekunst (vgl. die ausführliche Biografie von S. Handley in der History of Parliament – The House of Commons 1690-1715, Band V, S. 339ff.).

 

Im Kapitel IV stellt Kraus dann sechs Autoren vor, die teils noch zu Lebzeiten zu Klassikern über die englische Verfassung wurden: Montesquieu, Blackstone, De Lolme, Hume, Paley und Filangieri. Zutreffend hebt Kraus bei Montesquieu hervor -überhaupt ist die Darstellung des Montesquieuschen Anliegens besonders gut gelungen -, dass es Montesquieu nicht um die Beschreibung der Verfassungswirklichkeit Englands um die Mitte des 18. Jahrhunderts ging, sondern um die idealtypische Erfassung der politischen Ordnung Englands, besonders im Rahmen des Zusammenhanges zwischen Recht und Freiheit. Es wäre noch zu erwähnen gewesen, dass Montesquieu in Großbritannien selbst kaum ein Thema war, während er die Diskussion um die Entstehung der Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika von 1787 und dann der französischen Verfassung einer konstitutionellen Monarchie von 1791 stark beeinflusst hat, die beide nicht dem englischen Modell folgten.

 

Allen Autoren ist gemein, dass sie entschiedene Verfechter der gemäßigten Verfassung Grossbritanniens einerseits und andererseits Antirepublikaner sind, die alles vermieden wissen wollen, was diese Verfassung gefährden könnte. Insgesamt ist dieses Kapitel mit großem Genuss zu lesen, weil es nicht nur über die seinerzeitige englische Verfassung nachdenklich macht, sondern über Modelle von Staatsformen allgemein und dem Streben nach perfekten Gemeinwesen im besonderen.

 

Im letzten Kapitel des Abschnitts zu England und Westeuropa behandelt Kraus Autoren und deren Werke der Zeit nach 1750, insgesamt 30. Hier wird gewissermaßen ein „buntes Bild“, im Vergleich zu den „Klassikern“ vorher, geboten. In einem Rahmen zwischen glühender Verehrung für die englische Verfassung einerseits und tiefster Ablehnung andererseits finden sich nahezu alle Schattierungen, mit den bekannten Argumenten des Für und Wider. Der mit dem Thema nicht vertraute Leser wird erstaunt sein, dass die englische Verfassung auf dieser Ebene so viele Kritiker fand und zwar nicht nur im grundsätzlichen, sondern vor allem in bezug auf die behaupteten praktischen Missstände. Die vom argumentativen Niveau, von der sogenannten Abstraktionshöhe, wie es Kraus treffend formuliert, herausragendsten Kritiker waren Jean-Jacques Rousseau und Jeremy Bentham, beide mit unterschiedlichen Begründungen, hier der Verfechter der unteilbaren Souveränität (Rousseau), dort der Positivist und Logiker, der den schwammigen Traditionalismus à la Blackstone bekämpft (Bentham). Daneben machen radikale Positionen im Pro wie im Contra stutzig wie nachdenklich. Hier die des schottischen Geistlichen John Brown, der laut Kraus zu den einflussreichsten Kritikern der englischen Verfassung gehörte, Bewunderer der französischen Monarchie war und am Beginn eines weltumspannenden Konflikts, des Siebenjährigen Krieges, nach einem „starken Mann“ rief - dieser wurde bekanntlich im älteren Pitt gefunden, der die Rolle künftiger Kriegspremiers vorwegnahm -. Dort die des anderen schottischen Geistlichen Robert Wallace, der die „limitierte Monarchie“ nach englischem Muster als perfekteste aller Regierungsformen pries. Natürlich war dann die Zeit des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges (1775-1783) geradezu prädestiniert für Kritik an der englischen Verfassung und man muss sich deshalb nicht wundern, wenn sie in dieser Zeit verstärkt geübt wird. Dabei ragt hier die einzige Frau in der damaligen Männerwelt der Politik heraus, die Kraus gebührend würdigt, Catherine Macaulay. Zentrale Punkte ihrer Kritik an der englischen Verfassungswirklichkeit (nicht an der grundsätzlich positiven gesehenen englischen Verfassung!), wie der Einfluss der Krone auf Wahlen zum Unterhaus, das Abstimmungsverhalten von Mitgliedern des Unterhauses und die viel zu lange Sitzungsperiode von 7 Jahren (nach der Septennial Act von 1716), wurden dabei, worauf hinzuweisen wäre, vielfach in der Bevölkerung ebenso gesehen, vor allem aber bei zahlreichen Abgeordneten des Unterhauses selbst. Hier ist auf die berühmte Resolution des Unterhauses vom 6. April 1780 hinzuweisen, in der beschlossen wurde, dass der Einfluss der Krone zugenommen hat, weiter zunimmt und vermindert werden sollte (Cobbett´s Parliamentary History, Bd. XXI, Sp. 367; dazu die interessante Bemerkung des später von Kraus behandelten Autors Wendeborn, S. 678 Anm. 243, der dies als Heuchelei abtat!).

