Gewohnheitsrecht – Rechtsprinzipien – Rechtsbewusstsein. Transformation der Rechtskultur in West- und Osteuropa. Interdisziplinäres Symposion an der Universität Münster, hg. v. Krawietz, Werner/Sproede, Alfred (= Rechtstheorie 35 [2004], Heft3/4 Sonderheft Russland/Osteuropa). Duncker & Humblot, Berlin 2006. Ausschlagtafel, XXI, 394 (= 289-680) S. Besprochen von Martin Avenarius.

 

Die Rezeption von Ordnungsstrukturen und Rechtseinrichtungen durch Russland und andere Staaten des Ostens, wie sie aus dem Ausland und insbesondere aus Westeuropa herangetragen wurden, ist in der Vergangenheit aus vielfältigen Blickwinkeln untersucht worden. Der vorliegende Sammelband behandelt nun eine Reihe solcher Prozesse aus der Binnenperspektive der „aufnehmenden“ Länder. Die Auseinandersetzung erfolgt aus einem dezidiert rechtstheoretischen Erkenntnisinteresse heraus. Besondere Berücksichtigung findet dabei, wie Alfred Sproede in seinem Vorwort erläutert, der historische und kulturelle Kontext, in den die jeweils herkömmlichen Strukturen sowie die Auseinandersetzung mit andringenden „Modernisierungen“ oder anderweitigen Einflüssen einzuordnen sind. Die in dem Band versammelten Beiträge gehen auf eine Tagung zurück, die unter dem Titel „Recht-Norm-Kanon: symbolische Ordnungen in den Kulturen Osteuropas“ vom 30. 9. bis 2. 10. 2004 in Münster stattgefunden hat. Die Ergebnisse der Veranstaltung bedienen das rege wissenschaftliche Interesse der Zeit an der Rechtsgeschichte Osteuropas. Sie tragen zur Erforschung eines Gegenstandes bei, der sowohl unter dem Gesichtspunkt der jeweils eigenständigen Entwicklung wie unter dem des Transfers noch nicht befriedigend aufgearbeitet worden ist.[1]

 

Unter der Überschrift „Rechtsordnung und soziale Kontrolle“ behandelt der erste Themenbereich die Entwicklung normativer Ordnungen und sozialer Disziplinierung in einzelnen Entwicklungssabschnitten der russischen Geschichte. Den Anfang macht Eva-Maria Auch mit ihrem Beitrag „Adat – Šarī'a – Zakon. Zur Implementierung russischen Rechts in Kaukasien“ (289). Die Verfasserin widmet sich dem amtlichen Umgang mit den „kolonisierten“ Völkern im Süden des Zarenreiches im 19. Jahrhundert. Den Schwerpunkt des Beitrags bildet die Auseinandersetzung mit den Schwierigkeiten, die sich für die Behörden bei der Durchsetzung des russischen Rechts im Kaukasus ergaben, wo das importierte Gesetzesrecht (russ.: zakon) mit regionalem Gewohnheitsrecht (arab.: 'ādat) und religiösem Gebot (arab.: šarī'a) kollidierte.

 

