Föcking, Friederike, Fürsorge im Wirtschaftsboom. Die Entstehung des Bundesozialhilfegesetzes von 1961 (= Studien zur Zeitgeschichte 73). Oldenbourg, München 2007. IX, 556 S. Besprochen von Werner Schubert.

 

Das Bundessozialhilfegesetz (BSHG) von 1961 gehört zu den grundlegenden sozialpolitischen Gesetzen der frühen Bundesrepublik; es garantierte erstmals einen Rechtsanspruch auf Hilfe und sicherte nicht nur ein Existenzminimum, sondern auch die Mittel für ein Leben, „das der Würde des Menschen entspricht“ (§ 1 BSHG). Da „öffentliche Fürsorge“ im allgemeinen Bewusstsein nicht losgelöst „von der Vorstellung der Armenfürsorge früherer Zeiten“ und meist mit der richtsatzmäßigen Unterstützung für den Lebensunterhalt gleichgesetzt worden sei (allgemeine Bem. zum BSHG-Entwurf vom Juli 1958; S. 210), hat das für die Reform zuständige Innenministerium (Abteilung Sozialpolitik) die Bezeichnung „Sozialhilfe“ gewählt, da die Leistungen als „Hilfen“ zu bezeichnen seien und „weil es sich um die Hilfe der Allgemeinheit für den Einzelnen“ handele (S. 210). Damit ist aus dem „Fürsorge-Untertanen“ der „Fürsorge-Bürger“ als Hilfesuchender bzw. Hilfeempfänger geworden. Ziel der Arbeit ist es, die Ausgestaltung des BSHG in der „Schnittmenge“ der verschiedenen Politikebenen und der aus ihm erwachsenen Interessen zu untersuchen. Allerdings war die Reformarbeit, von der Auseinandersetzung über die rechtliche Stellung der freien, insbesondere konfessionell orientierten Wohlfahrtspflege in der Schlussphase abgesehen, eine von „führenden Politikern und der Öffentlichkeit gleichermaßen unbeachtete Angelegenheit der Experten in der Ministerialbürokratie, den Spitzenverbänden der Kommunen und der freien Wohlfahrtspflege, der Fachverbände sowie einiger weniger Fachleute der Bundestagsfraktionen“ (S. 597), was jedoch die Bedeutung der Reform keineswegs mindert. Das BSHG stellt eine konsequente Umsetzung des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 24.6.1954 dar, das einen Rechtsanspruch auf Pflichtleistungen der öffentlichen Fürsorge statuierte.

 

Das Werk Friederike Föckings besteht aus zwei Teilen: Der erste Teil befasst sich mit den fürsorgepolitischen Weichenstellungen aus der Zeit von 1945 bis etwa Mitte der 50er Jahre (S. 19-170), während die Reform mit dem Endpunkt des BSHG Gegenstand des zweiten Teils ist (S. 171-497). Da die rechtlichen Rahmenbedingungen und Vollzugsstrukturen aus der Weimarer Zeit (1924) stammen, geht Föcking zunächst auf diese (Reichsverordnung über die Fürsorgepflicht und Reichsgrundsätze über Voraussetzung, Art und Maß der öffentlichen Fürsorge) in aller Kürze ein (S. 13ff.). Mit der Herausnahme der Arbeitslosen, der Kriegsopfer und weitgehend auch der Heimatvertriebenen aus der öffentlichen Fürsorge konsolidierte sich diese Anfang der 50er Jahre auf der Basis der überkommenen Grundlagen der Fürsorge, soweit diese nicht durch den Nationalsozialismus kompromittiert waren. Parallel zu dieser „Sicherung des rechtlichen Status quo“ vollzog sich der organisatorische Wiederaufbau im Bereich der Fürsorge mit „seiner typischen Verflechtung von Personen und Interessen“ in Exekutive (Länderverwaltungen, Bundesinnenministerium), Legislative (Bundesrat und Bundestag), kommunalen Spitzenverbänden (u. a. Deutscher Landkreistag, Deutscher Städtetag), in Spitzenverbänden der freien Wohlfahrtspflege (Caritas, Diakonie, Paritätischer Wohlfahrtsverband) und Wissenschaft mit der „gemeinsamen Plattform“ des wiederbegründeten Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge (DV; S. 508). Zuständig für die öffentliche Fürsorge ist das Bundesministerium des Innern und nicht das Arbeitsministerium. Damit war die Fürsorge von den anderen Systemen der sozialen Sicherung getrennt. Diese Zuordnung begünstigte kommunale Interessen und enge Kontakte mit dem DV besonders mit deren Vorsitzenden Wilhelm Polligkeit und Hans Muthesius (von 1950-1964). Herausgestellt zu werden verdienen auch die Leiter der Sozialabteilung des BMI (Wilhelm Kitz, ab 1955 Gerhard Scheffler, ab 1958 Johannes Duntze) und des Referenten Hermann Gottschick, denen die Konzeption des BSHG und deren Durchsetzung zu verdanken ist. Insgesamt waren die 50er Jahre für die öffentliche Fürsorge eine Zeit der Marginalisierung (geringe Bedeutung der Fürsorgekosten im Rahmen des gesamten Sozialbudgets; schrumpfende Zahl der Berechtigten). In den Debatten um die „Sozialreform“ setzte sich gegenüber dem Modell einer staatlichen Grundsicherung das überkommene Fürsorgeprinzip durch. Erste Schritte zu einer modernisierten Fürsorge waren Teilreformen zwischen 1951 und 1955 (S. 203ff.): Einschränkung der Rückerstattungspflicht (1951), Fürsorgeänderungsgesetz (1953), endgültige Abschaffung der „gehobenen Fürsorge“ (statt dessen: System fester Zuschläge für bestimmte Bedarfsfälle) und Einführung des Warenkorb-Modells mit Verwaltungsvorschriften über den Aufbau und die Richtsätze (1955).

