Fischer, Tobias, Der Prozess vor dem Villinger Stadtgericht im 17. Jahrhundert. Prozessrecht und Gerichtsverfassung im ältesten Gerichtsbuch (1620-1679) (= Veröffentlichungen des Stadtarchivs und der städtischen Museen Villingen-Schwenningen 32). Stadtarchiv Villingen-Schwenningen, Villingen 2006. 327 S., Ill., graph. Darst. Besprochen von Reinhard Schartl.

 

Das zu besprechende Buch, dem die von der Universität Konstanz angenommene juristische Dissertation des Verfassers zugrunde liegt, liefert einen weiteren Beitrag zur Erforschung der frühneuzeitlichen Rechtspraxis. Der untersuchte Raum ist die seit 1326 unter habsburgischer Herrschaft stehende vorderösterreichische Stadt Villlingen, für die Stadtrechte aus den Jahren 1294, 1371 und 1592 überliefert sind. Über das im Titel genannte Gerichtsbuch hinaus bezieht Fischer eingehend die prozessrechtlichen Bestimmungen des Stadtrechts von 1592 in seine Arbeit ein. Hauptgegenstand seiner Forschung ist allerdings das Gerichtsbuch, das auf 317 Blättern mehr als 2.400 Eintragungen aufweist. In dem sechzigjährigen Zeitraum sind für 51 Jahre lediglich 275 Gerichtstage des Stadtgerichts verzeichnet, deren zeitliche Verteilung der Verfasser sorgfältig statistisch auswertet.

 

Seit 1418 bestand das jeweils nur für ein Jahr amtierende Villinger Stadtgericht aus dem ebenfalls jährlich neu gewählten Schultheißen sowie zwölf Urteilssprechern (darunter der Altschultheiß, der Amts- und der Altbürgermeister), an deren Urteil der Schultheiß gemäß seinem Amtseid gebunden war. Nach dem Stadtrecht von 1592 bestand eine Zuständigkeit des Schultheißen als Einzelrichter bei gichtigen (anerkannten) Schulden sowie bei streitigen Schulden bis zehn Schillingen, wobei der Schultheiß nach Pillichkeit entschied. Diese Tätigkeit ist nicht im Gerichtsbuch verzeichnet. Das Stadtgericht war demgemäß bei nicht anerkannten Schulden von mehr als zehn Schillingen zuständig.

 

Von den vom Verfasser anhand des Stadtrechts sowie der Eintragungen im Gerichtsbuch herausgearbeiteten Regeln des Prozessrechts können nur die wichtigsten hier vorgestellt werden. Zu Recht entnimmt Fischer aus dem Fehlen allgemeiner Regeln, dass grundsätzlich jedermann parteifähig und prozessfähig war. Die Prozessfähigkeit fehlte jedoch den unverheirateten und verwitweten Frauen, denen vom Rat ein Vogt beigeordnet wurde, sowie Personen unter 25 Jahren, die unter der Vogtschaft ihres Vaters standen. Nach dem Stadtrecht von 1592 bedurften ferner körperlich und geistige Gebrechliche sowie Verschwendungssüchtige eines Vogtes, wofür sich allerdings im Gerichtsbuch kein Beleg findet. Die Auswertung der Eintragungen belegt, dass es den Parteien frei stand, sich durch Fürsprecher beistehen zu lassen, wobei diese gemäß süddeutscher Praxis bis etwa 1650 aus dem Kreis der Schöffen bestimmt wurden. Der Fürsprecher trat neben der Partei auf und konnte deren Säumnis nicht verhindern. Dagegen handelten bevollmächtigte Anwälte an Stelle der Parteien, seit 1652 nennt das Gerichtsbuch auch Prokuratoren.

 

Das Verfahren begann mit einem obligatorischen Schlichtungsversuch vor dem Schultheißen. Die Klage wurde schriftlich erhoben, die Zulässigkeit mündlicher Klageerhebung kann der Verfasser nach Heranziehung anderer Quellen aber nicht ausschließen. Aus den Gerichtsbucheinträgen lässt sich ersehen, dass die Klagen durchwegs die Parteien und einen Antrag aufführten, in einem Fall aus dem Jahr 1620 wurde eine ohnformbliche Clag abgewiesen, allerdings ohne Mitteilung des förmlichen Mangels. Im erstinstanzlichen Verfahren mussten nur ausländische Kläger einen Gefährdeeid und eine Prozesskaution leisten.