In seinem Beitrag „Terror, Religion und Justiz. Vera Figners Lebenserinnerungen wiedergelesen“ (323) behandelt Lothar Maier den Zusammenhang zwischen der Öffentlichkeit des Gerichtsverfahrens und der Selbstdarstellung bestimmter Angeklagter im ausgehenden Zarenreich. Insbesondere im Rahmen von Terroristenprozessen suchten Angeklagte nicht selten ihre Taten zu rechtfertigen und öffentlichkeitswirksam als Ankläger gegenüber dem Staat aufzutreten. Vera Figner, die sich 1884 im „Prozeß der 14“ verantworten musste, konnte ihr Selbstverständnis als Mitglied der revolutionären Organisation „Narodnaja Volja“ später im Rahmen ihrer Lebenserinnerungen beschreiben. Hier suchte sie die Gewaltanwendung aufgrund der Selbstwahrnehmung als Mitglied einer Elite, die den Kampf stellvertretend für das Volk führt, zu rechtfertigen. Aus der Vorstellung von einer Verpflichtung gegenüber den Unterdrückten heraus konstruierten die Revolutionäre eine Rechtfertigung dafür, dass sie mit ihren Gewalttaten nicht nur gegen das staatlich gesetzte Recht, sondern auch gegen grundlegende Verhaltensanforderungen der Zivilisation verstießen. In den Denkstrukturen der russischen Terroristengeneration der siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts kann man eine spezielle Ausprägung des Rechtsnihilismus erkennen, wie er gegen Ende des Jahrhunderts in verschiedenen Erscheinungsformen zu beobachten war. Die Aufmerksamkeit, welche die Revolutionäre mit ihren öffentlichen Rechtfertigungsversuchen erringen konnten, kommt nicht nur darin zum Ausdruck, dass, wie Maier berichtet, sogar der liberale Justizminister Dmitrij N. Nabokov den Verteidiger Vera Figners um eine Mitschrift ihrer Erklärungen bat. Berühmter wurde die literarische Ausarbeitung der Vorstellung vom vermeintlich zur Gewalt berechtigten Eliteangehörigen bei Dostoevskij in der Gestalt des Raskol'nikov in „Verbrechen und Strafe“ sowie explizit im Kontext des Terrorismus bei Petr Verchovenskij in den „Teufeln“, einer maßgeblich nach dem Vorbild des Revolutionärs Sergej Nečaev gestalteten Figur.[2]

 

Frances Nethercott beschreibt in ihrem Beitrag „Discipline or Punish? Russian Criminal Justice in the Era of Reform“ (335) die Zeit nach der Justizreform von 1864 als Phase der „Rationalisierung“ des russischen Strafrechts. Anknüpfend an das Strafgesetz von 1832, das als Teil des Svod Zakonov aus den Kodifikationsarbeiten Speranskijs hervorgegangen war und die Grundlage der Strafbarkeit letztlich in der Auflehnung gegen das Gesetz der Obrigkeit sah, zeigt die Verfasserin, wie die Bemühungen von Strafrechtswissenschaftlern und Reformern um eine Präzisierung der Strafbarkeitsvoraussetzungen bestimmte Schritte der Modernisierung vorbereiteten, die freilich aufgrund des autokratischen Selbstverständnisses der Führung und fehlender Freiheitsgarantien überwiegend Theorie blieben.[3]

 