 

Im zweiten Teil schildert Föcking zunächst die Vorarbeiten bis zum Regierungsentwurf vom Februar 1960. In dem ersten chronologisch angelegten Kapitel behandelt sie die Vorgehensweise des BMI bis zum zweiten Referentenentwurf vom März 1959. In den drei folgenden Abschnitten folgt die „Feinanalyse der verschiedenen Reformbereiche“ (S. 174). Das 5. Kapitel befasst sich mit der Zeit von der Umarbeitung des Entwurfs vom März 1959 bis zur Verabschiedung des Regierungsentwurfs. Die Systematik des BSHG lag spätestens 1959 vor: allgemeine Vorschriften, Hilfe zum Lebensunterhalt nach Richtsätzen und Zuschlägen, Hilfe in besonderen Lebenslagen, Einsatz des Einkommens und des Vermögens und nach Regelung weiterer Einzelfragen Übergangs- und Schlussbestimmungen. Während die „Hilfe zum Lebensunterhalt“ die bisherige laufende Fürsorgeunterstützung nach Regelsätzen und die „Hilfe zur Arbeit“ regelte, stellte der umfangreiche Abschnitt über die „Hilfe in besonderen Lebenslagen“ die deutsche Fürsorgegesetzgebung auf eine „qualitativ neue Stufe“. Diese Hilfe bedeutete einen Vorstoß in den Kreis der „Minderbemittelten“, erweiterte den Katalog der Hilfen erheblich und förderte einen „armutspolitischen Paradigmenwechsel bei der Definition und Bekämpfung von Armut von der Einkommensstrategie zur Dienstleistungsstrategie“ (S. 512). Die Sozialabteilung des BMI stellte bis Oktober 1956 einen ersten Vorentwurf fertig, der jedoch wie die folgenden Vorlagen vertraulich blieb. Erst der erste offizielle Referentenentwurf vom Juli 1959, der gegenüber den früheren Vorlagen den potentiellen Empfängerkreis der Hilfe in besonderen Lebenslagen deutlich einschränkte, wurde breit an die betroffenen Stellen, Verbände und Fürsorgeexperten versandt. Die restriktiven Tendenzen gingen vor allem auf die kommunalen Spitzenverbände, das Bundesfinanzministerium und die Ländervertreter zurück. In der Folgezeit bis zur Verabschiedung des Regierungsentwurfs im Februar 1960 spielte die Forderung der katholischen Kirche und der Caritas auf volle Berücksichtigung des Subsidiaritätsprinzips zugunsten der freien Wohlfahrtsverbände eine wichtige Rolle, eine Forderung, der die Bundesregierung weitgehend entgegen kam.

 

