Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Band 4 Aufgaben des Staates, hg. v. Isensee, Josef/Kirchhof, Paul, 3. Aufl. C. F. Müller, Heidelberg 2006. XL, 1333 S. Besprochen von Andreas Kley.

 

Die beiden Herausgeber stellen dem vierten Band ihres Handbuchs das Motto „Salus populi, suprema lex esto“ voran – ein Grund-Satz, der noch immer seine volle Gültigkeit bewahrt. In den letzten Jahren sei, so Isensee und Kirchhof, mit der Globalisierung, Europäisierung, dem kooperativen und dem Gewährleistungsstaat ein grundlegender Wandel eingetreten, welcher jedoch nicht einem einheitlichen Schema gehorche. Tatsächlich lässt sich eine allgemeine Richtung nicht ausmachen, weil gleichzeitig verschiedene und auch gegenläufige Entwicklungen im Gange sind. Der kooperative Staat wird durch die laufende Privatisierung gestärkt, andererseits muss man sich zu Recht fragen, ob das wirklich ein Prozess der Privatisierung ist, weil der Staat oft weiterhin die Hand auf die entstaatlichten Unternehmen legt. Die Herausgeber legen das Wesentliche nicht in ein Prinzip oder in eine Entwicklung, sondern in die Verfassung. Sie führen Goethe an: „Das Wahre war schon längst gefunden“ und dieses Wahre vermöge dem „politischen Drang des Tages standzuhalten und dem staatlichen Handeln Impuls und Halt zu geben“ (S. VI). Das kann so sein; der Staatsrechtler vergisst freilich nicht, dass es „die“ Verfassung als solche gar nicht gibt, sondern immer nur Interpretationen der Verfassung, und dies bedacht, erscheint ihr Halt doch eine eher unsichere Sache!

 

Der siebte Teil der Gesamtdisposition über Ziele, Aufgaben und Grenzen des Staates gliedert sich in Ziele und Grenzen des staatlichen Handelns (§§ 71–80) und in die Bereiche staatlichen Handelns (§§ 81–98). An dieser Stelle können nicht sämtliche 28 Paragraphen besprochen werden, weshalb die folgenden Würdigungen nur als Beispiele anzusehen sind.

 

Es ist wenig erstaunlich, dass mit § 76 ein Beitrag über „Wissen als Grundlage staatlichen Handelns“ (Bardo Fassbender) erscheint. Die Bedeutung des „Wissens“ wird gesellschaftlich breit anerkannt, wenn von der „Wissensgesellschaft“ (S. 246) oder in der Betriebswirtschaftslehre vom „Wissensmanagement“ die Rede ist. Auch der Staat bekommt diese Betonung des Wissens zu spüren; Fassbender beschreibt Deutschland als einen „Wissensstaat“ (S. 308ff.). Selbstverständlich war Wissen immer schon zentral, einzig wurde dies in der länger zurückliegenden Vergangenheit nicht speziell betont. Fassbender hebt hervor, dass im rationalen Staat das Wissen und nicht die Magie, Prophetie oder Demagogie herrsche (S. 245). Wissen wird also von vornherein als rationales Wissen verstanden und der Staat dabei auf die „Wissenschaftlichkeit“ (S. 250) verpflichtet. Dabei weist Fassbender dem Christentum zu Recht eine Rolle als Verfassungsvoraussetzung zu. Dies nicht in der Meinung, dass der Staat inhaltlich auf das Christentum verpflichtet sei, aber der Staat und das Recht sind zu einem wesentlichen Teil ins Weltliche transponierte theologische Vorstellungen. Der Beitrag Fassbenders hält sich sehr am Grundsätzlichen und entzieht dem Faktor Wissen so jeden modischen Bezug, den er haben könnte. Der Aspekt Wissen wird damit so grundsätzlich, dass der § 76 nachgerade an den Anfang des Bandes gehörte. Dort freilich hat Josef Iseensee seinen ebenso grundlegenden Beitrag über das „Gemeinwohl“ (§ 71) plaziert. Fassbenders Ausführungen erscheinen sehr instruktiv und von reichem Gehalt, gerade auch was die zitierte Literatur anbelangt.