 

Allgemein wird die englische Verfassung von den behandelten Autoren weit weniger als Vorbild angesehen als man annehmen könnte. Vorbehaltlose, ja fast devote Zustimmung, findet sich nur bei Robert Wallace, John Entick, einem Lehrer und dem Geistlichen Gabriel-François Coyer (dessen Werk 1781 in deutscher Übersetzung in Gotha erschien). Der spätere Voltaire ist zwar weiterhin ein Freund der englischen Verfassung, empfiehlt gleichwohl für Frankreich, unter Berufung auf das bekannte geostrategische Argument (Insellage), keine limitierte Monarchie nach englischem Muster, sondern eine aufgeklärte absolute Monarchie. Eine abschließende Randbemerkung zu diesem Kapitel: Der von Kraus als anonym bezeichnete Autor des 1763 in London erschienenen Werkes An Introduction to the Knowledge of the Laws and Constitution of England (siehe S. 233ff.), ist sehr wahrscheinlich ein gewisser Timothy Cunningham. Darauf wurde der Rezensent durch die Bibliothekarin der Rechtsschule (Inn of Court) des Middle Temple, London, Frau Satterley, freundlicherweise hingewiesen, wofür ihr an dieser Stelle nochmals gedankt wird. Sie verweist dabei auf einen Artikel von S. B. Chrimes, The Constitutional Ideas of Dr John Cowell, English Historical Review, Band LXIV (1949), S. 461ff., hier 477, und teilt zur juristischen Biografie Cunninghams - unter Verweis auf A Catalogue of Notable Middle Templars, 1902 - mit, dass dieser am 22. VIII. 1754 in die Rechtsschule des Middle Temple aufgenommen wurde und zahlreiche rechtliche Schriften verfasst habe, beispielsweise auch über die Inns of Court selbst (1780), dass aber ein Nachweis fehle, dass er als Anwalt zugelassen worden sei.

 

