Bismarck, Otto von, Gesammelte Werke, Neue Friedrichsruher Ausgabe, hg. v. Canis, Konrad/Gall, Lothar/Hildebrand, Klaus/Kolb, Eberhard. Abteilung III 1871-1898, Schriften Bd. 1 1871-1873, bearb. v. Hopp, Andrea, Schöningh, Paderborn 2004. LXXXII, 637 S. Besprochen von Andreas Thier.

 

Editionen von Texten Ottos von Bismarck haben eine lange Tradition. Noch während der Regierungszeit des ersten deutschen Reichskanzlers entstanden etwa mit den Dokumentationen Heinrich von Poschingers[1] Textmagazine, die trotz ihrer Unzulänglichkeiten bis heute benutzt werden. Für lange Zeit maßgebend geblieben ist allerdings die zwischen 1924 und 1935 publizierte „Friedrichsruher Ausgabe“[2], die diese Bezeichnung der (Mit-)Verwertung von Materialien verdankt, die in Bismarcks Ruhesitz Friedrichsruh verwahrt wurden. Allerdings leidet diese Sammlung insbesondere unter der Aufspaltung zwischen „Briefen“ und „Politischen Schriften“ und ist ungeachtet ihrer bibliographischen Bezeichnung „Gesammelte Werke“ alles andere als vollständig. Gerade die Zeit der Reichskanzlerschaft Bismarcks ist mit lediglich einem Band bei den „Politischen Schriften“ vertreten[3]. Zwar haben später entstandene Sammlungen wie etwa die Textzusammenstellungen Hans Goldschmidts[4] und Michael Stürmers[5] etwas zur Schließung dieser Lücken beigetragen, konnten aber angesichts der Fülle der Textzeugnisse zwangsläufig nur fragmentarisch bleiben oder mussten sich wie die Dokumentation von Florian Tennstedt, Heidi Winter, Wolfgang Ayass und Karl-Heinz Nickel auf einzelne Themenfelder wie die Sozialpolitik beschränken[6]. Die chronologischen Handlungszusammenhänge in Bismarcks politischem Handeln müssen dadurch in den Hintergrund treten. Vor diesem Hintergrund ist die Konzeption der großangelegten „Neuen Friedrichsruher Ausgabe“ entstanden, zu welcher der vorliegende Band zählt[7]. Diese Edition ist dem Ziel verpflichtet, die auf Bismarck zurückgehenden Texte wenn schon nicht vollständig, so doch aber zumindest in einer Auswahl zu erschließen, welche die Dynamik der politischen Entwicklung in ihrer ganzen Breite fassbar macht. Das ist, um es vorwegzunehmen, im vorliegenden Werk auch eindrucksvoll gelungen. Der besondere Wert dieser Edition beruht nicht zuletzt darauf, dass mehr als 50 % der hier versammelten insgesamt 506 Texte bislang nur archivalisch zugänglich waren, wobei Dokumente aus dem Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes, aus dem Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz sowie aus den Beständen des Bundesarchivs dominieren. Doch auch die systematische Auswertung gedruckter Quellenbestände wie der ersten beiden Bände der „Großen Politik der europäischen Kabinette“[8], des einschlägigen Bandes der „Friedrichsruher Ausgabe“[9] oder des ersten Bandes der bereits kurz erwähnten „Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik“[10] ist für die weitere Auseinandersetzung mit der Geschichte des Bismarckreiches ausgesprochen hilfreich. Denn auf diese Weise werden die in ihrer zum Teil breiten Streuung bisweilen nur schwer zu überblickenden publizierten Textzeugnisse aus Bismarcks Regierungszeit in eine in dieser Form bislang nicht existierende editorische Einheit gebracht. Nicht mehr berücksichtigt werden konnten leider die 2004 publizierten einschlägigen Regestenbände der Protokolle des Preußischen Staatsministeriums[11], die aber sicherlich in künftigen Bänden der neuen Editionsreihe Verwendung finden werden. Zumindest nachgedacht werden sollte im weiteren Fortgang des