Megargee, Geoffrey, Hitler und die Generäle. Das Ringen um die Führung der Wehrmacht 1933-1945, aus dem Amerikanischen übersetzt von Nicolai, Karl. Schöningh, Paderborn 2006. XXIV, 306 S., 19 Abb. Besprochen von Bernd Rüthers.

 

Hürter, Johannes, Hitlers Heerführer. Die deutschen Oberbefehlshaber im Krieg gegen die Sowjetunion 1941/42 (= Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte 66) 2. Aufl. Oldenbourg, München 2006. VII, 719 S. Besprochen von Bernd Rüthers.

 

Hitlers Militärelite – oder: Die Vergänglichkeit von Geschichtsbildern[1]

I. Die Aktualität des Themas

 

Kaum ein Thema hat die Gemüter in der Nachkriegszeit so bewegt, wie die Fragen von Anpassung und Widerstand während der beiden deutschen Unrechtssysteme im 20. Jahrhundert.

 

Erfolgreicher Widerstand gegen eine etablierte Tyrannei setzt eine hinreichende Machtposition voraus. Hauptträger der Macht neben der Staatsgewalt ist in der Regel die Armee. Sie entscheidet in der Ausnahmelage mit ihrem Pro oder Contra über die Fortdauer eines Unrechtssystems und damit über den Bestand oder die Beseitigung der ihr dienenden Rechtsordnung. Mit jeder solchen Entscheidung machen die Militärs also nicht nur Geschichte, sie schaffen zugleich Rechtsgeschichte.

 

II. Die Rolle der Armeeführung nach 1933

 

Zur Frage, wie die Führungsspitze der Wehrmacht, also Hitlers Generale und Generalfeldmarschälle, zu seinen Kriegsvorbereitungen nach 1933 und zu seinem Angriffskrieg von 1939 bis 1945 eingestellt waren, liegen jetzt, neben der bereits vorhandenen umfangreichen Literatur, zwei neue Untersuchungen von einem Amerikaner und einem Deutschen vor. Sie können als Zusammenfassung und Bestätigung des derzeitigen Forschungstandes gelten. Beide tragen wesentlich zur Klärung der Rolle der Wehrmachtführung, insbesondere der Generalität, in dem spätestens seit 1938 sorgfältig geplanten und organisierten Angriffskrieg Hitlers bei.

 

G. Megargees Buch, das in Zusammenarbeit mit dem Militärgeschichtlichen Forschungsamt in Potsdam entstanden ist, räumt mit der lange verbreiteten Vorstellung auf, allein der größenwahnsinnige Führer Adolf Hitler habe ein zwar fachlich hoch qualifiziertes, aber politisch unkundiges, ja naives deutsches Offizierskorps gleichsam gegen dessen Vorstellungen und Absichten in einen nicht gewollten Krieg und dann in die Katastrophe geführt. In der deutschen militärischen Nachkriegsliteratur wurde zudem die Legende gepflegt, das Oberkommando des deutschen Heeres sei ein hochprofessionelles anti-nationalsozialistisches Gebilde gewesen. Es habe die Feldzüge mit fast automatischer Effektivität geplant und geführt, obwohl es das NS-Regime verabscheut habe. Deutschland hätte den Krieg gewonnen, wenn statt Hitlers, des „Gröfaz“ (des größten Feldherrn aller Zeiten), die Generäle die strategische Führung gehabt hätten. Typisch für diese Legende ist der Buchtitel, den der Generalfeldmarschall Erich von Lewinski, genannt von Manstein, seinen Kriegserinnerungen gegeben hat, nämlich „Verlorene Siege“[2]. Megargee weist nach, dass die Wehrmachtführung von Anfang an über die Grundzüge des Planes von Hitlers Angriffskrieg informiert war und bei dessen Planung und Durchführung ganz überwiegend überzeugt und bis zuletzt loyal mitgearbeitet hat.[3]

 

„Die Führungsstruktur der deutschen Wehrmacht ist noch blödsinniger, als die besten Generalstabsoffiziere sie erfinden könnten, wenn sie den Auftrag bekämen, die unsinnigste Kriegsspitzengliederung zu erfinden.“[4] Das sagte 1941 der junge Major i. G. Claus Schenk von Stauffenberg. Der amerikanische Historiker Megargee beweist in seiner kritischen Studie zur Geschichte der Wehrmachtführung, wie zutreffend Stauffenberg und vor ihm schon 1938 der Chef des Generalstabes Generaloberst Ludwig Beck die fehlerhafte Organisation und die konfusen Rivalitäten in der Wehrmachtführung erkannt hatten.

