Gehler, Michael, Eduard Reut-Nicolussi und die Südtirolfrage 1918-1958. Streiter für die Freiheit und die Einheit Tirols. Teil 1 Biographie und Darstellung, Teil 2 Dokumentation, vorwiegend aus dem Nachlass. Wagner, Innsbruck 2006. 296, 1472 S. Besprochen von Anita Prettenthaler-Ziegerhofer.

 

Der Zeithistoriker, Südtirol- und Europa-Experte Michael Gehler, nun Leiter des Historischen Seminars der Universität Hildesheim, überrascht wieder mit einem umfangreichen Opus. Dieses Mal handelt es sich um ein zweibändiges Werk. Der erste Band ist der biografischen Darstellung Eduard Reut-Nicolussis gewidmet, der zweite ist ein editorischer Band. In unermüdlichem wissenschaftlichem Tatendrang kämpfte sich Gehler über zehn Jahre durch den Quellenbestand, um eine „Persönlichkeit der Vergessenheit zu entreißen“. Dabei bildete  nicht nur wissenschaftliche Neugierde die Motivation für dieses Unterfangen. Laut Gehler war auch die Tatsache, dass man heute nicht nur auf österreichischer, sondern auch auf gesamteuropäischer Ebene charismatische, linientreue Politikerpersönlichkeiten vermisst (13), mit ein Grund für die Beschäftigung mit Reut-Nicolussi. Dergestalt bricht Gehler für das Genre Biografie eine Lanze. Immerhin stellt das geschichtswissenschaftliche Paradigma Biografie einen wichtigen Bestandteil der Forschung dar: Biografien erhellen die Ereignisgeschichte und geben dieser ein menschliches Antlitz.

 

Reut-Nicolussi wurde 1888 in Trient geboren. Seine Kindheit und Jugendjahre waren von der Situation des Grenzlanddeutschtums geprägt – was zu Großdeutschtum und Volksdeutschtum, aber nicht Deutschnationalismus führte (20). Reut-Nicolussi hatte wie viele seiner Landsleute nach dem Zusammenbruch der Monarchie 1918 sein österreichisches Vaterland verloren. Als „Heimatloser“ war er zum Kämpfer für die Südtiroler Heimat und Kultur sowie zum Verfechter der deutschen Sprache geworden. Diese Rolle nahm er nicht nur während der Zeit als Abgeordneter im römischen Parlament ein, sondern auch im Ausland, wo er in zahlreichen Vorträgen auf die Situation der deutschsprachigen Bevölkerung in Südtirol aufmerksam machen wollte.

 

Reut-Nicolussis Kampf um die Wiederherstellung der Einheit seines Landes begann mit der Annexion Südtirols durch Italien im Jahr 1920. Seine Mitgliedschaft im Andreas-Hofer-Bund bzw. Verein für das Deutschtum im Ausland zeugen davon, wenngleich er in weiterer Folge mit beiden Vereinen brechen sollte. Der nach Innsbruck „Verbannte“ blieb seinen patriotischen Prinzipien treu – er war Antifaschist und Gegner des Nationalsozialismus. Reut, der 1934 zum außerordentlichen Universitätsprofessor für Völkerrecht ernannt wurde, unterlag nicht dem Hitlermythos (267). Wenngleich er Vorbehalte gegen Hitler und den Nationalsozialismus hegte, machte der Anschluss an Deutschland trotzdem „großen Eindruck“ auf ihn (108). Diese Haltung resultierte aus Reuts Vorstellung, dass allein der „Anschluss“ die Situation Südtirols zum Besseren wenden werde. Als die deutsche Wehrmacht 1943 in Südtirol einmarschierte, musste Reut erkennen, dass seine Einstellung ein Trugschluss war. Bei Kriegsausbruch befand sich Reut in Holland, kehrte jedoch an die Innsbrucker Universität zurück. Er wurde Anfang der vierziger Jahre von der Universität Innsbruck an die Technische Universität Wien dienstversetzt, um schlussendlich nach dem Zweiten Weltkrieg an der Heimatuniversität höchste Ehren zu erlangen; als Ordinarius hatte man ihn zweimal zum Dekan und 1951/52 zum Rektor gewählt.

 

Reuts unermüdlicher und selbstloser Einsatz für Südtirol und die Südtirolerinnen und Südtiroler war nicht an seinen diplomatischen Fähigkeiten gescheitert, sondern an den Umständen der damaligen Zeit (268), so die Beurteilung Gehlers. Dagegen konnten auch die vielen Kontakte, die Reut als Völkerrechtler aufbauen konnte und die bis ins Foreign Office reichten, nichts ausrichten.

 

Gehler versteht es bravourös, die Stationen im Leben eines Mannes nachzuzeichnen, im Kontext zur allgemeinen politischen Geschichte, ohne dabei in hagiografische Taumelei zu verfallen. Selbstverständlich werden die neuesten wissenschaftlichen Forschungsergebnisse mitberücksichtigt. Die ereignisgeschichtliche Darstellung wird durch den Einblick in das private Leben Reut-Nicolussis, die ihn durch Schilderung seiner Charaktereigenschaften lebendig werden lässt, erhellt (Exkurs: Privates und Persönliches, 87-96). So wird Reut einmal als Respektsperson beschrieben, die eine gewisse Distanziertheit ausstrahlte, ein anderes Mal als Menschenfreund, der äußerst karitativ wirkte. Gehler lässt die Interviews mit den Töchtern Reuts und mit anderen Zeitgenossen wie etwa Ludwig Steiner in den Gesamttext einfließen. Der umfangreiche Bildteil (177-264) gibt visuell Einblick in das Leben des „Streiters für die Einheit“.

 

Im zweiten Band sind auf 1472 sämtliche Dokumente abgedruckt, die größtenteils aus dem Nachlass Reuts stammen. Dieser Band wird durch ein Sachverzeichnis und ein Personenregister ergänzt. Besonders wertvoll wird das Personenregister dadurch, dass sich Gehler der Mühe unterzogen hat, die jeweiligen Persönlichkeiten mit ihren Decknamen und Funktionen zu beschreiben. Einzig die kleine Schriftgröße in beiden Bänden kann als Kritikpunkt angeführt werden.

 

Für alle an der Geschichte Südtirols Interessierten stellt dieses Buch ein unbedingtes Muss dar.

 

Graz                                                                                       Anita Prettenthaler-Ziegerhofer