 

Erschien der Beklagte auf die Ladung hin nicht, führte schon diese erstmalige Säumnis dazu, dass der Klage ohne weiteres stattgegeben wurde. Zudem konnte der Säumige eine Buße verwirken. Hatte sich der Beklagte dagegen einmal eingelassen, konnte das Stadtgericht auf seine ausreichende Entschuldigung hin die Verhandlung vertagen. Die Säumnis des Klägers hatte die Abweisung der Klage zur Folge.

 

Als Verfahrensprinzipien erkennt der Autor den Dispositionsgrundsatz und den Verhandlungsgrundsatz des gemeinen Prozessrechts sowie die generelle Wahrung des rechtlichen Gehörs. Die Parteien konnten sowohl mündlich als auch schriftlich vortragen, wobei sich die Wechselrede in den Eintragungen bis zur Triplik verfolgen lässt. Aufgrund der angebotenen Beweise erließ das Stadtgericht ein Beiurteil über die Beweiserhebung. Der Verfasser wertet die untersuchten Einträge dahin aus, dass den Kläger die Beweislast für die anspruchsbegründenden Tatsachen traf. Allerdings führt er auch Einträge an, in denen der Kläger beweisen musste, dass die Schuld noch nicht bezahlt worden war. Häufigstes Beweismittel war die Zeugenaussage, die in den meisten Fällen nicht vor dem Stadtgericht, sondern vor einem Kommissar abgenommen wurde. Einige Zeugenvernehmungen vor dem Stadtgericht bespricht der Verfasser ausführlich, wobei sich zeigt, dass verwandtschaftliche Beziehungen zu den Parteien die Zeugeneigenschaft nicht ausschlossen. Die Zeugen hatten einen Voreid zu leisten. Urkunden mussten in der Verhandlung verlesen werden. Drei Eintragungen erwähnen Sachverständige (Rossbeschauer, Untergänger zur Grenzfeststellung). Der Parteieid begegnet in der Form des juramentum suppletorium, mit dem die Partei die bisherigen Beweise ergänzen konnte, während der mittelalterliche Reinigungseid des Beklagten nicht mehr vorkommt. Da auch nach der Beweiserhebung noch vorgetragen werden konnte, mussten die Parteien die Tatsachenverhandlung schließen, indem sie den Prozess „zu Recht setzen“. Da damit nicht über den Prozessgegenstand, sondern über die Beibringung des Tatsachenstoffes sowie der Einwendungen verfügt wurde, handelte es sich weniger um einen Ausfluss des Dispositionsgrundsatzes, wie der Verfasser meint, sondern um eine Anwendung der Verhandlungsmaxime.

 

Fischer behandelt anschließend besondere Gerichtstage wie das von auswärtigen Klägern angestrengte Gastgericht, das sich durch schnelleren Ablauf auszeichnete und für das eine besondere Gebühr anfiel. Ferner weist er die Tätigkeit des Stadtgerichts als Konkursgericht (Gantgericht) nach, wobei schon das Stadtrecht von 1592 vorsah, dass die Gläubiger ihre Ansprüche binnen drei Monaten anmelden mussten. Sodann wurden die Forderungen nach einer bestimmten Reihenfolge erfüllt, wobei Ansprüche der Stadt, der Kirchen sowie verbriefte und gerichtlich anerkannte Ansprüche Vorrang hatten, gefolgt von Lidlohn, sonstigen Forderungen einheimischer und schließlich auswärtiger Gläubiger. In 36 Gerichtsbucheinträgen findet der Autor diese Regeln in der Praxis bestätigt.

 

Zur Urteilsfindung geben die untersuchten Quellen wenig her. Im untersuchten Zeitraum holte man in lediglich vier Fällen den Rat von Rechtsgelehrten ein, wobei aber nicht mitgeteilt wird, um welche Juristen es sich dabei handelte. Fischer vermutet, dass es Personen aus dem katholischen, vorderösterreichischen Rechtskreis waren. Die Gerichtsentscheidung, die meist als Urteil bezeichnet wurde, konnte als Beiurteil eine Auflage an die Parteien oder eine Beweisanordnung sein. Als Endurteil konnte es entweder einstimmig oder gezweit als Mehrerurteil der Mehrheit und als Minderurteil der Minderheit der Urteiler ergehen. Ihrem Inhalt nach unterscheidet die Abhandlung allgemeine Leistungsurteile, mit denen der Beklagte angült oder inhaltlich gleichbedeutend zur Zahlung verurteilt wurde, sowie wenige Urteile auf Herausgabe von Sachen oder auf Räumung. Der Verfasser weist aber auch aus dem mittelalterlichen Verfahrensrecht bekannte zweizüngige Urteile noch in den Jahren ab 1660 nach, mit denen der Klage vorbehaltlich eines besseren Beweises durch die Beklagten stattgegeben wurde. Eine Begründung enthielten die Urteile zu Beginn des Untersuchungszeitraumes in der Regel nicht, seit dem Amtsantritt eines neuen Schreibers im Jahre 1651 zeigte sich eine Tendenz zu kurzer Begründung.