 

Megargee analysiert minutiös die Rivalitäten in dem Dreiecksverhältnis zwischen Adolf Hitler, dem Oberkommando der Wehrmacht (OKW) und dem Oberkommando des Heeres (OKH) sowie zwischen den einzelnen Wehrmachtteilen (Heer, Marine, Luftwaffe) und später der SS von 1933 bis 1945. Megargee zeichnet das wirre Kompetenzgerangel zwischen den konkurrierenden Institutionen und den handelnden Personen nach, welche die militärischen Entscheidungen im Krieg fällten. Er deckt auf, dass die grundlegenden Mängel und die fehlerhaften Strukturen in den höchsten Stellen die anfänglichen strategischen Vorteile der Wehrmacht zunichte machten. Zudem legt er dar, wie im Verlauf des Krieges ein Prozess der Entmachtung und der Selbstentmachtung der militärischen Führung der Wehrmacht zugunsten einer Monopolstellung Hitlers in einem kleinen Kreise willfähriger militärischer Lakaien höchster Rangstufe um sich griff.

 

Dieser Prozess begann am 30. Juni 1934. Die Reichswehrführung billigte und unterstützte den ersten geplanten Massenmord Hitlers. Der Führer berief sich auf einen angeblichen Putsch der SA-Führung, der nicht stattgefunden hatte. Es handelte sich um eine Killeraktion, eine Abrechnung des Reichskanzlers mit potentiellen Gegnern aller Schattierungen. Die Armeeführung hielt still, weil mit der SA-Führung eine gefährliche und zugleich verachtete Konkurrenz ausgeschaltet wurde. Meist wird übersehen, dass die Mordaktion sich nicht nur gegen die SA-Führung, sondern zu einem ganz erheblichen Teil gegen politische Gegner Hitlers in anderen Bereichen, nicht zuletzt gegen Führungspersönlichkeiten der katholischen Laienorganisationen und Funktionsträger in staatlichen Einrichtungen (ehemalige Ministerpräsidenten, Reichstagsmitglieder, Polizeipräsidenten, Rechtsanwälte, Journalisten) richtete. Die Reichswehr schaute ohne Gegenwehr zu, als Hitler dabei zwei ihrer Generale, den ehemaligen Reichskanzler Generalmajor Kurt von Schleicher (mit seiner Ehrfrau) sowie den Generalmajor Ferdinand von Bredow durch Spezialkommandos der SS ermorden ließ. Der Reichswehrminister Werner von Blomberg und sein Leiter des Ministeramtes und persönlicher Berater Walter von Reichenau glaubten, mit der Liquidation der SA-Führung würde die Monopolstellung der Wehrmacht als des „einzigen Waffenträgers der Nation“ wiederhergestellt. Wenige Wochen nach dem Putsch erhielt die SS die Erlaubnis, eigene bewaffnete Verbände aufzustellen. Dass sich die Drohung Hitlers, jedem, der die Hand gegen seinen Staat erhebe, werde es so gehen wie Röhm, unverkennbar auch an die Reichswehr richtete, nahm man dort hin.

 

Der Reichswehr war das Rückgrat gebrochen. Der mögliche militärische Widerstand gegen ein offenkundiges Unrechtsregime hatte in der ersten entscheidenden Prüfung versagt. Nach ihrer eigenen Tradition hatte diese Militärführung ihre Ehre verloren. Allerdings nicht nur sie. Die deutsche Staatsrechtslehre stand nicht nur schweigend dabei. Carl Schmitt, der neue „Kronjurist des Dritten Reiches“ stimmte seine Lobeshymne „Der Führer schützt das Recht“ an[5], obwohl unter den Ermordeten ehemalige Partner und Freunde waren. Schmitt hatte sich bis 1933 bevorzugt in katholischen Publikationsorganen (z. B. „Hochland“) zu Wort gemeldet. Unter den Toten waren Ministerialdirektor Dr. Erich Klausener, Leiter der Polizeiabteilung im preußischen Innenministerium und Vorsitzender der Katholischen Aktion in Berlin sowie Adalbert Probst, Reichsführer der katholischen Sportorganisation „Deutsche Jugendkraft“ mit über 200.000 Mitgliedern. Schmitt pries die Rettungstat des Führers als des deutschen Volkes „oberster Gerichtsherr“. Die katholischen Bischöfe schwiegen zu dem Mord an ihren führenden Laienrepräsentanten.