Der dritte Abschnitt befasst sich -als erklärter Schwerpunkt der Arbeit- mit „Deutschland“. Das erste Kapitel behandelt die Zeit zwischen der Glorreichen Revolution von 1688/89 bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts. Es werden die Werke von mehr als 20 Autoren besprochen, von Reiseschriftstellern über Landeskundlern bis zu Universitätsprofessoren. Eigene Unterkapitel werden Samuel Pufendorf und Gottfried Wilhelm Leibniz sowie einem der damaligen „Bestsellerautoren“, David Faßmann, gewidmet. Allgemein kann Kraus, im Gegensatz zu Annahmen der früheren Forschung, überzeugend nachweisen dass sich deutschsprachige Autoren sowohl stark mit der englischen Verfassung beschäftigten als auch sich über das dortige politische System gut informiert zeigen und es im wesentlich zutreffend schildern. Wichtigste Forschungserkenntnis dürfte dabei sein, dass die englische Verfassung nirgendwo als Vorbild für die Staaten, Fürstentümer und die sonstigen Herrschaftsgebilde im Heiligen Reich oder für andere Staaten Kontinentaleuropas gepriesen, sondern als eine zum Nationalcharakter der Briten passende Verfassung hingestellt wurde (Leibniz, Küchelbecker, Hoffmann, Schmeizel, Koehler), so wie für andere Länder andere Verfassungen geeignet seien. Des weiteren wird auch das bekannte geopolitische Argument der insularen Lage ins Feld geführt (Pufendorf, Fyhn, Franckenstein, Kemmerich, Schmeizel). Das im Vergleich zu den (absolutistischen) Verfassungen Europas Besondere, für Großbritannien aber gleichzeitig Konventionelle der englischen Verfassung wird überall gesehen: die Verankerung der Staatsgewalt in der Trinität von King, Lords und Commons, als Vereinigung der traditionellen Staatsmodelle Monarchie, Aristokratie und Demokratie und insbesondere die gegenseitige Beschränkung der drei Teilgewalten, die innere „balance of power“, ferner die Gebundenheit der Gewalten an Recht und Gesetz als Voraussetzung gegenseitiger Freiheiten. Es wird auch in bekannter Weise, wie bei den zuvor behandelten europäischen Autoren, Kritik an Einzelzuständen geäußert, wie etwa die Korruption bei den Wahlen zum Unterhaus, die Käuflichkeit der Abgeordneten oder die schädliche Wirkung der Parteien (Torys und Whigs). Der Wert der englischen Verfassung wird aber vielfach, wie Kraus anhand der Darstellungen bei Universitätsprofessoren der Hallenser Staatenkunde-Schule (Kemmerich, Schmeizel, Otto, Walch) nachweist, woanders angenommen, nämlich im außenpolitischen und konfessionspolitischen Bereich. Großbritannien soll mit dieser Verfassung, die die protestantische Thronfolge garantiert, in seiner antikatholischen Ausrichtung das Gleichgewicht der Kräfte auf dem Kontinent wahren, insbesondere die katholischen Mächte des Südens (Frankreich, Spanien, Habsburg) gegen den protestantischen Norden im Zaum  halten und so den Zustand nach dem Frieden von 1648 bewahren helfen. Da nur Autoren aus dem Norden, der Mitte und dem Osten des Heiligen Reichs behandelt werden, verwundert diese Einstellung allerdings nicht. Autoren aus dem deutschsprachigen Süden dürften sicher anders gedacht haben. Ein Bespiel eines solchen aus dem 17. Jahrhundert, des österreichischen Kameralisten Wilhelm von Schröder, hat Kraus selbst angesprochen. Mit Pufendorf und Leibniz sind zudem nicht nur zwei berühmte Autoren mit einbezogen worden, sondern vor allem zwei Praktiker, waren sie doch auch als politische Ratgeber (des Großen Kurfürsten bzw. der Kurfürstin Sophie von Hannover) aktiv. Beide stehen der englischen Verfassung insgesamt, wie übrigens alle in diesem Kapitel behandelten Autoren, nicht negativ gegenüber, befürworten aber nicht ein solches System, sondern eher die gemäßigte absolute Monarchie -dies als zweite bedeutende Forschungserkenntnis-. Umso interessanter wäre es noch gewesen und dies gilt über den gesamten untersuchten Zeitraum, Ansichten weiterer politischer Praktiker über die englische Verfassung zu untersuchen, insbesondere aus dem Bereich der ausländischen Gesandten in England. Denn diese bekamen hautnah eine entscheidende Eigentümlichkeit der englischen Verfassung mit, wenn sie die Debatten des Ober- oder Unterhauses besuchten, nämlich das „government by discussion“, die besondere Art der Entscheidungsfindung, die auf einem Niveau ablief, an das kein kontinentaleuropäischer Staat, ja wohl kein Staat in der Welt heranreichte. Dass zahlreiche Gesandte Debatten besuchten und sich Aufzeichnungen anfertigten, ist bekannt. In vielen Fällen sind solche Aufzeichnungen noch vorhanden, aber noch nicht ausgewertet (so Jeremy Black, Parliament and foreign policy in the eighteenth century, Cambridge 2004, S. 139ff.). Wenn auch die Aufzeichnungen häufig als eine Art der „Spionage“ für den heimischen Herrscher dienten, wäre es interessant zu erforschen, ob und wie darüber hinaus dieses „government by discussion“ von den Gesandten reflektiert und nachhause berichtet wurde und gegebenenfalls diese Berichterstattung weitere Wirkung gezeitigt hat.