Die Beratungen in den Bundesrats- und Bundestagsausschüssen führten zu einigen Leistungsverbesserungen (Erhöhung der Einkommensgrenzen; festes Pflegegeld für Schwerstbehinderte). In der Subsidiaritätsfrage war eine Einigung zwischen der Union auf der einen und der SPD/FDP auf der anderen Seite nicht herbeizuführen, so dass Letztere das Gesetz in der Schlussabstimmung im Bundestag am 4. 5. 1961 ablehnten (Annahme der Vorlage mit 193 gegen 150 Stimmen bei drei Enthaltungen). Die Subsidiaritätsregelung wurde 1967 vom Bundesverfassungsgericht mit vier gegen drei Stimmen als mit dem Grundgesetz vereinbar erklärt (S. 502ff.). – Die „Feinanalyse“ der Regelungsbereiche umfasst zunächst folgende Abschnitte: Aufgaben und Ziele einer modernisierten Fürsorge (Analyse der allgemeinen Bestimmungen, §§ 1-10 BSHG), die Rechtsstellung des Hilfeempfängers (u. a. Rückerstattungspflichten und Rückgriffe gegen Angehörige) und die Hilfe zum Lebensunterhalt (§§ 11 ff. BSHG; u. a. Problem der Pflicht-, Fürsorgearbeit; Unterbringung in einer Anstalt [1974 aufgehoben]). Das Kapitel über die Reform der „Hilfemöglichkeiten“ behandelt folgende Themen: Hilfe für Kinder und Jugendliche, gesundheitliche Hilfen (u. a. Tuberkulosehilfe), Hilfe zur Pflege und Weiterführung des Haushalts, Hilfen für Behinderte (u. a. Blindenhilfe), Altenhilfe und Hilfe für „Gefährdete“. Im letzten Abschnitt geht Föcking breit auf die Bewahrungsproblematik ein, die bereits in der Weimarer Zeit und vor allem in der NS-Zeit eine erhebliche Rolle spielte, bis 1938 die Gestapo die „polizeiliche Bekämpfung“ der „Asozialen“ übernahm. Wenn auch in den 50er Jahren der Erlass eines Bewahrungsgesetzes scheiterte, so spielte gleichwohl der Bewahrungsgedanke noch eine erhebliche Rolle. Bei der deutlichen „personellen Kontinuität“ (S. 359) zeigte in „der kaum kaschierten ablehnenden Perspektive und der Verkürzung auf rigide Arbeitserziehung“ das „nationalsozialistische Erbe“ seine Wirkung (S. 351). Erst ab Mitte der 50er Jahre setzte sich eine neue Sicht der Gefährdetenhilfe durch, wonach auch solche Menschen einer Hilfe bedurften, „die aus anderen als wirtschaftlichen Gründen in einer Notlage sind“ (S. 363). Gleichwohl fand sich ein Rest des Bewahrungsgedankens in § 73 BSHG, wonach das Gericht einen Gefährdeten, wenn er die Unterbringung in einer Anstalt verweigerte, „anweisen“ konnte, „sich in einer geeigneten Anstalt, in einem geeigneten Heim oder in einer geeigneten gleichartigen Einrichtung“ aufzuhalten, wenn bestimmte tatbestandsmäßige umschriebene Voraussetzungen vorlagen, eine Regelung, die u. a. wegen unbestimmter Formulierungen 1967 durch das Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig erklärt wurde (S. 374). Die Feinanalyse wird abgeschlossen mit Abschnitten über Organisation und Finanzierung der Sozialhilfe (Fürsorge im Spannungsfeld von Bund, Ländern und Gemeinden) und über die Stellung der freien Wohlfahrtsverbände. Im Schlussteil (S. 507-518) fasst Föcking die Ergebnisse der Untersuchungen zusammen und geht auf die weitere Entwicklung ein. Die Zahl der Sozialhilfeempfänger ist von 1,86 Mio. im Jahre 1963 auf 4,15 Mio. Menschen im Jahre 2000 gestiegen; die Aufwendungen stiegen von 1,4 Mrd. DM auf 4,35 Mrd. DM (alte Bundesrepublik; S. 515ff.). Zum 1. 1. 2005 ist das BSHG außer Kraft getreten. Die Arbeitslosenhilfe und die Hilfe zum Lebensunterhalt für alle erwerbstätigen Sozialhilfeempfänger (16 bis 65 Jahre) wurde zum Arbeitslosengeld II (Sozialgeld) zusammengefasst und im Sozialgesetzbuch II geregelt. Der übrige Inhalt des BSHG kam fast unverändert in Teil XII SGB.

 

Mit dem Werk Föckings liegt eine umfassende, sehr detaillierte Entstehungsgeschichte des BSHG auf über 300 Seiten vor, wenn man von der Vorgeschichte der Zeit zwischen 1945 und 1955 absieht. Überaus gelungen sind die zentralen drei Kapitel über die wichtigsten Regelungsbereiche des BSHG. Auf diese Weise erschließt das Werk nicht nur die politische Entscheidungsfindung und die Interessenvermittlung, sondern auch den Inhalt des BSHG in dessen Entstehungsphase. Zu bedauern ist, dass Föcking nur sehr selten den Wortlaut von Einzelbestimmungen der Entwürfe mitteilt. Das Verständnis der Darstellungen wäre mit einem Quellenanhang, der wichtige Teile einzelner Entwürfe mitgeteilt hätte, erleichtert worden. Zu bedauern ist ferner das Fehlen eines Sachregisters und eines biographischen Anhangs zu den Persönlichkeiten (zu finden in dem auch von Föcking erwähnten Werk von Michael Heisig, Armenpolitik in Nachkriegsdeutschland, Diss. phil. Bremen 1999, S. 523-603; nicht in der späteren Druckfassung enthalten), welche die Gesetzgebungsgeschichte maßgebend geprägt haben. Das unter Betreuung durch Gerhard A. Ritter entstandene politik-, verbands- und gesetzgebungsgeschichtliche Werk beschreibt einen wichtigen Teilbereich der Rechtsgeschichte der frühen Bundesrepublik und verdient schon deshalb die Aufmerksamkeit nicht nur der Sozialrechtshistoriker, sondern aller Rechtshistoriker, die an der Rechtsgeschichte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts interessiert sind.

 

Kiel

Werner Schubert