 

Für die Appellation gab es nach dem Stadtrecht von 1592 einen differenzierten Instanzenzug mit Stadtgericht, Rat und vorderösterreichischer Regierung. Lag die Beschwer unter 20 Gulden, gab es nur die Appellation zum Rat. War der Unterlegene durch ein Mehrerurteil mit 20 Gulden oder mehr beschwert, konnte er zwischen dem Rechtszug zum Rat oder unmittelbar zur Regierung wählten. Bestätigte der Rat das Urteil, wurde es rechtskräftig, bestätigte der Rat dagegen das Minderurteil, konnte die Gegenpartei an die Regierung appellieren. Diese war auch alleinige Appellationsinstanz, wenn ein einstimmiges Urteil des Stadtgerichts angefochten wurde. Die Appellation wurde beim iudex a quo eingelegt, das heißt vor dem Stadtgericht, was entweder mündlich unmittelbar nach der Verkündung des erstinstanzlichen Urteils (in Fußstapfen, stante pede et viva voce) oder schriftlich innerhalb von zehn Tagen geschehen musste. Der Appellant hatte ferner einen Kalumnieneid zu leisten. Das erstinstanzliche Gericht prüfte die Zulässigkeit des Rechtsmittels und ließ die Appellation gegebenenfalls zu.

 

Abschließend wendet sich die Arbeit der Zwangsvollstreckung zu. Gemäß dem Stadtrecht von 1592 mahnte bei anerkannten Schulden der Schultheiß zunächst den Schuldner. Blieb dies fruchtlos, ordnete er die Verhaftung des Schuldners an. Diese Fälle sind nicht im Gerichtbuch verzeichnet, weil – wie der Verfasser mit Recht meint – das Verfahren nicht in die Zuständigkeit des Stadtgerichts fiel. Zur Beitreibung streitig ausgeurteilter Forderungen wurde der Gläubiger zunächst ermächtigt, beim Schuldner ein Pfand abzuholen. Dieses musste er sieben Tage und sieben Nächte behalten und anschließend mit Zeugen ausbieten sowie dem Schuldner zur Lösung verkünden. Führte der Pfandverkauf nicht zur Befriedigung, konnte der Gläubiger einen vom Stadtgericht bewilligten und vom Schultheiß erteilten Gantbrief gegen den Schuldner erwirken, der letztlich zur Stadtverweisung führen konnte.

 

Die Gerichtsbucheinträge, von denen die Arbeit einen Teil vollständig oder auszugsweise wiedergibt, dokumentieren die vom Stadtgericht behandelten Rechtsfälle oft nur fragmentarisch. Dadurch wurde die Auswertung erschwert, einiges zur Prozesspraxis des Villinger Gerichts kann lediglich vermutet werden. Gleichwohl wäre es wünschenswert gewesen, wenn der Autor eine Analyse des Terminsystems versucht hätte. Insgesamt bieten die von Fischer untersuchten Quellen das Bild eines gemessen am prozessrechtlichen Standard des 17. Jahrhunderts eher einfacheren Verfahrens, das sich vom mittelalterlichen Ablauf bereits deutlich unterscheidet und die Merkmale des römisch-kanonischen Prozesses aufgenommen hat. Dem Verfasser ist zu bescheinigen, dass er das schwierige Material sehr sorgfältig ermittelt und einordnet, wobei er durchwegs zu überzeugenden Resultaten gelangt. Sinnvollerweise vergleicht er seine Befunde immer wieder mit den Quellen benachbarter Gebiete. Die angefügten Schaubilder, Namensverzeichnisse der Prozessbeteiligten und Fotoaufnahmen des Gerichtsbuches erhöhen die Anschaulichkeit der Abhandlung. Dass ein Stichwortverzeichnis fehlt, ist angesichts des sehr ausführlichen Inhaltsverzeichnisses zu verschmerzen.

 

Bad Nauheim                                                                                                 Reinhard Schartl