Baumann, Imanuel, Dem Verbrechen auf der Spur. Eine Geschichte der Kriminologie und Kriminalpolitik in Deutschland 1880 bis 1980 (= Moderne Zeiten 13). Wallstein, Göttingen 2006. 429 S. Besprochen von David von Mayenburg.

 

Ein Buch, das zumindest teilweise „hinter Gefängnismauern“ verfasst wurde (S. 31), weckt schon aus diesem Grund das Interesse des Rechtshistorikers. Doch anders als einer der geschilderten Akteure, der bizarre Kriminologe Wilhelm Sauer (S. 158), saß der Autor dieser Studie nicht wegen eines Delikts ein, sondern hatte auf der Grundlage eines DFG-geförderten Freiburger Forschungsprojekts vom baden-württembergischen Justizminister die Gelegenheit erhalten, sensible Vollzugsakten vor Ort in den baden-württembergischen Justizvollzugsanstalten einzusehen und damit auf Quellen zuzugreifen, die Rechtshistorikern zumeist verschlossen sind. Es muss als seltener Glücksfall gelten, dass einem Wissenschaftler die Möglichkeit eröffnet wird, Personalakten von sicherungsverwahrten Straftätern wissenschaftlich auszuwerten, und dabei teilweise sogar auf Akten von Gefangenen zurückzugreifen, die derzeit noch einsitzen.

 

Doch die besondere Bedeutung der Studie liegt nicht nur in diesem privilegierten Zugriff auf die Quellen. Vor allem hat Baumann ein sorgfältig recherchiertes und von der ersten bis zur letzten Seite spannendes Buch geschrieben, das gleichzeitig in vielerlei Richtungen wichtige Impulse für die weitere Forschung setzt.

 

Gesamtdarstellungen zur Geschichte der Kriminologie aus der Feder von Fachhistorikern erscheinen in den letzten Jahren allerdings in immer rascherer Frequenz: Nach den beiden maßstabsetzenden Studien Richard Wetzells („Criminal Law Reform in Imperial Germany“, Stanford, Diss. 1991 und „Inventing the Criminal“, Chapel Hill 2000), sowie der stark theoriegeleiteten Schrift Peter Beckers über „Verderbnis und Entartung“ (Göttingen 2002), folgten die nicht weniger bedeutenden Bücher Silviana Galassis zur „Kriminologie im Deutschen Kaiserreich“ (Stuttgart 2004) und Christian Müllers zur „Verbrechensbekämpfung im Anstaltsstaat“ (Göttingen 2004). Auch Rechtshistoriker interessieren sich in letzter Zeit vermehrt für die von den Strafrechtshistorikern bislang eher stiefmütterlich behandelte Kriminologiegeschichte. Beispielhaft für die hier geleistete Arbeit ist Ylva Greves Studie zur Vorgeschichte der Kriminalpsychologie („Verbrechen und Krankheit“, 2004). Angesichts dieser Angebotsfülle mag Baumanns Studie auf den ersten Blick entbehrlich erscheinen. Auch scheint sein Vorhaben beinahe undurchführbar, wird doch versucht, nicht nur eine Wissenschaftsgeschichte der Kriminologie, sondern auch eine Analyse der Kriminalpolitik und, so ist nach Lektüre der Einleitung zu ergänzen, auch der Strafpraxis für einen Zeitraum von immerhin 100 Jahren vorzulegen. Doch glücklicherweise erfüllt der Text nicht, was der etwas ungeschickt gewählte Titel befürchten lässt: Das Hauptinteresse Baumanns liegt weniger auf den Jahren 1880 bis 1949, die auf lediglich knapp 80 Seiten behandelt werden, sondern auf der von der Forschung bis heute fast völlig ausgesparten Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg.

 

In seiner knapp gehaltenen Einleitung entwirft Baumann sein Forschungsprogramm. Dabei wählt er nicht den Weg einer theorieschwangeren Foucaultschen Diskursanalyse, sondern ein erfreulich pragmatisches methodisches Konzept, das er selbst als „interdisziplinär“ bezeichnet (S. 23). So werden quantitative und qualitative Analysen, biographische Skizzen, wissenschaftsgeschichtliche, sozialgeschichtliche und gesellschaftsgeschichtliche, rechtshistorische und institutionenhistorische Ansätze überzeugend miteinander verbunden um den überaus komplexen Zusammenhängen zwischen kriminologischer Wissenschaft, Kriminalpolitik und Strafpraxis auf den Grund zu gehen. Die Verknüpfung dieser Ansätze gelingt geradezu meisterhaft; in jedem Abschnitt werden dabei wissenschaftshistorische, rechtspolitische und vollzugsbezogene Aspekte zwar jeweils getrennt voneinander behandelt, Baumann erreicht aber durch seine Darstellung, dass die Wechselbezüglichkeit dieser Aspekte stets transparent und analytisch nutzbar wird.