Der zweite Themenbereich geht unter dem Titel „Sprache, juristische Rhetorik und rechtliche Kommunikation“ von der Beobachtung aus, dass Normendurchsetzung und Rechtspflege auch als Problem öffentlicher Rede und Kommunikation wahrgenommen werden können. Der Abschnitt beginnt mit einer Untersuchung von Anwaltsplädoyers aus den Jahren nach der großen Justizreform, ausgearbeitet in Elena Kantypenkos Beitrag „Klassische Plädoyers in Strafprozessen der ,europäischen Ära’ russischer Rechtsentwicklung nach der Justizreform von 1864“ (355). Auf der Grundlage des neuen Gerichtsverfassungsrechts geht die Verfasserin der Frage nach der Auswirkung der Prozesse auf die Herausbildung rechtsstaatlicher Strukturen nach. Sie untersucht Rhetorik und juristische Argumente der jeweils beteiligten Anwälte, deren Prozessreden in Zeitungen publiziert und von einer interessierten Öffentlichkeit wahrgenommen wurden. Bekannte Beispiele bieten die Plädoyers, die in den Prozessen gegen Sergej Nečaev (1871) und Vera Zasulič (1873) gehalten wurden. Nicht wenige dieser Reden erweisen sich als bedeutende Zeugnisse der Rhetorik. Für die publizistische Tätigkeit der Juristen steht insbesondere Anatolij Koni, der im Zasulič-Prozess den Vorsitz geführt hatte. Bekannt wurde z. B. sein Eintreten für die Berufsausübung der Juristinnen: Obgleich seit 1878 an den St. Petersburger Höheren Frauen-Kursen die Möglichkeit zum Rechtsstudium bestand, konnten Frauen nur wenige Berufe ausüben, wie etwa den der Unternehmensjuristin.[4] Koni setzte sich öffentlich – und letztlich erfolgreich – dafür ein, ihnen den Zugang zur Anwaltschaft zu eröffnen.[5] In seiner Monographie „Väter und Söhne der Gerichtsreform“ (1914) betonte er die herausragende Bedeutung der Schwurgerichte und ihre Nähe zur Lebenswirklichkeit.[6] Schwurgerichte erschienen ihm als „kämpferische Form“ des Gerichts. Im Rahmen seiner Auseinandersetzung mit Jherings „Kampf um's Recht“ lieferte er eine prägnante Gegenüberstellung mit den von ihm abgelehnten Schöffengerichten in Deutschland. Die öffentliche Wahrnehmung einzelner Prozesse führte sogar dazu, dass sie die Schaffung literarischer Werke anregten. So nimmt die Justizkritik Tolstojs in dem Roman „Auferstehung“ ihren Ausgang bei der Schilderung eines Giftmordprozesses, über dessen historisches Vorbild Koni ihm 1887 berichtet hatte. Ein weiteres Echo der Verfahren bildet die Darstellung der Figur des Ermittlungsbeamten Porfirij Petrovič in Dostoevskijs „Verbrechen und Strafe“.

 

In ihrem Beitrag „Verstehen vor Gericht. Zum Verfahrensbegriff als diskursiver Schnittstelle zwischen Recht und Literatur in der Moderne“ (391) widmet sich Sigrid G. Köhler dem Problem, auf welche Weise im Rahmen der Verarbeitung von Strafprozessen in literarischen Werken Westeuropas Justizkritik entwickelt wird. Die Verfasserin richtet diese Fragestellung an Alfred Döblins Werk „Die beiden Freundinnen und ihr Giftmord“ (1924) und untersucht den dort dargestellten Kriminalfall, wobei sie einen diskurstheoretisch geschärften Verfahrensbegriff zugrundelegt.

 

Christina Schindler betrachtet in ihrer Abhandlung „Delinquenz und Sondersprachen in Russland. Funktionen sowjetischer und russischer Argotwörterbücher von 1917 bis heute“ (409) den Zusammenhang zwischen normabweichendem Verhalten und Sondersprachen. Die Verfasserin beschreibt die Auseinandersetzung mit dem Argot (als Sondersprache von Kriminellen) von 1917 bis zur Gegenwart und zeichnet den Wandel der Bewertung der Sprachvarietäten und des Umgangs mit denselben nach. Insbesondere zeigt sie, wie in der sowjetischen Epoche und später die offiziöse Sprachnormierung Kennzeichen eines spezifischen Umgangs mit Delinquenz ist. Die Wahrnehmung sprachlicher Abweichungen als Merkmal bestimmter gesellschaftlicher Randgruppen kennzeichnet im übrigen nicht allein die Sichtweise der Staatsorgane. Unabhängig von den damit einhergehenden Bewertungen hat sie sich in der Kunst niedergeschlagen. Bekannte Beispiele für die künstlerische Rezeption des „Gaunerjargons“ (blatnoj jazyk) in bewusster Auseinandersetzung mit der offiziösen Normierung bieten Dichtungen von Aleksandr Galič und Vladimir Vysockij.

