Hetzenecker, Andreas, Stephan Kuttner in Amerika 1940-1964. Grundlegung der modernen historisch-kanonistischen Forschung (= Schriften zur Rechtsgeschichte 133). Duncker & Humblot, Berlin 2007. 479 S. Besprochen von Gerhard Köbler.

 

Nicht die literarische Produktion eines Gelehrten, so stellt der Verfasser überzeugend fest, entscheidet an sich über seine Wirkung, letztlich kommt es auf die Vermittlung an. Aus dieser Erwägung heraus unternimmt er in seiner Studie keine nähere Darstellung und Würdigung von Kuttners wissenschaftlichem Werk in Form seiner zahlreichen, meist kleineren Veröffentlichungen, wie es unter anderen Peter Landau sachkundig beschrieben hat. Er betrachtet vielmehr den aufbauenden und interaktiven Teil seines beruflichen Wirkens in Amerika in Gestalt der wissenschaftsorganisatorischen und wissenschaftskommunikativen Leistungen.

 

Gleichwohl stellt er im einleitenden ersten Teil zunächst das Leben und Werk Stephan Georg Kuttners vor, der in Bonn am 24. März 1907 in einer protestantischen Familie jüdischer Herkunft geboren wurde. Sein Vater (Georg Kuttner) war zunächst Richter in Bonn, 1909 Privatdozent der Universität Berlin und seit 1914 Professor für bürgerliches Recht und Zivilprozessrecht der damals gerade gegründeten Universität Frankfurt am Main. Bereits 1916 schied er aus dem Leben.

 

Nach dem Abitur in Frankfurt am Main 1925 studierte Kuttner Rechtswissenschaft in Frankfurt am Main, Freiburg im Breisgau und Berlin, wo er schon 1928 mit 21 Jahren die erste juristische Staatsprüfung bestand und 1930 als Assistent Eduard Kohlrauschs auf Grund einer Untersuchung über die juristische Natur der falschen Beweisaussage promoviert wurde. Danach wandte er sich Ulrich Stutz zu und unternahm mit Unterstützung der Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft vor allem in Italien ausgedehnte Handschriftenstudien für eine strafrechtsgeschichtliche Habilitationsschrift. Als im Januar 1933 Adolf Hitler in Deutschland die Macht übernahm, wurde eine Verwirklichung dieses Planes in Deutschland und anschließend auch in Zürich unmöglich.

 

Kuttner trat zur katholischen Kirche über und ging nach seiner Verheiratung mit Eva Illch im August 1933 zwecks Erforschung der kanonistischen Handschriften aus der Zeit zwischen 1140 und 1234 nach Rom. Dort erhielt er auf Fürsprache Ulrich Stutzs und des Kardinalstaatssekretärs Eugenio Pacelli (Pius XII.) durch Förderung Papst Pius’ XI. im Januar 1934 eine Stelle an der Biblioteca Apostolica Vaticana mit der Aufgabe, ein Corpus Glossarum zum Decretum Gratiani und den älteren Dekretalensammlungen anzufertigen. Daraus erwuchs nach der 1935 veröffentlichen systematischen Darstellung der Schuldlehre von Gratian bis auf die Dekretalen Gregors IX. 1937 das mehr als 1100 Handschriften kritisch klassifizierende Repertorium der Kanonistik (1140-1234), auf dessen Grundlage er unmittelbar eine Professur am päpstlichen Institutum utriusque iuris erhielt.

 

Als ihm 1940 auch in Italien Gefahr drohte, wurde auf persönliche Verwendung des Papstes ein Ruf an die 1887/1889 vom katholischen Episkopat der Vereinigten Staaten von Amerika gegründeten Catholic University of America in Washington arrangiert. Dort begann er im Herbst 1940 als Visiting Professor des mittelalterlichen kanonischen Rechts, das in Amerika so gut wie unbekannt war, und wurde im Februar 1942 erster Laienprofessor mit einer ständigen Vollprofessur mit einem Jahresgehalt von 3600 Dollar für seine bemerkenswert wachsende Familie. Trotz unermüdlicher Bemühungen in den Zeitschriften The Jurist, Seminar und Traditio war ihm lange Zeit kein durchschlagender Erfolg beschieden.

 

Immerhin gelang mit einiger Verspätung der für 1940 geplante Kongress zu Gratian in Bologna 1952, auf dem Kuttner mit Unterstützung des Papstes zur Gründung einer Organisation für die Inangriffnahme einer kritischen Ausgabe der maßgeblichen kanonistischen Literatur berufen wurde, was 1955 zur Schaffung des von einem kleinen Kreis in Washington getragenen Institute of Research and Study in Medieval Canon Law führte. 1958 kam es zu einem Congrès de Droit Canonique Médiéval in Löwen, 1963 zum Second International Congress of Medieval Canon Law in Boston. Diese Aktivitäten führten 1962 zu einer von Goetz Briefs in Washington und Helmut Coing in Frankfurt am Main vermittelten Förderung durch die deutsche Fritz Thyssen Stiftung, mit der Stephan Kuttner die stetigen drängenden Finanzierungsprobleme dauerhaft lösen konnte.

 

Als Folge dieser Anerkennung seiner Mühen konnte er 1964 an die Universität Yale in New Haven in Connecticut und 1970 mit 63 Jahren an die University of California in Berkeley wechseln. Damit war er nicht nur in Europa, sondern auch in den Vereinigten Staaten von Amerika anerkannt. Seitdem galt er allgemein als der größte Forscher des 20. Jahrhunderts auf dem Gebiet der Geschichte des kanonischen Rechts.

 

Sein geistiges Erbe ist zu großen Teilen an Peter Landau in München gelangt. Er hat den Verfasser mit der Nachzeichnung eines Teiles der Lebensgeschichte Kuttners und der damit verbundenen amerikanischen Wissenschaftsgeschichte auf der Grundlage der erhaltenen beruflichen Briefwechsel betraut. Zu diesem Zweck hat der Verfasser sorgfältig und selbständig vor allem rund neun Regalmeter Korrespondenz (u. a. mit Gaines Post, Schafer Williams, Brian Tierney, John W. Baldwin, J. Joseph Ryan, Robert L. Benson, John F. Kenney, Robert Brentano und F. Donald Logan) durchgearbeitet.

 

Dabei konnte er überzeugend zeigen, dass die Rechtsgeschichte in den Vereinigten Staaten von Amerika vor Kuttner eigentlich ohne Bedeutung war, so dass er Kuttner als Lichtblick in einer rechtshistorischen Wüste bezeichnen kann. Weiter konnte er einleuchtend darauf hinweisen, dass Kuttner trotz Nichtverwirklichung seiner umfassenden Arbeitspläne die wichtige permanente Präsenz und Publizität im amerikanischen Wissenschaftsbetrieb hauptsächlich über drei Zeitschriften und in katholischer Umgebung gelang. Trotz der schließlichen Anerkennung Kuttners durch die nichtkatholische Mehrheit der Vereinigten Staaten von Amerika endet die eindrucksvolle, gut lesbare Arbeit in ihrem dritten Teil (Resümee) mit der einsichtigen Feststellung, dass sich an der Bewegung Kuttners in einem fachkategorialen Niemandsland im Grunde bis in die Gegenwart nichts geändert hat – in Amerika ebensowenig wie in Deutschland.

 

Innsbruck                                                                                                       Gerhard Köbler