 

Der nächste Schritt folgte bald. Unmittelbar nach dem Tod des Reichspräsidenten von Hindenburg, am 2. August 1934 führte der Reichswehrminister von Blomberg aus eigenem Antrieb, ohne Absprache mit Hitler oder der Reichsregierung eine neue Eidesformel für die Reichswehr ein, die bis 1945 gültig blieb und insgesamt von etwa 19 Millionen deutschen Soldaten nachgesprochen wurde. Er ließ sie durch seinen Ministeramtsleiter, den damaligen Oberstleutnant Walter von Reichenau formulieren. Der hatte Hitler 1932 über seinen Onkel persönlich kennengelernt und hatte als überzeugter Nationalsozialist enge Kontakte zu führenden Parteigrößen. Die neue Eidesformel lautete

„Ich schwöre bei Gott diesen heiligen Eid, daß ich dem Führer des Deutschen Reiches und Volkes, Adolf Hitler, dem Oberbefehlshaber der Wehrmacht, unbedingten Gehorsam leisten und als tapferer Soldat bereit sein will, jederzeit für diesen Eid mein Leben einzusetzen.“

 

Der Eid war also in einem bis dahin ungekannten Ausmaß auf den Führer Adolf Hitler ausgerichtet. Das hatte später bei der Frage eines erlaubten Widerstandes gegen verbrecherische Befehle und Maßnahmen dieses Führers weitreichende Folgen.

Das Buch Megargees lässt keinen Zweifel daran, dass, ungeachtet aller Konkurrenzen und Reibungen in der Wehrmachtführung, die Generalität zunächst fast ausnahmslos den ideologischen Kriegszielen Hitlers und den von ihm angewendeten Methoden vorhaltlos zustimmte. Die Schuldfrage der Wehrmachtführung behandelt Megargee in einem anderen Buch.[6]

 

III. Die Rolle der Wehrmacht im Russlandkrieg

1. Der „Weltanschauungskrieg“ als Vernichtungskampf

 

Das Buch Johannes Hürters ist aus dem Forschungsprojekt des Instituts für Zeitgeschichte in München zur Rolle der Wehrmacht in der NS-Diktatur hervorgegangen. Es beschreibt die Motive und die Handlungsgrundsätze der Oberbefehlshaber der Wehrmacht, speziell des Heeres, im „Russlandfeldzug“ in den Jahren 1941/1942. Hitler hatte seine Ziele und Methoden in diesem Krieg am 30. März 1941, also 10 Wochen vor dem Angriff auf die Sowjetunion, den Befehlshabern der für das „Unternehmen Barbarossa“ vorgesehenen Verbände der Wehrmacht, besonders den Kommandeuren des Heeres, in einer mehrstündigen Ansprache in der Reichskanzlei ungeschminkt offengelegt. Sie sollten auf ein ungeheures Unterfangen eingeschworen werden. Er wollte einen „Weltanschauungskrieg“ und einen „Vernichtungskampf“ gegen die Sowjetunion, den bisherigen Partner des „Nichtangriffspaktes“, führen. Kritik oder gar Widerstand der Befehlshaber gegen die offen geforderten, ja befohlenen Verstöße gegen das Kriegsvölkerrecht seitens der versammelten Führungsspitze der Wehrmacht gab es nicht. Die ehedem konservative Militärführung ließ sich auf das Abenteuer einer verbrecherischen, rassistischen Weltherrschaftsideologie ein.

 

Hürter wählt einen interessanten Ansatz für seinen Forschungsbericht. Er beschreibt das Entstehen und das Verhalten einer militärischen „Sozialisationskohorte“ von 25 Oberbefehlshabern und Kommandeuren, schildert ihre soziale Herkunft, ihre militärische Karriere in der Kaiserzeit, in Weimar und nach 1933, ihre Erlebnisse von der Niederlage im Ersten Weltkrieg und der Revolution 1918 über Versailles, die ökonomischen, sozialen und politischen Zustände am Ende der Republik bis zur Aufrüstung unter Hitler. Die wirtschaftliche und soziale Entwicklung in Deutschland nach der „Machtübernahme“, die außenpolitischen Erfolge Hitlers und die Nachgiebigkeit der Westmächte bis 1939, der Nichtangriffspakt mit der Sowjetunion, dann die Siegeszüge in Polen, im Westen und in Skandinavien in den ersten Kriegsjahren bis zu dem als weiteren „Blitzfeldzug“ geplanten Russlandkrieg, die gelungene „Revanche für Versailles“, die militärischen Siege Hitlers bis 1941, das alles festigte in den Köpfen der Militärführung politisch-militärische Leitbilder einer künftigen Ordnung des Großraums Europa unter der Führung eines nationalsozialistischen deutschen autoritären Führerstaates. Der „Endsieg“ erschien als eine historische Selbstverständlichkeit. So rief auch Hitlers abenteuerliche Entscheidung, im Juni 1941 gegen alle Vernunft die Sowjetunion anzugreifen, keine Gegenwehr der Wehrmacht hervor. Die blieb selbst dann aus, als Hitler sechs Monate danach – der Vormarsch in Russland war schon in Schlamm und Eis stecken geblieben – den USA den Krieg erklärte. Allen Ernstes wurde ein Lied gesungen mit dem Refrain: „Jetzt nur noch England, Rußland USA, dann ist alles vorbei…“ Und so kam es ja dann auch.