 

Mit „Rechtsbewusstsein und Rechtskultur in vergleichender Perspektive“ ist der dritte Themenbereich überschrieben, der mit einem Aufsatz Georg Schomachers beginnt: „Geschichte, Mentalität und Recht. Zum Problem der Differenz respektive des Gegensatzes von ,westlicher’ und russischer Rechtskultur“ (427). Der Verfasser setzt sich mit dem Spannungsverhältnis zwischen der genuin russischen Rechtstradition und der verschieden ausgeprägten Tendenz einer Rezeption westlicher Einflüsse auseinander, die mit unterschiedlichen Schwerpunkten seit dem 19. Jahrhundert geführt wird. Ihren literarischen Niederschlag kann man, wie Sproede in seinem Vorwort des Bandes meint, mit dem berühmten Streit zwischen Konstantin Kavelin und Jurij Samarin von 1847 um das Rechts- und Staatsdenken der Slavophilen beginnen lassen, ohne dass die entgegengesetzten Standpunkte freilich immer klar erkennen ließen, was jeweils unter „Rechtskultur“ verstanden wird.

 

Alfred Sproede setzt sich unter dem Titel „,Rechtsbewusstsein’ (pravosoznanie) als Argument und Problem russischer Theorie und Philosophie des Rechts“ (437) mit der rechtstheoretischen Reflexion seit dem Ende des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart auseinander. Der Verfasser zeigt Kontinuitäten im rechtstheoretischen Denken auf und beschreibt die Fortwirkung der Rechtsphilosophie des Zarenreiches im historischen Spannungsfeld zwischen Tradition und Modernisierungstendenzen. Er geht von Bogdan Kistjakovskijs 1909 erschienenen Aufsatz „Zur Verteidigung des Rechts (Die Intelligencija und das Rechtsbewusstsein)“ aus. Kistjakovskij führt hier die Neigung zum Rechtsnihilismus auf das Fehlen solcher juristischer Programmschriften zurück, die das Bewusstsein um die Grundlagen des Rechts hätten verbreiten und festigen können. Es gehört zur Tragik der russischen Rechtsgeschichte, daß Iosif Pokrovskijs Werk „Grundprobleme des Bürgerlichen Rechts“, das dieses Postulat auch über das Zivilrecht hinaus ein Stück weit hätte erfüllen können, erst 1917 erschien und für lange Zeit kaum Wirkung entfalten konnte.[7] Anschließend widmet sich Sproede dem Rechtstheoretiker Pavel Novgorodcev, der, ausgehend von der Auseinandersetzung mit dem Rechtsnihilismus Tolstojs, in seiner Schrift „Die Krise des modernen Rechtsbewusstseins“[8] und in anderen Werken die Notwendigkeit der Verankerung philosophischer Grundlagen des Rechts in Bewusstsein und Konsens der Beteiligten erörtert.[9] Die Reihe der behandelten Autoren setzt konsequenterweise Leon Petrażycki fort, in dessen psychologischer Rechtslehre das Rechtsbewusstsein auf eigenständige Weise verankert ist und der damit eine spezifische Wirkungsgeschichte in der sowjetischen Rechtswissenschaft auslöste.

 

Auf die öfters unterschätzte Kontinuität im Übergang zum sowjetischen System und an dessen Ende geht auch Edward M. Swiderski in seinem Beitrag „Conceiving Social Reality in Post-Soviet Russia: A Question of Familiar or Innovative Representations?“ (507) ein. In Auseinandersetzung mit dem von dem russischen Sozialhistoriker Aleksandr Achiezer entwickelten Modell der „großen Gesellschaft“ (bol'šoe obščestvo) setzt sich der Verfasser mit verschiedenen Versuchen auseinander, den Wandel der russischen Gesellschaft während und nach der sozialistischen Epoche aus sozialwissenschaftlicher Sicht begrifflich zu erfassen und in Beziehung zu globalisierungstheoretischen Modellen zu setzen.