Editionsprojektes auch über ein Sachregister, auf das im vorliegenden Band leider verzichtet wurde. In begrenztem Umfang wird dieses Defizit allerdings kompensiert durch das Verzeichnis der abgedruckten Texte (XIX-LXXXII), in das auch die – stets ebenso prägnant wie präzise formulierten – Regeste zu den einzelnen Dokumenten Aufnahme gefunden haben. Diesem Verzeichnis vorangestellt ist eine knappe Einleitung der Bearbeiterin Andrea Hopp (XI-XVIII). In der bilanzierenden Zusammenschau der edierten Dokumente wird dabei gezeigt, wie sehr Bismarck innenpolitisch und außenpolitisch um die Konsolidierung des neu entstehenden Reiches bemüht war. Leider wird in diesem Zusammenhang nicht einmal ansatzweise der Versuch unternommen, die hierbei angesprochenen Themen – etwa die Auseinandersetzungen um die Kreisreform, die kurz nach der Reichsgründung einsetzende krisenhafte Zuspitzung der staatlichen Beziehungen zum politischen Katholizismus oder die Reaktion auf die Gründung der ersten Internationale – in den Zusammenhang der zum Teil breit geführten literarischen Debatte zu stellen. An diesem Punkt bleibt das vorliegende Werk deutlich hinter dem Niveau anderer vergleichbarer Projekte zurück. Wenn es etwa heißt, „bekannt ist, dass Bismarck… ein Bündnis mit den modernen Kräften der Zeit einging“ (XIII), wenn gesagt wird, es werde „kein neues, wohl aber ein detailgetreueres Bild“ von Bismarcks Außenpolitik 1871/1873 sichtbar (XV) oder betont wird, „nach allgemeiner Einschätzung“ (XII) sei Bismarck 1871 auf dem Höhepunkt seiner Karriere gewesen, dann wird gerade hier das Fehlen weiterführender Literaturhinweise besonders deutlich. Das gilt auch für die edierten Dokumente selbst, deren Einordnung durch entsprechende weiterführende Hinweise wesentlich hätte erleichtert werden können. Dass diese Art der Gestaltung auch beim Umgang mit größeren Mengen archivalischer Texte möglich ist, haben in neuester Zeit die bereits kurz erwähnten Regestenbände zu den Protokollen des preußischen Staatsministeriums[12] gezeigt, deren Quellenkern aus bislang nicht edierten Texten besteht, die allerdings anders als beim vorliegend benutzten Material aus einer weitgehend geschlossenen archivalischen Überlieferung stammen. Doch ungeachtet dieser Probleme erschließt die neue Edition auch und gerade der rechtshistorischen Analyse des Bismarckreiches neue Materialien. So werden etwa die Spannungen aus dem komplizierten Miteinander von Zentralstaat, preußischer Staatlichkeit und den anderen Bundesstaaten immer wieder deutlich wie etwa die Korrespondenz Bismarcks mit den preußischen Gesandten an den Höfen der deutschen Einzelstaaten zeigt (vgl. etwa Nrn. 239, 240, 366) oder auch seine Stellungnahmen zur Rolle des Reiches beim (freilich erst 1884 erfolgten) Ableben des erbenlosen braunschweigischen Herrschers (Nrn. 419, 426, 455) erweisen. Die Ausformung einer neuen Staatlichkeit zeigt sich aber immer wieder auch auf der Ebene des vermeintlich nur Formellen wie etwa im Zusammenhang mit der Titulatur des Reichskanzlers (Nr. 96), der Ausgestaltung der Wappen und Abzeichen des Reiches (Nr. 145) oder der protokollarischen Position des bayerischen Gesandten bei der Stellvertretung eines kaiserlichen Repräsentanten (Nr. 138). Doch auch zu einzelnen Feldern der Gesetzgebung findet sich eine Fülle zum Teil neuer Texte wie etwa zum Projekt der Zivilprozessordnung (Nr. 181), des Militärstrafrechts (Nr. 281), zum Unterstützungswohnsitz in Preußen (Nr. 391), zur Kreisreform in den östlichen preußischen Provinzen (etwa Nrn. 341, 