 

2. Der organisierte und akzeptierte Völkermord

Die Mentalität der Heerführer Hitlers, ihre Bereitschaft seinen tollkühnen Kriegsweg vorbehaltlos mitzugehen und zu unterstützen, zeigt Hürter an der Rhetorik der Tagesbefehle der Oberbefehlshaber. Der Kampf gegen die Sowjetunion wird zum Kreuzzug gegen bolschewistisches Untermenschentum erklärt. Der Einsatz „rücksichtsloser Gewalt“ wird zum Leitmotiv nicht nur des militärischen Kampfes. Die Heeresführung wird in einem schleichenden Prozess von einer nationalkonservativen Elite in eine Komplizenschaft mit der nationalsozialistischen Rassenpolitik transformiert. Hürter schildert ausführlich das Verhalten der Oberbefehlshaber gegenüber dem organisierten Völkermord an den europäischen Juden in ihrem jeweiligen Befehlsbereich, vor allem auch die Mitwirkung und Duldung dieser Vorgänge durch die ihnen unterstellten Einheiten. Zugleich zeigt er die operative Kriegsführung in diesen Bereichen zur gleichen Zeit. Er weist nach, dass die Wehrmachtführung auch gegen die von „ihren Einheiten“ auszuführenden verbrecherischen Befehle aus dem Führerhauptquartier keinerlei Einwände erhoben hat.

 

Im Detail untersucht er auf einer breiten Quellenbasis, wie die Befehlshaber an der Ostfront mit solchen Befehlen umgegangen sind (S. 247-265). Schon in der Rede am 30. März 1941 hatte Hitler einen von rechtlichen Bindungen nicht gehemmten Terror hinter der Front angekündigt: Die Kommissare sollten „beseitigt“, die Kriegsgerichtsbarkeit eingeschränkt werden. Die „Anwendung brutalster Gewalt“ wurde zur Leitlinie der Kriegsführung im Osten erhoben. Von den Truppenführern wurde gefordert, etwaige rechtliche Bedenken zu überwinden. Das Oberkommando des Heeres übernahm die Forderung des Diktators auch nach vorbeugender Brutalität auch gegen die Zivilbevölkerung und trug sie in die Kommandobehörden des Ostheeres hinein (S. 248ff.).

 

Ausführlich beschreibt Hürter die Einstellung und das Verhalten der Oberbefehlshaber im Osten gegenüber dem organisierten Judenmord in ihren Befehlsbereichen und die Beteiligung der ihnen unterstellten Wehrmachtseinheiten (Kapitel II. 5, „Judenmord“, S. 508-599). Hier wird das in den Kriegserinnerungen der Generale und auch in der sonstigen Literatur lange sorgfältig gepflegte Märchen von der „Sauberkeit der Wehrmacht“ endgültig zu Grabe getragen. Die Mitwisserschaft der Befehlshaber im Osten von den Massenmorden hinter ihrer Front weist Hürter durch eine Fülle von Belegen zweifelsfrei nach. Das beweisen allein die „Arbeitsberichte“ der Einsatzgruppen, die das Wüten der SS und der Polizei bei der „Liquidierung von Juden und Kommunisten“ genau beschreiben. Sie wurden den Oberbefehlshabern des jeweiligen Bereiches zugeleitet und von ihnen abgezeichnet. Auch aus einer Vielzahl weiterer Quellen ist erwiesen, dass ihnen der organisierte Völkermord an den europäischen Juden, den ihre Einheiten deckten, bisweilen gar unterstützten oder dabei mitwirkten, genau bekannt war. Sie haben, mindestens durch ihre Duldung dieser Vorgänge, dabei mitgewirkt, dass aus vereinzelten Mordaktionen am Anfang des Russlandkrieges ein systematisch geplanter und vollzogener Völkermord werden konnte. Hürter belegt an vielen Beispielen eine Veränderung der politisch-moralischen Maßstäbe bei den maßgeblichen Militärs. Sie übernahmen im Laufe des „totalen Krieges“ zunehmend die rassenbiologischen Grundmuster Hitlers und der SS. Ihre Befehle ermöglichten die Umsetzung der Mordpläne der politischen Führung (S. 567ff.) Beispielhaft deutlich wird das an dem berüchtigten „Reichenau-Befehl“ vom 10. Oktober 1941. Der Oberbefehlshaber der 6. Armee, Generaloberst Walter von Reichenau, wurde regelmäßig in die jeweiligen  Mordpläne der Sicherheitspolizei eingeweiht. Zu keiner Zeit versuchte er, solche ihm bekannten Vorhaben zu verhindern. Unmittelbar nach dem bis dahin größten Massaker an den Juden von Kiev in der Schlucht von Babij Jar (29./30. September 1941, 33.771 Ermordete) gab von Reichenau einen Tagesbefehl aus, in dem er die Offiziere und Soldaten seiner Armee auf „die Notwendigkeit einer harten aber gerechten Sühne am jüdischen Untermenschentum“ einschwor und von seinen Soldaten. „volles Verständnis dafür“ verlangte (S. 581ff.). Dort heißt es u. a.:

 

„Der Soldat ist im Ostraum nicht nur ein Kämpfer nach den Regeln der Kriegskunst, sondern auch Träger einer unerbittlichen völkischen Idee und der Rächer aller Bestialitäten, die deutschem und artverwandtem Volkstum zugefügt wurden.“

Das war nichts anderes als ein Plädoyer für den Völkermord unter dem Schutz der Wehrmacht.

 

Mit seiner bedingungslosen Bejahung der völkerrechtswidrigen und verbrecherischen Kriegsführung im Osten stand von Reichenau nicht allein. Der Generalfeldmarschall Gerd von Rundstedt übermittelte bereits am 12. Oktober den Reichenau-Befehl im Wortlaut allen übrigen Kommandostellen seiner Heeresgruppe. Er erklärte sich mit dem Inhalt „voll einverstanden“ und empfahl ihn zur Nachahmung. Ähnlich radikale Befehle ergingen von Generaloberst Hermann Hoth (17. Armee) und General Erich von Manstein (11. Armee) im November 1941. Der Reichenau-Befehl und seine Nachfolger, welche die „Ausrottung der jüdischen Menschenklasse“ rechtfertigten, wurden zur Leitlinie („Musterbefehl“) der Behandlung von Juden hinter der gesamten Ostfront, auch im Bereich der Heeresgruppe Nord und Mitte unter den Generälen Georg von Küchler, Ernst Busch, Heinz Guderian und Erich Hoepner.

 

Hürter belegt mit einer Fülle von Dokumenten die Tatsache, dass es im Anschluss an den Reichenau-Befehl zu einer reibungslosen Zusammenarbeit zwischen der Armeeführung und den Einsatzgruppen der SS kam. So ließ etwa das Oberkommando der 11. Armee unter E. von Manstein den Mordkommandos der Sicherheitspolizei jede Bewegungsfreiheit und unterstützte sie bei ihrer inzwischen klar erkannten Hauptaufgabe, dem Völkermord an den Juden (S. 536ff., 549ff., 567ff., 596ff.). In dem Armeebefehl von Mansteins vom 20. November 1941 hieß es wörtlich:

„Das Judentum bildet den Mittelsmann zwischen dem Feind im Rücken und den noch kämpfenden Resten der Roten Wehrmacht und der Roten Führung… Das jüdisch-bolschewistische System muß ein für allemal ausgerottet werden… Für die Notwendigkeit der harten Sühne am Judentum, dem geistigen Träger des bolschewistischen Terrors, muß der Soldat Verständnis aufbringen.“

 

Die deutsche Ortskommandantur der Stadt Simferopol auf der Krim meldete dem Armeeoberkommando am 14. November 1941: „Die verbliebenen 11.000 Juden werden durch den S.D. exekutiert.“ Der Vollzug des Massenmordes verzögerte sich wegen Personalmangel. Der Oberbefehlshaber (von Manstein) forderte „aus der Judenaktion noch vorhandene Uhren für dienstliche Zwecke der Armee“ an. SS-Standartenführer Otto Ohlendorf, der die Mordaktion leitete, übergab der Armee 120 dieser Uhren und bot weitere 50 Uhren nach deren Reparatur an (S. 592). Das Buch Hürters führt den Beweis, dass ein Großteil der Generalität der Wehrmacht bald nach dem Beginn des Russlandkrieges zu einem Instrument und Mittäter des verbrecherischen NS-Regimes geworden war. Die Armeeführung war selbst in die Verbrechen des Regimes verstrickt. Vielleicht erklärt sich auch daraus die Tatsache, dass an der Verschwörung des 20. Juli 1944 nur eine kleine Minderheit hoher Offiziere beteiligt war. Die übrigen haben diesen Krieg auch dann noch unter ungeheuren Menschenopfern fortgeführt, als er, für jedermann erkennbar, längst verloren war. Deutlich wird das an der Zahl der täglichen deutschen Kriegstoten. Sie betrug in der Zeit vom 21. Juli 1944 bis zum 6. Mai 1945 täglich 16.641 Kriegstote, davon 6.814 Soldaten und 9.827 Zivilpersonen.[7]