 

Der mit „Liberalismus, Rechts- und Sozialstaat in Theorie und Praxis“ überschriebene vierte Themenbereich ist der Auseinandersetzung mit diesen jeweils hauptsächlich an den Universitäten entwickelten Konzepten und deren Beziehung zu den tatsächlichen Verhältnissen im Zarenreich gewidmet. Die Beiträge spiegeln die Entwicklung des russischen Rechtsdenkens unter dem Eindruck des Austausches mit der west- und mitteleuropäischen Rechtswissenschaft in den letzten Jahrzehnten der Zarenherrschaft in ausgewählten Problembereichen. Hier fiel die Aufgabe der Vermittlung des Ideentransfers oftmals nichtrussischen Angehörigen des Zarenreiches zu. Dabei bereicherte der Gedankenaustausch keineswegs nur die russische Seite. Ein bekanntes Beispiel für die Rezeption von Erträgen der liberalen Staats- und Rechtslehren des vorrevolutionären Russland bietet die Auseinandersetzung Max Webers mit dem Ukrainer Kistjakovskij. Bedeutende Beiträge leisteten Juristen des Zarenreiches auch u. a. auf den Gebieten der Interessenjurisprudenz sowie der Freirechtschule.[10]

 

Im Rahmen der Reformbestrebungen, welche die letzten Jahrzehnte des Zarenreiches kennzeichneten, rangen verschiedene liberale Rechtsphilosophien miteinander. Die nachfolgenden Abhandlungen des Bandes knüpfen an die Standardmonographie Andrzej Walickis „Legal Philosophies of Russian Liberalism“ an;[11] sie fragen gleichzeitig nach Kontinuitäten im Verhältnis zwischen der vorrevolutionären und der gegenwärtigen Rechtsphilosophie Russlands und Osteuropas. An der in der Reformdiskussion zentralen Kontroverse um einen liberalen oder sozial-liberalen Eigentumsbegriff beteiligte sich auch Leon Petrażycki mit einigen seiner früheren Schriften. Pius Frick untersucht in seinem Beitrag „Lev Petražickij und das Eigentum. Beobachtungen zum Frühwerk“ (527) den Beitrag des polnischen Juristen zur Eigentumsdebatte um die Wende zum 20. Jahrhundert. Frick analysiert die ökonomischen Überlegungen, die Petrażycki in seiner Monographie „Die Fruchtverteilung beim Wechsel des Nutzungsberechtigten“ (1982) sowie in dem zweibändigen Werk „Die Lehre vom Einkommen“ (1893-95) entwickelte, und untersucht den Stellenwert der Vermögensinteressen in einer (nach Petrażyckis Vorstellungen) an der Liebe orientierten Wirtschaftsordnung.

 

Leonid S. Mamut entwickelt in seinem Beitrag „Thesen zum Begriff des Rechts im Kontext der Sozialstaatslehren“ (541) einige Gedanken über den Rechtsbegriff im Zusammenhang mit dem Sozialstaatsgedanken. Im Rahmen seiner Darlegungen fällt die Ansicht auf, das Prinzip, nach dem Individuen oder Gemeinschaften Rechte durch eigene Anstrengungen erwerben, sei nicht nach der Devise Jherings „Im Kampf gewinnst du dein Recht“[12] zu verstehen, weil es nicht möglich sei, Recht durch Gewaltanwendung zu erwerben.[13] Es handelt sich um eine offenbar von selbsthilfetheoretischen Vorstellungen geleitete Interpretation, die im Kontrast zu der Deutung in der modernen Jhering-Forschung steht.[14]

 

Ausgehend von der Debatte um den Personenbegriff um 1900 behandelt Nikolaj Plotnikovs Aufsatz „Das ,Recht auf menschenwürdiges Dasein’. Zur rechtsphilosophischen Begründung des Sozialliberalismus in Rußland“ (547) die unterschiedlichen Ansätze, die zur Begründung eines Anspruchs auf Gewährleistung einer menschenwürdigen Existenz durch den Staat herangezogen worden sind und teilweise bis heute ausstrahlen.