343, 345, 346), die Regelungen über das Banken- und Geldwesen (Nrn. 110, 187, 376), zum Reichspressegesetz (Nr. 432) oder zur Steuerrechtspolitik (Nrn. 208, 213). Nur am Rande sei darauf hingewiesen, dass der vorliegende Band auch ein – soweit ersichtlich – bislang unbekanntes, seinem Inhalt nach allerdings für seine frühe steuerrechtspolitische Position kennzeichnendes Beschwerdeschreiben Bismarcks im Zusammenhang mit seiner Veranlagung zur kommunalen Einkommensteuer enthält (Nr. 197). Zum streckenweise geradezu beherrschenden Problemfeld wurde allerdings die Neubestimmung der staatlichen Position gegenüber der katholischen Kirche. Wie in der Einleitung herausgehoben, zeigt sich dabei nur allzu deutlich, dass Bismarck bereits seit 1871 „die Verschärfung des Kulturkampfs mit veranlasst hat“ (XIV, vgl. dazu etwa Nrn. 57, 307, 315-318, 326, 364, 373). Dabei dominierten innenpolitische Motive, denn die „feindlichen Tendenzen gegen die Reichsregierung“ in der „ Haltung der clericalen Fraction“ (Nr. 51, S. 57) und die „Vermischung der kirchlichen mit den politischen Elementen“ (Nr. 286, S. 321) machten für Bismarck den politischen Katholizismus zu einem politischen Gegner allererster Ordnung. Zunächst vergleichsweise weniger Raum nahm demgegenüber die Entstehung der sozialistischen Bewegung in der Korrespondenz Bismarcks ein, die er allerdings mit wachsender Sorge beobachtete (vgl. etwa Nrn. 127, 198, 209, 433). Die bereits lange vor der Sozialversicherungsgesetzgebung einsetzenden Bemühungen Bismarcks um eine Verbesserung der Situation der Arbeiterschaft finden hier ihre Entsprechung. Doch auch ein kennzeichnendes Merkmal für die Regierungspraxis Bismarcks im Allgemeinen wird eindrucksvoll dokumentiert: Immer wieder zeigt sich Bismarcks geradezu chronische Befürchtung, die Kontrolle über einzelne Bereiche des zusehends komplexer werdenden Regierungsapparates zu verlieren. Das wird besonders deutlich in seinen häufigen Versuchen, potentielle Gegner wie Harry Graf Arnim-Suckow oder Albrecht von Stosch direkt (etwa Nr. 483) oder indirekt (durch Einschaltung Wilhelms I., vgl. etwa Nr. 481) in seinem Sinn zu disziplinieren. Zwar sind diese Phänomene seit langem bekannt. Doch die chronologische Dichte der vorliegenden Edition lässt die Dynamik auch in diesem Bereich von Bismarcks politischem Handeln besonders plastisch werden. Das gilt auch für ein anderes, seit jeher bekanntes Element in Bismarcks Herrschaftstechnik: Mehrfach wird deutlich, dass und wie Bismarck gezielt regierungsnahe Presseorgane einsetzte (Nrn. 174, 182, 242). Im Einzelfall scheute Bismarck nicht einmal davor zurück, einen ihm nach allgemeiner Wahrnehmung nahestehenden Blatt wie der „Norddeutschen Allgemeinen Zeitung“ öffentlich „jede Aufsicht oder Beeinflussung von Seiten der Regierung“ (Nr. 159, S. 171) abzusprechen. Solche Vorgänge lassen sich allerdings auch als Ausdruck zunehmender Hilflosigkeit gegenüber einer wachsenden Pressemacht deuten, die in Bismarcks Plänen zur „Umgestaltung des officiellen Preßwesens“ (Nr. 406, S. 485) einen zumindest möglichen Beleg findet. Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund wäre gerade hier ein weiterführender Literaturhinweis hilfreich gewesen. Doch trotz solcher Einwände bleibt festzuhalten, dass die Arbeit Andrea Hopps für die weitere Auseinandersetzung mit der Bismarckzeit unverzichtbar ist. Die Fülle der verarbeiteten Texte und der konsequent verfolgte Ansatz ihrer chronologischen Präsentation lassen diese Edition zu einem Standardwerk werden.