 

Im Kapitel VII geht es um die Darstellung und Bewertung der englischen Verfassung nach 1750. Kraus stellt insgesamt 22 Autoren, davon drei anonyme, vor, hauptsächlich Juristen, Historiker/Staatskundler und Philosophen. Darunter befinden sich aber auch zwei bedeutende Kameralisten (Justi und Pfeiffer). Kraus weist überzeugend nach, dass ab 1750 das konfessionspolitische Argument, nämlich protestantisch-deutsche-angelsächsische Freiheit gegen katholisch-französischer-spanischer Despotismus, in den Hintergrund trat (nur noch vertreten von Kahrel, Reinhard und dem frühen Möser; die ersten beiden betonen ebenfalls als einzige die außenpolitische Dimension im Sinne der Erhaltung des europäischen Kräftegleichgewichts). Die Mehrheit der Autoren sieht die englische Verfassung zwar nach wie vor positiv, betont aber einerseits, dass sie eben spezifisch für die Briten geeignet sei, sich somit nicht, zumindest nicht unbesehen, für den „Export“ nach Kontinentaleuropa empfehle (so Vattel, der berühmte Völkerrechtler, Toze, Remer, Pfeiffer, Moser; nur der Marburger Universitätsprofessor Kahrel und der Jurist und Richter am Reichskammergericht von Goué sehen die englische Verfassung uneingeschränkt im Sinne einer Idealverfassung für alle Völker an; der Philosoph Hanov lehnt sie als Vorbild ab). Andererseits weist Kraus nach, dass nach 1750 - also ein Paradigmenwechsel - zunehmend Kritik an den Zuständen in Großbritannien, also der Verfassungswirklichkeit, geübt wird (es geht um die bekannten Stichworte, insbesondere Korruption bei Wählern und Unterhausabgeordneten, Wahlsystem, Parteien), die vor allem, wenn auch nicht nur, durch den amerikanischen Unabhängigkeitskrieg Auftrieb bekommt (zu nennen sind insbesondere: Büsching, Toze, Remer, Justi, Pfeiffer, Möser, Iselin). Mit am interessantesten an diesem Kapitel sind aber die Ansichten der politischen Praktiker David Georg Strube und Friedrich Carl von Moser, weil sie zu den bekannten Argumentationsmustern Neues beisteuern. So ist für Strube, den Politiker im Dienste Hannovers, entscheidend, dass eine gute Regierung durch die Trennung von Regierung und Rechtsprechung gewährleistet wird und, wenn dies gegeben ist, auch eine absolute Monarchie eine gute Staatsform sein kann. Offenbar konnte dies Strube aus eigener Anschauung des Kurfürstentums Hannover sagen (vgl. hierzu U. Dann, Hannover und England 1740-1760, Hildesheim 1986, S. 18, wonach Hannover unter Georg II., Kurfürst von Hannover und König von Großbritannien [1727-1760], „ein Rechtsstaat, wie nur wenige Monarchien des damaligen Europa“, war). Dem zeitweise in den Diensten des Landgrafen von Hessen-Homburg stehenden Juristen von Moser gebührt das Verdienst, die englische parlamentarische Streitkultur als bedeutendsten Vorzug gegenüber der deutschen Reichsverfassung erkannt zu haben, weshalb er den deutschen Landständen das englische Parlament als Vorbild empfehlen konnte. Hier bleibt nur die Formalie zu beanstanden, dass auf Seite 442, Anmerkung 251, die Jahreszahlen sinnentstellend falsch angegeben sind. Die richtigen Jahreszahlen lauten 1641 und 1649.