 

Unter dem Titel „Gabriėl Feliksovič Šeršenevič – eine rechtspositivistische Verteidigung des Rechts und des Rechtsstaates in Rußland“ (563) erörtert Anita Schlüchter das Rechtsdenken dieses vielseitigen Juristen, dessen umfangreiches zivilrechtliches Werk noch heute beachtet wird. Szerszeniewicz – er war, wie Petrażycki, Pole – sah sich zwar in der Zivilrechtsdogmatik als Nachfolger Dmitrij Mejers, vertrat im übrigen jedoch ausgeprägt rechtspositivistische Standpunkte und musste sich gegen naturrechtliche Tendenzen seiner Zeit ebenso behaupten wie gegen den Anarchismus, wie er von Tolstoj und seinen Anhängern in verschiedenen Ausprägungen vertreten wurde. Die Verfasserin erörtert die Frage nach einer rechtspositivistischen Verteidigung des Rechts schließlich mit Blick auf die einschlägige Diskussion der Gegenwart.

 

Der fünfte und letzte Themenbereich ist umschrieben mit „Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung jenseits des konventionellen Rechtspositivismus“. Er umfasst Abhandlungen zur juristischen Methodenproblematik im engeren Sinne. Zunächst wendet Werner Krawietz in seinem Beitrag „Gemeinschaft und Gesellschaft. Das Tönnies'sche Handlungs- und Forschungsparadigma in neueren Rechtstheorien“ (579) die in der Sozialphilosophie von Ferdinand Tönnies entwickelte Dichotomie von Gemeinschaft und Gesellschaft auf die Entwicklung verschiedener Rechtskulturen der Gegenwart an.[15] Der Autor erörtert verschiedene Beschreibungsmodelle für unterschiedliche Arten von Rechtskultur. Schon Walicki hatte die Relevanz des Begriffspaares von Gesellschaft und Gemeinschaft im Anschluss an Tönnies für die Beschreibung der Geschichte der russischen Rechtsreform und Modernisierung aufgezeigt.[16] Krawietz überträgt diese Modell nun auf das Paradigma der Globalisierung und den Diskurs um die postnationalen Rechtsgemeinschaften.

Unter dem Titel „Die Rechtsordnung in Estland: Wesen und Rationalität der Erkenntnis“ (653) erläutert Raul Naritz die gegenwärtige Reform des estnischen Rechts im Kontext der Rezeption kontinentaleuropäischer Strukturen. Schwerpunkte seiner Ausführungen liegen in der Auseinandersetzung mit bestimmten Schwierigkeiten der rechtlichen Argumentation sowie in der Erörterung des Umgangs der estnischen Justiz mit einer aus der deutschen Rechtstradition herrührenden Begrifflichkeit.

 

Gegenstand der Abhandlung Martin Schultes, die den Band abschließt, ist das Problem der Selbst- und Fremdbeschreibung des Rechtssystems sowie die Begründung der Rechtsgeltung. Unter dem Titel „Geltung und Wirksamkeit des Rechts der Gesellschaft. Eine Selbst- und Fremdbeschreibung des Rechtssystems“ (669) setzt sich der Verfasser mit der soziologischen Rechtsgeltungslehre und ihrer Relevanz im Kontext des rechtlich-politischen Ausnahmezustands auseinander. In Anknüpfung an Hart und Rawls widmet sich der Beitrag der Rechtsphilosophie als Reflexionstheorie des Rechtssystems.

 

Der Band enthält ein breites Spektrum an Beiträgen aus dem Kontext des vorrevolutionären bürgerlichen Rechtdenkens und weist Wege zu einer lohnenden Anknüpfung an die Erträge einer zu unrecht bislang wenig beachteten Epoche der russischen Rechts- und Sozialphilosophie.

 

Köln                                                                                                              Martin Avenarius



[1] Als jüngeres Ergebnis führt Sproede mit Recht H. Küpper, Einführung in die Rechtsgeschichte Osteuropas, Frankfurt am Main u. a. 2005 an; vgl. zu diesem Werk nun meine Rezension SZ (Germ. Abt.) 124 (2007), 381-387. Man wird inzwischen den von T. Giaro herausgegebenen Sammelband Modernisierung durch Transfer im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2006 nennen dürfen. Weiterem Erkenntnisgewinn dient das am Institut für Römisches Recht in Köln betriebene DFG-Projekt „Römische Rechtstradition und Zivilrechtswissenschaft in Rußland vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis 1922“.

