Humphrey, Michael, Die Weimarer Reformdiskussion über das Ehescheidungsrecht und das Zerrüttungsprinzip. Eine Untersuchung über die Entwicklung des Ehescheidungsrechts in Deutschland von der Reformation bis zur Gegenwart unter Berücksichtigung rechtsvergleichender Aspekte. Cuvillier, Göttingen 2006. 363 S. Besprochen von Arne Duncker.

 

Das materialreiche und gut gelungene Werk Humphreys zur Geschichte des deutschen Ehescheidungsrechts erschließt die Reformdiskussionen der Weimarer Republik unter Einbeziehung rechtsvergleichender sowie älterer rechtshistorischer Befunde. Der Haupttitel Humphreys spricht von den Diskussionen in der Weimarer Republik, der Untertitel von einem erheblich längeren Zeitraum von der Reformation bis zur Gegenwart. Dieser scheinbare Widerspruch klärt sich auf, wenn man berücksichtigt, dass zwar die Entwicklungen der Weimarer Republik einen zentralen Teil der Untersuchung bilden (S. 105-179 nebst weiteren Bezügen auf S. 180-242), die vielfältigen historischen und internationalen Vergleichsebenen aber den Gegenstand wesentlich erweitern.

 

Im Rahmen der „historischen Grundlagen der Weimarer Reformdiskussion“ (S. 15-105) geht Humphrey auf das kirchliche und staatliche Eherecht bis einschließlich zum Bürgerlichen Gesetzbuch von 1896 ein. In diesem Zusammenhang behandelt er das katholische und evangelische Eheverständnis, die Regelungen im preußischen und französischen Recht, die Herausbildung eines institutionellen Eheverständnisses im 19. Jahrhundert unter Berücksichtigung Fichtes und Savignys (hier wäre ein ergänzender Verweis auf die Begriffsbestimmung der Ehe bei Hegel denkbar gewesen), schließlich besonders ausführlich die Auseinandersetzungen um das Ehescheidungsrecht des BGB von 1896 unter besonderer Berücksichtigung der Diskussion auf dem 20. Deutschen Juristentag 1889. (Ergänzend hätte zum BGB - jenseits des traditionell überkommenen Quellenkanons - noch zumindest kurz auf das reformpolitische Schrifttum der älteren deutschen Frauenbewegung in den 1890er Jahren eingegangen werden können.) Das Erkenntnisziel der historischen Betrachtung bezieht sich Humphrey (S. 12) zufolge darauf, rechtsgeschichtliche Entwicklungslinien der Weimarer Reformdiskussion - namentlich zur Einführung des Zerrüttungsprinzips - offenzulegen, beispielsweise, inwiefern sie historische Vorbilder aufgreife oder neue Lösungsansätze entwickle. Was das Zerrüttungsprinzip angeht, so finde es sich um 1900 in Deutschland hauptsächlich in der damaligen Position der SPD vorbereitet.

 

Auf S. 105-179 werden die Reformdiskussionen der Weimarer Zeit geschildert, mit dem Bemühen um größtmögliche Detailtiefe und vollständige Verarbeitung der wichtigsten zeitgenössischen Quellen. Die Arbeit stellt hier zunächst die Positionen der politischen Parteien, Kirchen und Frauenverbände vor (wobei evtl. die Einordnung Marianne Webers auf S. 125 noch erläuterungsbedürftig wäre) und folgt sodann einer systematischen Gliederung. In dieser werden erst die damaligen Kritikpunkte am Verschuldensprinzip zusammengefasst und dann die Reformvorschläge erläutert. Wichtigster und zukunftsweisender Vorschlag war hier die Anerkennung einer Zerrüttung der Ehe als Scheidungsgrund. Daneben wurde gelegentlich auch die gegenseitige oder einseitige unüberwindliche Abneigung als Scheidungsgrund diskutiert. Diesen Reformvorschlägen werden die Positionen von Verteidigern des Verschuldensprinzips gegenübergestellt, welche ihrerseits auf Grundlage des Verschuldensprinzips eigene Vorschläge entwickelten, so z. B. eine Neuauslegung und Modifizierung von § 1567 BGB von 1896 (bösliche Verlassung). Es fällt auf (so Humphrey, S. 175), dass in der damaligen Literatur - gerade auch bei Vertretern des Zerrüttungsprinzips - die Tendenz besteht, das Scheidungsrecht in erster Linie aus den staatlichen Interessen heraus zu begründen und die gegebenenfalls entgegenstehenden individuellen Interessen unterzuordnen. Das Scheitern der Reform wird darauf zurückgeführt, es habe insgesamt an einem gesellschaftlichen Grundkonsens über die Änderung des Scheidungsrechts gefehlt (S. 178 f.). Namentlich das in allen Regierungen bis 1930 vertretene Zentrum habe hartnäckigen Widerstand geleistet und sei im Übrigen nicht die einzige ablehnende Kraft gewesen.