 

Im VIII. Kapitel kommen die Anhänger des aufgeklärten Absolutismus zu Wort, nachdem Kraus zunächst -sehr nützlich- die noch immer anhaltende Kontroverse um diesen Begriff darstellt. Es sind selbstredend alles Kritiker der englischen Verfassung, die vorgestellt werden. Am beeindruckendsten ist die Darstellung der Ansichten des Preußenkönigs Friedrich II., des Großen. Dieser König, den Kraus zu Recht als ersten Anwärter auf den Titel eines Philosophenkönigs ansieht (ebenso D. Beales, Philosophical kingship and enlightened despotism, in: The Cambridge history of eighteenth-century political thought, hg. v. M. Goldie und R. Wokler, Cambridge 2006, S. 497ff., dort S. 504; leider konnte dieses im August 2006 erschienene wichtige Werk von Kraus nicht mehr berücksichtigt werden), übt nicht nur Kritik an der Verfassungswirklichkeit Großbritanniens, sondern lehnt die englische Verfassung rundweg ab. Dies tut er mit einer Radikalität, die im Gegensatz zu allen vorangegangenen kritischen Autoren ihresgleichen sucht. Friedrich der Große entpuppt sich damit im wahrsten Sinne des Wortes als „Großkritiker“ der englischen Verfassung. Seine zentrale These ist, dass Großbritannien eine Ordnung „ohne System“ sei. Von der parlamentarischen Beredsamkeit, dem „government by discussion“, hält er nichts, es ist für ihn überflüssig. Von den Parlamentsreden ist er angewidert, nachdem er sich durch Gesandte einige hat übermitteln lassen. Insgesamt ist er ein glühender Verfechter der Alleinherrschaft des Monarchen, natürlich in dem (aufgeklärten, also) philosophischen Sinne, wie er es versteht, nicht eines Monarchen, der um seiner selbst willen da ist und darin den Zweck seiner Herrschaft sieht, sondern vielmehr als erster Diener des Staates. In der Praxis freilich ist Friedrich ganz Pragmatiker, wenn es gilt, zum Vorteil Preußens Bündnisse mit Großbritannien einzugehen und im Siebenjährigen Krieg Seite an Seite siegreich zu sein. Dass sein zeitweiliger Kabinettsminister Ewald Friedrich von Hertzberg ebenso wie Friedrich dachte und die Überlegenheit der absoluten Monarchie nach dem Stile des Großen Königs propagierte, verwundert nicht. Hier weist Kraus aber, wenn auch außerhalb des Zeitrahmens (1689-1789) liegend, ein gewisse Wendung Hertzbergs nach, die die französische Konventsverfassung von 1793, also die erste republikanische Verfassung Frankreichs, bei ihm verursachte und die zu einem deutlich günstigeren Urteil über die englische Verfassung führen sollte.

 

Kapitel IX, das über Göttingen, Hannover und den Norden handelt, zieht sich über fast 100 Seiten hin und hätte durchaus kürzer ausfallen können. Kraus stellt zunächst eine kurz nach Gründung der Göttinger Universität ab 1739 herausgegebene Rezensionszeitschrift, die „Göttingische Zeitungen von Gelehrten Sachen“, später „Göttingische Anzeigen von Gelehrten Sachen“, kurz: GGA, vor. Dort wurden zahlreiche Bücher, besonders zur englischen Verfassungentwicklung, Parlaments- und Revolutionsgeschichte, rezensiert und so in Deutschland bekannt gemacht, was das politische Denken über die englische Verfassung, wie Kraus mit Recht betont, beeinflusst haben dürfte.