 

Aus den Bereichen staatlichen Handelns sei § 97 von Jürgen Salzwedel über den „Schutz natürlicher Lebensgrundlagen“ hervorgehoben. Der Autor setzt dem modischen Bestreben des Zeitgeistes Schranken, wonach die Lebensbedürfnisse der Menschheit denen anderer Lebewesen nach- oder untergeordnet werden müssten (S. 1111). Vielmehr gehe es darum, die natürlichen Lebensgrundlagen so zu schonen, dass keine irreversiblen Schäden entstehen. Zudem müsse auch dem Irrtum entgegengetreten werden, wonach Natur und Technik sich feindselig gegenüber stehen. Denn viele technische Maßnahmen des Menschen hätten auch wertvolle Bestände von pflanzlichem und tierischem Leben erhalten. Diese Feststellung ist zweifellos richtig und realistisch. Die Bedrohung seitens der Technik ist dennoch nicht zu übersehen, und diese negative Seite besitzt, entgegen den Äußerungen des Autors, dennoch das Übergewicht. Allein schon die Tatsache des Querschnittgebiets „Umweltrecht“ belegt dies eindrücklich, zumal das Umweltrecht vor allem einen polizeirechtlichen Charakter hat, wie der Autor richtig feststellt (S. 1113f.). Salzwedel betont zu Recht die große Bedeutung des Vorbehaltes des Gesetzes aus Art. 20 Abs. 3 GG und damit die Wesentlichkeitstheorie des Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG, wonach die Ermächtigung für staatliche Einriffe nach Inhalt, Zweck und Ausmass gesetzlich vorgeprägt sein müsse. Für das Umweltrecht gelte eine umgekehrte Wesentlichkeitstheorie, da die formellen Gesetze kaum richtungsgebende Maßstäbe enthalten (S. 1120). Diese Feststellung ist richtig und zeigt deutlich die sehr begrenzte Steuerungskraft der formellen Gesetze auf, wie das schon die beiden Herausgeber im Vorwort (S. V) feststellen. 1994 ist Art. 20a GG, eine Umweltklausel, eingefügt worden. Salzwedel widerspricht entsprechend seiner umweltkritischen Haltung der euphorischen Aussage, wonach damit der „Umweltstaat“ (so der Ausdruck Michael Kloepfers) geboren worden sei. Dieser Begriff löse nur Missverständnisse aus, denn es sei klar, dass die Umweltschutzklausel die Gestaltungsmacht verfassungsändernder Mehrheiten (Art. 79 Abs. 1, Art. 20 Abs. 1 GG) unberührt lasse. Eine Inflationierung von Staatszielbestimmungen führe nur zur Blockade demokratischer Willensbildung. Ebensowenig gebe es ein Grundrecht auf Umweltschutz (S. 1123). Der Autor macht dann freilich zu Recht auf die entsprechenden Schutzpflichten des Staates aufmerksam, wobei im einzelnen das Gefährdungsprofil festzulegen sei (S. 1125). Schließlich werden die Umweltabgaben und das „mediale Umweltrecht“ abgehandelt, worunter der Autor vor allem den Immissionsschutz versteht. Es handelt sich um einen sachhaltigen Beitrag über die Staatsaufgabe Umweltschutz, der sich nicht zu euphorischen Höhenflügen, sondern zu einer realistischen Betrachtungsweise bekennt.

 

Band IV des Handbuches genügt allen Anforderungen, die an ein Handbuch des Staatsrechts zu stellen sind. Die Beiträge sind sehr gut koordiniert worden und ergänzen sich dadurch. Die Sprache ist durchgehend nüchtern und klar gehalten. Den beiden Herausgebern ist zu ihrer Leistung zu gratulieren, wurden doch 13 Beiträge zu neuen Themen verfasst und mussten daher zuerst konzipiert werden. Wer mit dem deutschen Staatsrecht befasst ist, kann nicht anders als sich auch auf Band IV des Handbuches abzustützen.

 

Zürich                                                                                                            Andreas Kley