 

In einer umfassenden Würdigung der Reformvorschläge (S. 180-242) wird versucht, mögliche offene und verborgene Verbindungen zwischen den Vorschlägen der Weimarer Zeit und den älteren rechtshistorischen Befunden herauszuarbeiten. Hierzu wird jede der im einleitenden Teil untersuchten älteren Rechtsquellen, beginnend mit den kirchlichen Ehelehren und endend mit dem BGB von 1896, einer erneuten Betrachtung zugeführt und auf Querbezüge zur Reformbewegung geprüft. Der Begriff der Zerrüttung (Zerrüttungsprinzip als Leitmotiv der Reformvorschläge, S. 181) wird als wesentliche und - bis auf einen parlamentarischen Antrag der SPD von 1896 - in der älteren Rechtstradition noch nicht enthaltene Neuigkeit der Weimarer Zeit charakterisiert. Zusammenfassend (S. 229-241) stellt Humphrey drei zentrale Entwicklungslinien heraus, an welche die Weimarer Reformdiskussionen anknüpfen: Säkularisation des Eherechts, Rückbindung des rechtlichen Bestands der Ehe an den Bestand der tatsächlichen Lebensgemeinschaft sowie „Verinnerlichung“ des Eheverständnisses. Bei letzterem Punkt fällt angenehm auf, dass sich Humphrey in seiner familiengeschichtlichen Entwicklung der inneren Ehegattenbindung von monokausalen soziologischen Erklärungsmustern der 1970er Jahre löst und differenziertere Wertungen vornimmt (S. 239 f.).

 

Ebenfalls sehr erfreulich ist das rechtsvergleichende Kapitel (S. 243-273), in welchem das Schweizer und schwedische Ehescheidungsrecht in ihrer Bedeutung für die Entwicklung des Zerrüttungsprinzips in Deutschland untersucht werden. Gerade die in der deutschsprachigen familienrechtsgeschichtlichen Literatur oft vernachlässigte skandinavische Eherechtsentwicklung der Zeit um 1920 stellt ein ganz wichtiges Vorbild für die deutsche und gesamteuropäische Entwicklung dar, wobei noch erheblicher Aufklärungsbedarf besteht, inwieweit Regelungen des heutigen Familienrechts in letzter Konsequenz auch auf Vorbilder aus Skandinavien zurückgehen, möglicherweise zuerst vermittelt über Reformvorschläge in der Weimarer Republik. So ist es höchst begrüßenswert, wenn Humphrey am Beispiel des Zerrüttungsprinzips ausführlich die mögliche Einwirkung Skandinaviens untersucht. Freilich kommt er zu dem Ergebnis, sowohl die Schweizer Normvariante (Art. 142 ZGB) als auch die Formulierungen des schwedischen Ehegesetzes von 1920 seien nicht ohne weiteres mit den deutschen Reformvorstellungen gleichzusetzen, insgesamt hätten diese im übrigen eher dem Schweizer als dem schwedischen Vorbild geähnelt (S. 271f.). Gleichwohl muss hinzugefügt werden, dass zumindest die spätere Entwicklung des Zerrüttungsprinzips (1. EheRG v. 1976) erstaunliche Parallelen zum schwedischen Recht von 1920 aufweist.

 

Im weiteren Verlauf der Arbeit wird die Rechtsentwicklung nach 1933 unter dem Gesichtspunkt einer „Wirkungsgeschichte der Weimarer Reformdiskussion in Deutschland“ analysiert. Dies betrifft sowohl die NS-Zeit, namentlich das Ehegesetz von 1938 (vgl. S. 275-298), als auch das Scheidungsrecht in der Bundesrepublik Deutschland (vgl. S. 298-317). Das Ehegesetz von 1938 knüpft insoweit an frühere Reformvorschläge an, als es das Zerrüttungsprinzip einführt, freilich motiviert und flankiert durch spezifisch nationalsozialistische Motive und Regelungen: Leitmotiv des NS-Eheverständnisses sei der Gemeinschaftsgedanke gewesen, welcher die Ehe als dienendes Glied in das Volksganze eingeordnet habe (S. 294). Hinzu kommt eine bevölkerungspolitisch motivierte Erleichterung der Scheidung, wobei Humphrey mit Blick auf II 1 §§ 694-697 PrALR in Frage stellt, ob dieses Motiv von vornherein als nationalsozialistisch qualifiziert werden könne (S. 293f.). Die spätere Reformdiskussion in der Bundesrepublik Deutschland wird als „keine einfache Kopie der Weimarer Auseinandersetzungen, sondern deren Fortentwicklung in neuen politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen“ (S. 311) bezeichnet. Im Lauf der Zeit kommt es zu einer partei- und ideologieübergreifenden Anerkennung des Zerrüttungsprinzips (S. 319) und zugleich zu einer zunehmenden Scheidungshäufigkeit (vgl. Tabelle S. 336f.). Ob an die Stelle der alten Dauerkontroverse inzwischen ein weitgehender Konsens über das geltende Scheidungsrecht getreten ist (so S. 320), mag mit Blick auf die neuen Dauerbaustellen im Scheidungsfolgenrecht bezweifelt werden. Das Zerrüttungsprinzip selbst wird allerdings gegenwärtig kaum mehr in Frage gestellt.

 

Die detaillierte Gliederung (S. 4-8) ist exakt und übersichtlich gestaltet und bietet einen guten Einstieg in die Arbeit. Die aus den Fußnoten ersichtliche Bearbeitungstiefe ist eindrucksvoll und streckenweise vorbildlich (vgl. hierzu beispielhaft S. 181f., Fn. 1187f.; S. 258f., Fn. 1488-1493), namentlich werden die parlamentarischen Materialien sehr gut erschlossen. Angesichts der in der Arbeit verborgenen enormen - und sehr begrüßenswerten - Materialfülle wäre es sinnvoll gewesen, dem Werk ein Sach- und Personenregister beizufügen. Insgesamt handelt es sich bei Humphreys Werk um eine wichtige Untersuchung zur Familienrechtsgeschichte, der bleibender Wert zukommen wird und der eine weite Verbreitung zu wünschen ist.

 

Hannover                                                                                                         Arne Duncker