[2] Vgl. näher G. Braunsperger, Sergej Nečaev und Dostoevskijs „Dämonen“: Die Geburt eines Romans aus dem Geist des Terrorismus, Frankfurt am Main 2002.

[3] Die Abhandlung knüpft an Forschungen zur Geschichte der disziplinarischen Praktiken in Russland an, die von Politologen der Europäischen Universität in Sankt Petersburg betrieben worden sind. Für die Ergebnisse vgl. den von O. Charchordin redigierten Sammelband Mišel' Fuko i Rossija (Michel Foucault und Russland), Sankt-Peterburg, Moskva 2001.

[4] S. A. Krasinskaja-El’jaševa/A. I. Rubašova-Zorochovič, Juridičeskij fakul’tet (Die Juristische Fakultät), in: Sankt-Peterburgskie vysžee ženskie (Bestuževskie) kursy (1878-1918 gg.) (Die Sankt-Petersburger Höheren Frauen- [Bestužev-] Kurse [1878-1918]), red. v. S. N. Valka u. a. (1965), 148-155; S. M. Chlytčieva, Vospominanija juristki pervogo vypuska (Erinnerungen einer Juristin des ersten Jahrgangs), a.a.O., 249-255.

[5] A. Koni, O dopuščenii ženščin v advokaturu (Über die Zulassung von Frauen zum Anwaltsberuf), in: ders., Sobranie sočinenij v vos'mi tomach (Gesammelte Werke in acht Bänden), Bd. 4, Moskva 1967, 426-442.

[6] A. Koni, Otcy i deti sudebnoj reformy, Moskva 1914, Neudruck Moskva 2003.

[7] I. A. Pokrovskij, Osnovnye problemy graždanskogo prava, Moskva 1917, Neudruck Moskva 1998. Vgl. M. Avenarius, Rezeption des römischen Rechts in Russland - Dmitrij Mejer, Nikolaj Djuvernua und Iosif Pokrovskij, Göttingen 2004, 57-62.

[8] P. Novgorodcev, Krizis sovremennago pravosoznanija, Moskva 1909.

[9] Die S. 451, Fn. 30 genannte, dem Verfasser nicht zugängliche Schrift von N. A. Rejmers behandelt übrigens nicht die Mythologie des Moralbewusstseins, sondern dessen Morphologie; der Titel lautet korrekt: Pravo i moral'. Opyt morfologii nravstvennago soznanija (Recht und Moral. Versuch einer Morphologie des Moralbewusstseins), Paris 1934. Die Universitätsbibliothek Göttingen verfügt über ein Widmungsexemplar.

[10] Vgl. nun M. Zieliński, Der Transfer juristischen Gedankenguts innerhalb Europas am Beispiel der Versuche der Modernisierung des Zivilrechts im ausgehenden Zarenreich, Hamburg 2007, 55ff.

[11] A. Walicki, Legal Philosophies of Russian Liberalism, Oxford 1987.

[12] Eigentlich: „Im Kampfe sollst du dein Recht finden“; Motto früherer Auflagen von R. v. Jherings Schrift Der Kampf um's Recht, erstmals Wien 1872.

[13] Vgl. bereits L. Mamut, Rudolf von Jhering und Wladimir Lenin. Parallelen in ihrem politischen und rechtlichen Denken, in: Jherings Rechtsdenken. Theorie und Pragmatik im Dienste evolutionärer Rechtsethik, hg. v. O. Behrends, Göttingen 1996, 110-118 (116).

[14] Vgl. nur O. Behrends, Rudolph von Jhering (1818-1892). Der Durchbruch zum Zweck des Rechts, in: Rechtswissenschaft in Göttingen, hrsg. von F. Loos, Göttingen 1987, 260f.

[15] F. Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft, erstmals Leipzig 1887.

[16] S. oben Fn. 11.