 

Verloren sie ihr Leben, wie die seitenlangen Todesanzeigen suggerierten, „für Führer Volk und Vaterland“? Oder waren sie Opfer der Uneinsichtigkeit einer charakterlos gewordenen Generalität, die in blindem Gehorsam ein ganzes Volk dem Verderben einer verbrecherischen Kriegsführung preisgab? Kennzeichnend für diesen Zynismus gegenüber ihren Soldaten und ihrem Volk, aber auch für die eigene Verstrickung in die NS-Verbrechen, ist das bereits erwähnte Treuegelöbnis das die Generalfeldmarschälle des Heeres (Busch, Kleist, Rommel, Rundstedt und Weichs) noch am 19. März 1944 gegenüber dem Führer Adolf Hitler abgelegt haben.[8]

 

Die hier ins Bewusstsein gehobenen historischen Fakten können auch das Gesamtbild des militärischen Widerstandes neu prägen. Wie war es möglich, dass eine durch die Jahrhunderte traditionell auf Ehre, Ritterlichkeit, Rechtsgefühl, Menschlichkeit und Verantwortung vor Gott eingeschworene Militärelite sich in einem solchen Ausmaß von einem Gefreiten des ersten Weltkrieges verführen und missbrauchen ließ?

 

Die tradierte Ehre preußischen Soldatentums sah anders aus. Der preußische General der friderizianischen Epoche Johann von der Marwitz (1723-1781) bekam von Friedrich II. (dem Großen) im Siebenjährigen Krieg das vom ihm eroberte Jagdschloss der Kurfürsten von Sachsen Hubertusburg geschenkt mit dem Befehl, es gründlich zu plündern. Auf die Aufforderung des Königs, das wertvolle Mobiliar wegzuschaffen, antwortete Marwitz „es würde sich allenfalls für den Offizier eines Freibataillons schicken, nicht aber für einen Kommandeur Seiner Majestät Gensdarmes“. Er weigerte sich und ersuchte um den Abschied aus der Armee. Auf seinen Grabstein ließ er schreiben:

„Er wählte Ungnade, wo Gehorsam nicht Ehre brachte.

 

Die Armeeführer der Heeresgruppen Nord, Mitte und Süd an der Ostfront zeichneten Befehle zu Massenmorden ab, gaben sie weiter. Sie duldeten und förderten den Völkermord in ihrem eigenen Befehlsbereich. Keiner nahm von sich aus den Abschied. Als sie von ihrem verbrecherischen Kriegsherrn, in seinen Augen als Versager, abgelöst wurden, ließen sie sich von dem Oberbefehlshaber des Völkermordes Orden verleihen (E. Busch im August 1943 das Eichenlaub zum Ritterkreuz; von Manstein und von Kleist im März 1944 das „Eichenlaub mit Schwertern“ zum Ritterkreuz; Model im August 1944 die Brillanten zum Eichenlaub mit Schwertern; von Weichs im Februar 1945 das Eichenlaub zum Ritterkreuz; von Rundstedt im Februar 1945 – nach der gescheiterten „Rundstedt-Offensive“ in den Ardennen – die Schwerter zum Eichenlaub.

 

Beide Untersuchungen legen grundsätzliche Fragen der deutschen Mentalitätsgeschichte nahe.

 

Wie ist es zu erklären, dass eine ganze Generation von hochrangigen Militärexperten, herangewachsen und ausgebildet in der Tradition einer Kulturnation und in Leitbildern von Anstand, Ehre, Christentum und Menschlichkeit, in der kurzen Frist von zwölf Jahren in die Komplizenschaft mit einem verbrecherischen Regime und zur Mitwirkung an so unglaublichen Grausamkeiten wie dem Völkermord an den Millionen europäischer Juden verführt werden konnte? Die meisten dieser Armeeführer, die an Hitlers „Vernichtungskampf“ bis zum Ende teilnahmen, stammten aus „besten Familien“ des preußischen Adels mit alter Offizierstradition.