 

Zürich                                                                                                            Andreas Thier



[1] Heinrich von Poschinger (Hrsg.), Fürst Bismarck als Volkswirt; Bd. 1: Bis zur Übernahme des Handelsministeriums (1880), Berlin 1889 (= Dokumente zur Geschichte der Wirtschaftspolitik in Preußen und im Deutschen Reich, Bd. 1); Bd. 2: Von Übernahme des Handelsministeriums bis Ende 1884, Berlin 1890 (= Dokumente zur Geschichte der Wirtschaftspolitik in Preußen und im Deutschen Reich, Bd. 3); Heinrich von Poschinger. (Hrsg.), Aktenstücke zur Wirtschaftspolitik des Fürsten Bismarck; Bd. 1: Bis zur Übernahme des Handelsministeriums (1880), Berlin 1890 (= Dokumente zur Geschichte der Wirtschaftspolitik in Preußen und im Deutschen Reich, Bd. 2); Bd. 2: Von [der] Übernahme des Handelministeriums bis Ende 1884, Berlin 1891 (= Dokumente zur Geschichte der Wirtschaftspolitik in Preußen und im Deutschen Reich, Bd. 4). Zu den Problemen dieser Sammlungen s. Florian Tennstedt, Heidi Winter, Wolfgang Ayass, Karl-Heinz Nickel, Einleitung, in: Peter Rassow, Karl Erich Born, Hansjoachim Henning, Florian Tennstedt (Hrsg.), Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, Abteilung 1: Von der Reichsgründungszeit bis zur kaiserlichen Sozialbotschaft (1867-1881), Bd. 1: Grundfragen staatlicher Sozialpolitik. Die Diskussion der Arbeiterfrage auf der Regierungsseite vom preußischen Verfassungskonflikt bis zur Reichstagswahl von 1881, bearb. v. Florian Tennstedt, Heidi Winter, Wolfgang Ayass, Karl-Heinz Nickel, Stuttgart/ Jena/ New York 1994, XXI-LVII, hier XXXVIII-XL. S. a. Gerhard A. Ritter, Sozialpolitik im Zeitalter Bismarcks. Ein Bericht über neue Quelleneditionen und neue Literatur, in: HZ 265 (1997), 683-720, 685.

[2] Otto von Bismarck, Die gesammelten Werke, Bd. 1-15, Berlin 1924-1935. Zu diesem Werk s. a. Rudolf Morsey, Die oberste Reichsverwaltung unter Bismarck 1867-1890, Münster i. W. 1957 (= Neue Münstersche Beiträge zur Geschichtsforschung, Bd. 3), 5-7.

[3] Otto von Bismarck, Die gesammelten Werke (o. Anm. 2), Bd. 6c: Politische Schriften 1871 bis 1890, ed. Werner Frauendienst, Berlin 1935.

[4] Hans Goldschmidt (Hrsg.), Das Reich und Preußen im Kampf um die Führung. Von Bismarck bis 1918, Berlin 1931.

[5] Michael Stürmer (Hrsg.), Bismarck und die preußisch-deutsche Politik 1871 - 1890, 3. Auflage München 1978.

[6] Vgl. Tennstedt, Winter, Ayass, Nickel, Grundfragen der staatlichen Sozialpolitik (o. Anm. 1).

[7] Bereits erschienen ist auch Bd. 2 der Reihe: Konrad Canis, Lothar Gall, Klaus Hildebrand, Eberhard Kolb (Hrsg.), Otto von Bismarck. Gesammelte Werke, Abteilung III: 1871-1898, Schriften, Band 2: 1874-1876, bearb. v. Rainer Bendick, Paderborn 2005.

[8] Johannes Lepsius, Albrecht Mendelssohn Bartholdy, Friedrich Thimme (Hrsg.), Die Große Politik der europäischen Kabinette von 1871 – 1914. Sammlung diplomatischer Akten des Auswärtigen Amtes, Bd. 1: Der Frankfurter Friede und seine Nachwirkungen 1871 – 1877, Berlin 1922; Bd. 2: Der Berliner Kongreß und seine Vorgeschichte, Berlin 1922.

[9] Bismarck, Werke VIc (o. Anm. 3).

[10] Vgl. oben, bei und in Anm. 6.

[11] Rainer Paetau unter Mitarbeit von Hartwin Spenkuch (Bearb.), Die Protokolle des Preußischen Staatsministeriums 1817–1934/38, Band 6/I - II: 3. Januar 1867 bis 20. Dezember 1878, Hildesheim/Zürich/New York 2004, online im Internet, URL: http://www.bbaw.de/bbaw/Forschung/Forschungsprojekte/preussen_protokolle/bilder/PDFBand61/http://www.bbaw.de/bbaw/Forschung/Forschungsprojekte/preussen_protokolle/bilder/PDFBand62 (Letzter Zugriff: 12. September 2007).

[12] Vgl. Paetau, Spenkuch, Protokolle (o. Anm. 11), 1-46 (für die umfangreich dokumentierte Einleitung), 55-504 (für die Regesten selbst).