 

Im Zentrum der folgenden Darstellung stehen dann die Ansichten bekannter Professoren, die an der 1737 gegründeten Göttinger Universität, der Georgia Augusta, gelehrt haben: Achenwall, von Haller, Schlözer, Spittler und Lichtenberg. Allen gemein ist ihr Lob der englischen Verfassung vom Grundsätzlichen her, mit mehr oder weniger Kritik im Detail und an den Zuständen der Verfassungswirklichkeit (mit den bekannten Phänomenen wie Bestechung der Unterhausabgeordneten oder Wahlsystem), vor allem aber die Verneinung einer Übertragbarkeit dieser Verfassung auf den europäischen Kontinent und dies ist, mit Kraus, ein besonders herausragendes gemeinsames Charakteristikum ihrer englischen Verfassungsrezeption. Am interessanten ist dabei zweifellos das Bild, das der Physiker Georg Christoph Lichtenberg von der englischen Verfassung entwirft, nicht nur weil er analytisch sehr stark ist, sondern vor allem vor dem Hintergrund persönlicher Erfahrungen, die er aufgrund zweier Englandaufenthalte, davon 1774/75 als Gast König Georgs III. (!), gesammelt hatte.

 

Herausragend ist die Darstellung über Ernst Brandes, den Kraus zu Recht als einen der besten deutschen Englandkenner seiner Zeit bezeichnet. Bedeutend ist die Darstellung Brandes über die englische Verfassung vor allem deswegen, weil er als Sekretär der Geheimen Kanzlei Hannovers ein Regierungssystem darstellt und dies durchwegs positiv, das sich doch grundlegend von dem des Kurfürstentums Hannover unterscheidet. Und Brandes tut dies mit einer analytischen Gründlichkeit, die ihresgleichen sucht, wie Kraus zu Recht hervorhebt. Brandes zieht dabei, was ihn von den meisten Autoren unterscheidet und gleichzeitig ihnen gegenüber auszeichnet, auch die Parlamentsdebatten zu beiden Häusern des Parlaments nach der Darstellung des Parliamentary Register heran (es werden dort die Verhandlungen des Oberhauses und Unterhauses ab 1774 wiedergegeben, s. J. Almon, The Parliamentary Register ...1774 to ... 1780, 17 Bände, London 1775-1780, fortgeführt ab 1781 von J. Debrett, weitere 45 Bände bis 1796). Am interessantesten dürften aus der deutschen Sicht schließlich die beiden Bemerkungen Brandes’ sein, in Deutschland werde das englische Parlament im Grunde genommen als Gegner der Krone angesehen (S. 613 Anm. 400) und so wie der dritte Stand in Deutschland konstituiert sei, könne hierzulande nicht an ein Unterhaus im Sinne des britischen gedacht werden (S. 615 Anm. 405).

 

Der Abschnitt über Deutschland schließt mit einem Kapitel X über die Englandrezeption zwischen amerikanischer und französischer Revolution. Kraus stellt zunächst aus dem populären Genre Reiseberichte und Landeskunden insgesamt zehn Autoren vor. Auffällig ist bei diesen Autoren, dass die meisten, auch bei positiver Grundeinstellung zur englischen Verfassung, doch relativ umfangreich die angeblichen Übel der Verfassungswirklichkeit herausstellen, wie das Problem der Bestechung von Wählern und Abgeordneten, das Parteiensystem oder die hohe Kriminalitätsrate (Volkmann, Fabricius, Büschel, Meyer). Allen Autoren, auch denjenigen, die keine Kluft zwischen Ideal und Wirklichkeit der englischen Verfassung sehen (hier ragt süffisanterweise der im österreichischen auswärtigen Dienst stehende Graf von Hartig durch seine scharfsinnige Analyse heraus), ist wiederum gemein, dass sie die englische Verfassung nicht zur Übernahme auf dem Kontinent, insbesondere nicht in Deutschland empfehlen. Von der Propagierung einer englischen Überlegenheit findet sich also nichts. Auch von den anschließend behandelten weiteren acht Autoren unterschiedlicher Provenienz empfiehlt kein einziger - gemeinsames Charakteristikum - die englische Verfassung zur Übertragung auf Deutschland oder andere Länder des Kontinents, bei mehrheitlich positiver Grundeinstellung zu dieser Verfassung und der gewohnten Kritik im Einzelnen an gewissen auch von anderen mehr oder weniger gescholtenen Phänomenen der Verfassungswirklichkeit. Besonders interessant und gelungen sind dabei die Darstellungen zu dem zeitweise in dänischen Diensten stehenden Publizisten und Dichter Helfrich Peter Sturz, dem ehemaligen Offizier Friedrichs des Großen, Schriftsteller und Zeitschriftenherausgeber Johann Wilhelm von Archenholz (eher bekannt durch seine Geschichte des Siebenjährigen Krieges) und dem Prediger und Publizisten Gebhard Friedrich August Wendeborn. Die beiden letztgenannten zeichnen sich dabei durch ihre jeweils aus ihren Erkenntnissen gezogenen pessimistischen Schlussfolgerungen für die Zukunft der englischen Verfassung aus. Damit sollten sie aber, wie andere Pessimisten auch, wie wir heute wissen, trefflich daneben liegen. Denn die englische Verfassung hat sich sowohl als äußerst beständig wie anpassungsfähig erwiesen und darin liegt wohl das wahre Geheimnis für ihren Erfolg wie für ihre Bewunderung bis heute, bei allem was in der jeweiligen historischen Periode daran zu kritisieren war oder zukünftig noch sein wird.

