Fischer, Christian, Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen im Zivilrecht (= Jus Privatum 123). Mohr (Siebeck), Tübingen 2007. XXVI, 611 S. Besprochen von Gerhard Köbler.

 

Die umfangreiche Arbeit ist die von Bernd Rüthers in Konstanz geförderte und von Karl-Georg Loritz in Bayreuth betreute Habilitationsschrift des nach dem Studium der Rechtswissenschaft, Politologie, Philosophie und Psychologie und mehrjähriger Tätigkeit als Rechtsanwalt 1997 über die tarifwidrigen Betriebsvereinabrungen in Konstanz promovierten Verfassers. Sie ist nicht in erster Linie rechtsgeschichtlich, sondern eher rechtstheoretisch ausgerichtet. Sie befasst sich aber mit der Entwicklung der Rechtsfortbildung und betrifft damit einen in der Geschichte verlaufenden rechtlichen Wandel, der eine allgemeine Frage berührt.

 

Gegliedert ist sie in eine Einführung und fünf Teile. In der kurzen Einführung beschreibt der Verfasser in Vorbemerkungen terminologische Probleme, den Untersuchungsgegenstand, die verdrängte prozessuale Seite der Problematik, die Ziele der Arbeit und ihre Problemfülle und Materialfülle. Danach erklärt er die von ihm verwendete Methode und legt die Einzelschritte seiner Untersuchung dar.

 

Der erste Teil widmet sich vertieft dem Thema und der Terminologie. Er zeigt die Topik und Topoikataloge zwischen dem antiken Cicero und dem modernen Viehweg auf und erweist den Rechtsfortbildungsbegriff als schillernd. Auf dieser Grundlage führt er einzelne Facetten von Rechtsfortbildung vor und durch ein kurzes Begriffsverzeichnis von Rechtsfortbildung (über verdeckt, Topos, Auslegung, Rechtsfindung, Entscheidungsfindung) bis Entscheidungsfindung abgeschlossene terminologische Ergänzungen ein.

 

Der zweite Teil behandelt verdeckte Rechtsfortbildungen als tatsächliche Rechtsproblematik. Er geht von der Entscheidungsfindung und Entscheidungsbegründung der Gegenwart aus und weist unter historischem Ausgriff auf Kaiserreich und Weimar auf einen Paradigmenwechsel bei der Rechtsfindung hin, wobei der Verfasser den die Rechtsprechung der Zivilgerichte zum Geldersatz bei Verletzungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts billigenden Sorayabeschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 14. Februar 1973 als wesentliche Zäsur einordnet. Im Anschluss hieran nimmt er zu Paradigmenwechsel und Begründungspraxis ausführlich Stellung, bietet Streiflichter der Geschichte verdeckter Rechtsfortbildungen seit der frühen Rechtsprechung des Reichsgerichts, sucht nach möglichen Ursachen verdeckter Rechtsfortbildungen (Abwälzen von Verantwortung, richterlicher Selbstschutz, Arbeitserleichterung, Erschleichen von Autorität, horror vacui, Bequemlichkeit, elitäres Selbstverständnis, methodische Vorstellungen, Juristenausbildung, § 310 ZPO) und erörtert das Für und Wider verdeckter Rechtsfortbildung.

 

Der dritte Teil geht auf Rechtsfragen verdeckter Rechtsfortbildung ein und beginnt mit einem Überblick zur rechtlichen Problematik Danach legt er die normativen Vorgaben des begründeten Entscheidens vor. Schließlich zeigt er die rechtlichen Konsequenzen verdeckter Rechtsfortbildungen auf.

 

Der vierte Teil stellt einzelne Topoi versteckter Rechtsfortbildungen auf. Nach Erarbeitung einzelner Arten juristischer Argumente bietet er ein Verzeichnis von Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen, das sich aus Autoritätsargumenten, ontologischen Topoi, begrifflichen Topoi, dogmatischen Topoi, Logik als Topos, methodischen Topoi und folgenorientierten Topoi zusammensetzt. Im Ergebnis sieht der Verfasser die Topoi verdeckter Rechtsfortbildung als Leerformeln an.

 

Deswegen zieht er im fünften Teil Folgerungen für ein rationaleres Modell begründeten Entscheidens. Dabei stellt er Entscheidung und Begründung sowie Auslegung und Rechtsfortbildung einander gegenüber und unterscheidet zwei Stufen der Rechtsfindung. Dementsprechend sieht er begründetes Entscheiden als besondere Aufgabe an, weil die als legitime Aufgabe der Rechtsprechung anerkannte Rechtsfortbildung auch in der Begründungspraxis zum Ausdruck kommen und der Eindruck aufgegeben werden muss, dass nach wie vor Gesetze auch in diesen Fällen lediglich ausgelegt und angewendet werden müssten.

 

Nach den kurz und klar am Ende zusammengefassten Ergebnissen des Verfassers ist es an der Zeit, die Leerformeln zu entmythologisieren und juristische Argumente nicht länger leerformelhaft einzusetzen. Die in den Leerformeln tatsächlich verborgenen realen Wertungsgesichtspunkte seien zu ermitteln und an Hand der normativen Vorgaben auf ihre Berechtigung zu überprüfen. Bestünden sie diese, so müssten sie als einfache und einleuchtende Folge der sorgfältigen Untersuchung einer wichtigen Frage in der Begründung auch offen zum Ausdruck gebracht werden, was hoffentlich in Zukunft häufiger geschieht als bisher.

 

Innsbruck                                                                                                       Gerhard Köbler