 

Damit wird ein Nachdenken über das gängige deutsche Geschichtsbild der Armee in der NS-Zeit notwendig. Beide Bücher legen es nahe, hinter der Faktengeschichte nach der Mentalitätsgeschichte der deutschen Militärelite zu fragen. Was waren die mentalen Strukturen jener Jahrgänge, die im OKW und im OKH, aber auch in den Reihen der Oberbefehlshaber an den Fronten den in den beiden Büchern belegten Vorgängen weitgehend widerstandslos zugeschaut, ja sie mitverantwortet haben. Warum wurde der Widerstand derer, die als Träger militärischer Macht möglicherweise in der Lage gewesen wären, das Regime rechtzeitig zu stürzen, erst mit dem Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 sichtbar?[9] Hatten am 9. November 1938 in Deutschland nicht, für jedermann sichtbar mehr als 200 Synagogen in fast allen deutschen Städten gebrannt? Waren an diesem Tag nicht viele Tausende jüdischer Geschäfte und Zehntausende jüdischer Wohnungen für jedermann sichtbar, verwüstet worden? Der staatliche organisierte Landfriedensbruch, die schwere Brandstiftung an Hunderten von Gotteshäusern, die Verbrechen an unschuldigen deutschen Bürgern nur ihrer Rasse wegen riefen keinen Protest der Wehrmachtführung, keinen Aufstand anständiger Generale hervor. Die religiöse Toleranz Friedrichs des Großen und der preußischen Tradition wurde sehenden Auges verraten.

 

Aber auch die Kirchenleitungen der beiden christlichen Konfessionen sagten zu den Verfolgungen und Brandschatzungen des 9. November 1938 kein öffentliches Wort.

 

Die meisten der militärischen Verschwörer hielten den NS-Staat erst seit ihrer Kenntnis von dem hinter der Front im Osten seit 1941 praktizierten Massenmord an den europäischen Juden, an dem auch ihre Generale und Generalfeldmarschälle der Wehrmacht wissend beteiligt waren, für ein verbrecherisches Regime, dem sie nicht länger dienen und das sie beseitigen wollten. Viele von ihnen waren vorher überzeugte Nationalsozialisten gewesen. Unter den Verschwörern waren wenige Generale, kein Generalfeldmarschall. Alle darauf angesprochenen Feldmarschälle hatten sich verweigert. Die Hauptgruppe der zum aktiven Widerstand Bereiten hatte Ränge vom Obristen abwärts. Die meisten waren jung. Oberst von Stauffenberg, der die Bombe legte, war 37 Jahre, der Hauptmann Friedrich-Karl Klausing, sein Adjutant, der mit gleichaltrigen Kameraden die „Aktion Walküre“ in der Bendlerstraße auslöste und vorher bei mehreren Attentatsversuchen mitwirkte, 24 Jahre alt.[10]

 

Die Legende von der Unwissenheit der Wehrmachtsführung über das Ungeheuerliche, was mit ihrer Hilfe hinter ihrer Front im Osten, aber auch in anderen besetzten Ländern geschah, wird durch Hürters Buch gründlich widerlegt. Die Armeeführung wusste bald nach dem Beginn des „Russlandfeldzuges“ alles, was dort geschah. Allein die Einsatzgruppe A von 100 Mann unter dem SS-Brigadeführer und Generalmajor der Polizei Walter Stahlecker meldete im Winter 1941 den Mord von 249.420 Juden nach Berlin. Ihre Einsätze waren jeweils mit der Heeresgruppe abgestimmt, in deren Befehlsbereich sie stattfanden.

 

Die unteren Ränge und die Mannschaften kannten nur das, was ihnen an der Front und in der Etappe durch eigene Beobachtungen und Erzählungen von Kameraden bekannt wurde. Aber auch der Bevölkerung daheim wurde aus Feldpostbriefen und Berichten im Urlaub manches von den Greueln bekannt. Dazu trugen nicht zuletzt die Erlebnisse der vielen Bediensteten der Reichsbahn bei, welche die Massendeportationen der europäischen Juden in die Vernichtungslager zu organisieren hatten.

 

Die beiden Bücher sind geeignet, das Bild der Deutschen von der Rolle der Wehrmacht als Instrument des NS-Regimes und vom Verlauf des Zweiten Weltkrieges nachhaltig zu korrigieren. Viele der beschriebenen Tatsachen sind der historischen Fachwelt durch zahlreiche Einzeluntersuchungen seit langem bekannt. Der Wert der beiden Publikationen liegt in der materialreichen, beweiskräftigen, gut lesbar geschriebenen Zusammenschau der Ereignisse. Die Lektüre lässt den Leser jedenfalls zutiefst nachdenklich zurück.

 

Angesichts der überzeugenden Beweislage erscheint es verwunderlich, wie lange sich in breiten Kreisen der Bundesrepublik, nicht zuletzt aber auch in den Führungsschichten der Bundeswehr, das Märchen von der angeblich „sauberen“ Wehrmacht. halten konnte. Hier wird man künftig unterscheiden müssen. Für die Generalität ist eine solche Vorstellung nach den erwiesenen Fakten offenkundig falsch. Die Oberbefehlshaber wussten um die verbrecherischen Ziele und Methoden der Kriegsführung. Ferner wussten sie spätestens seit 1943, dass dieser Krieg verloren war, seine Fortsetzung sinnlose Menschenopfer forderte. Den unteren Rängen des Offizierskorps und den Mannschaften war das nur dann bekannt, wenn sie mit den genannten Fakten durch eigene Anschauung oder verlässliche Informationen konfrontiert waren.