 

Den Abschluss des Werkes bildet der vierte Abschnitt, wo Kraus, nunmehr in trefflicher Kürze, in nur einem einzigen Kapitel XI seine Forschungsergebnisse vorstellt und seine eigene Schlussbetrachtung in einer großen Zusammenfassung präsentiert.

 

Sehr wünschenswert wäre es gewesen, den Diskurs über die englische Verfassung in den nordamerikanischen Kolonien vor, während und nach der Erhebung gegen die Britische Krone in die Untersuchung einzubeziehen (s. hierzu als neuere Zusammenfassung G. S. Wood, The American Revolution, in Goldie und Wokler, The Cambridge history of eighteenth-century political thought, S. 601f.). Von dort gingen bekanntlich starke Impulse über die politische Verfasstheit eines Staatswesens in der Art eines streng gewaltenteiligen Systems (mit den Gouverneuren der Einzelstaaten und dem Präsidenten des Bundesstaats als einer Art Ersatzkönige und den Senaten und Repräsentantenhäusern als Entsprechungen des britischen Ober- und Unterhauses) besonders auf die Diskussionen über die zukünftige Verfassung des Königreichs Frankreich in der französischen Nationalversammlung von 1789 aus. Dies ist ein historisch wie verfassungstheoretisch interessanter Fall einer Verfassungsrezeption zu dem Thema „englische Verfassung“ bis 1789. In der von Kraus geplanten zweiten Studie, die die Zeit bis Ende des 19. Jahrhunderts umfassen soll (S. 10 Anm. 41), sollte die Darstellung entsprechend erweitert werden. Ebenso sollten dort verstärkt die Ansichten über die englische Verfassung bei politischen Praktikern, Staatsoberhäuptern, Ministern, hohen Staatsbeamten, Gesandten und vor allem bei den ständischen Vertretungen/Parlamenten des Auslandes mit einbezogen werden, um ein ganzheitliches Bild von Theorie und Praxis zu erarbeiten. Gleiches gilt für die Einbeziehung parlamentarischer Debatten in Großbritannien und anderswo.

 

Insgesamt handelt es sich bei der besprochenen Schrift aber ohne Zweifel um eine beeindruckende Forschungsleistung. Kraus hat eine Art Handbuch zum Thema vorgelegt. Es wird in vielerlei Hinsicht zum Nachdenken und zu Spezialforschungen anregen, gerade weil das behandelte Thema viele Aspekte aus Verfassungslehre, allgemeiner Staatslehre, Recht, Geschichte, Politik, Religion, Landeskunde, um die wichtigsten zu nennen, berührt. Dem Werk ist weite Beachtung zu wünschen, auch im angloamerikanischen Raum.

 

Zahlreiche Druckfehler sollten bei einer zweiten Auflage beseitigt werden (der Rezensent hat über 100 gezählt).

 

Erfurt                                                                                                 Roland Kleinhenz