 

Für Juristen hat das Bild der Militärelite Hitlers noch einen anderen Bezugspunkt. Hat die Mentalitätsgeschichte der Armeeführung vielleicht Analogien oder Parallelen zu den Vorstellungen von der Disziplingeschichte der Justiz und der Jurisprudenz in den beiden deutschen Diktaturen des vergangenen Jahrhunderts? Beide Institutionen – Armee und Rechtsapparat – arbeiten als Instrumente und Partner des jeweiligen politischen Systems und sind ihm, überwiegend kraft des Amtseides, zu Loyalität und Unterstützung verpflichtet. Beide verwirklichen mit ihren Maßnahmen in Krieg und Frieden politische Willensentscheide der jeweiligen Staatsführung. Die Geschichte der Militärelite im NS-Staat ist ein Anstoß für Juristen, kritisch darüber nachzudenken, welche Rolle ihre Eliten in den genannten totalitären Systemen gespielt haben und wie Wiederholungen vorgebeugt werden könnte. Vielleicht können wir ja – mit Petrarca und Cicero und entgegen manchen modernen Theoretikern – doch etwas aus der Geschichte und der Erfahrung lernen.

 

Konstanz                                                                                            Bernd Rüthers



[1] Inzwischen ist zu diesem Thema noch auf ein weiteres Buch zu verweisen: K.-H. Frieser/K. Schmider/K. Schönherr/G. Schreiber/Kristián Ungváry/B. Weber (Hrsg.), Die Ostfront 1943/44. Der Krieg im Osten und an den Nebenfronten (Das deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Band 8), Deutsche Verlagsanstalt, München 2007. 1350 S., dazu: J. Hürter, Choreographie des Untergangs, FAZ vom 22. 5. 2007, S. 11.

[2] E. v. Manstein, „Verlorene Siege“, 1955. Welche Rolle hätte der Marschall wohl bei errungenen Siegen gespielt? Welches Schicksal hätte Deutschland gehabt? Immerhin wurde er ab 1960 (er war zunächst zu 18 Jahren Haft verurteilt, 1953 aber vorzeitig entlassen worden) Berater der Bundesregierung beim Aufbau der Bundeswehr und wurde bei seinem Tod 1973 „mit militärischen Ehren“ beigesetzt.

[3] Beispielhaft ist auch hier von Manstein zu erwähnen. Dieser hat noch am 19. März 1944, als der Krieg, wie alle Kundigen wussten, längst verloren war, mit anderen Generalfeldmarschällen des Heeres (Busch, Kleist, Rommel, Rundstedt und Weichs) ein feierliches „Treuegelöbnis“ zu Adolf Hitler unterzeichnet (vgl. E. Kosthorst, Die Geburt der Tragödie aus dem Geist des Gehorsams, 1998, S. 195f.). Derselbe von Manstein brachte am 19. Januar 1945, die Ostfront war zusammengebrochen und sowjetische Einheiten standen bereits in Ostpreußen und Schlesien, bei der Hochzeit seiner Nichte Maria von Loesch im privaten Kreis einen Toast auf „unseren Führer“ aus (vgl. Maria Frisé, Meine schlesische Familie und ich, 2. Aufl., 2007, S. 146). Vgl. die Schilderung derselben Szene durch den Adjutanten von Mansteins A. Stahlberg, Die verdammte Pflicht, 5. Aufl., 1995, S. 411ff.

[4] U. de Maizière, In der Pflicht, 1989, S. 74.

[5] C. Schmitt, Der Führer schützt das Recht, Deutsche Juristenzeitung 1934, 945ff.

[6] [6] Vgl. Geoffrey P. Megargee , War of Annihilation: Combat and Genocide on the Eastern Front 1941, 2006

 

[7] A. Stahlberg, Die verdammte Pflicht, 5. Aufl. 1995, S. 457.

[8] Der Generalfeldmarschall Gerd von Rundstedt übernahm noch im Dezember 1944 den Oberbefehl über die von Hitler geforderte, militärisch wie politisch unsinnige Ardennen-Offensive, an der auf deutscher Seite mehr als 200.000 Soldaten teilnahmen. Sie brach bereits am 21. Januar kläglich zusammen, nach großen Verlusten auf beiden Seiten (67.675 Deutsche; 87.559 Amerikaner).

[9] Vgl. Geoffrey Megargee, War of Annihilation: Combat and Genocide on the Eastern Front 1941, 2006

 

[10] B. Rüthers, Spiegelbild einer Verschwörung, JZ 2005, 1689 ff.