 

Trotz der Vorzüge dieses Ansatzes hätte es allerdings nahe gelegen, einige Worte zum Gegenstand der Arbeit zu verlieren. So werden die Begriffe „Kriminologie“ und „Kriminalbiologie“ auch für die Zeit nach 1945 ohne nähere Begründung immer wieder synonym gebraucht (z. B. S. 21, 27) und es bleibt verborgen, welche Ausschnitte des gewaltigen Spektrums der kriminalitätsbezogenen Wissenschaften Baumann denn nun genau in den Blick nimmt. Statt dessen erörtert er über mehrere Seiten zwar durchaus überzeugend, warum er auf die methodisch problematische Bezeichnung „Paradigmenwechsel“ verzichten will. Merkwürdig ist dann nur, dass er diesen Begriff immer wieder benutzt (vgl. z. B. die Überschrift, S. 273). Überzeugender ist dagegen die exemplarische Schwerpunktsetzung im südwestdeutschen Raum, die sich nicht zuletzt auch wegen der untersuchten Quellen anbot.

 

In sehr geraffter Form schildert Baumann in seinem ersten Kapitel die Entwicklung der kriminologischen Theorie, der Rechtspolitik und Vollzugspraxis im Zeitraum zwischen 1880 und 1945. Angesichts der guten Erschließung dieser Thematik durch die Literatur kann er hier auf die Auswertung archivalischer Quellen verzichten. Er zeigt, wie sich seit dem späten Kaiserreich im Kontext gesellschaftlicher Umbrüche und der zunehmenden Bedeutung rassenhygienischer Konzepte eine biologische Sichtweise des Verbrechens gegenüber den zunächst gerade auch von Juristen wie Franz von Liszt betonten umweltbezogenen Aspekten durchsetzte. Dabei handelte es sich, wie zu Recht hervorgehoben wird (S. 53), nicht um eine spezifisch deutsche, sondern um eine internationale Entwicklung. Als ambivalent beschreibt Baumann die seit den 1920er Jahren sukzessiv betriebene Einführung des Stufenstrafvollzugs, dessen liberale und repressive Züge er herausarbeitet (S. 59). Ausführlich erläutert er die Verzahnung dieser Vollzugsreform mit der kriminalbiologischen Forschung, wie sie vor allem in Bayern durch Theodor Viernstein erfolgreich institutionalisiert wurde. Allerdings vermisst man gerade in diesem Teil des Buchs eine Analyse gegenläufiger Tendenzen. Die wahrscheinlich durch die Konzentration auf die Münchener Kriminalbiologie begründete These einer zum Dritten Reich hin zunehmenden Ausblendung kritischer Stimmen gegenüber dem kriminalbiologischen Modell (S. 70) verkennt, dass gerade in der späten Weimarer Republik von Juristen (vor allem Moritz Liepmann und seine Schüler, sowie Rudolf Sieverts), aber auch von Psychiatern (Hans Walter Gruhle) der einseitige Biologismus Viernsteins und seiner Forschungsanstalt wachsender Kritik ausgesetzt war.

 

Im Nationalsozialismus wurde die Kriminologie stark für das Regime vereinnahmt. Baumann zeigt, wie sofort nach der Machtübernahme die Forderungen radikaler Kriminologen umgesetzt wurden. Dies betraf vor allem den Einsatz der Sterilisierung auf Grund des „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ vom 26. 7. 1933, und der „Entmannung“ von Sittlichkeitsdelinquenten nach Maßgabe des neu gefassten § 42k RStGB. Außerdem setzten die Nationalsozialisten mit dem „Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Besserung und Sicherung“ vom 24. 11. 1933 durch die Novellierung der §§ 20a, 42e RStGB erstmals die bereits seit langem erhobenen Forderungen nach Einführung einer Sicherungsverwahrung für Rückfalltäter um. Baumann zeigt auch statistisch, dass von all diesen Maßnahmen während des „Dritten Reiches“ nachhaltig Gebrauch gemacht wurde. Ihm ist darin zuzustimmen, dass dies einen Rückschritt gegenüber Ansätzen einer resozialisationsbezogenen Vollzugspolitik der vorangegangenen Jahrzehnte darstellte (S. 90). Schwieriger zu bewerten ist dagegen, inwieweit auch die Kriminalwissenschaft insgesamt in den Dienst der Vulgärideologie des Nationalsozialismus genommen wurde. Baumann wendet sich hier (S. 91) dezidiert gegen die von Richard Wetzell und Christian Müller vorgetragene These, nicht alle Kriminologen seien dem platten genetischen Determinismus und Rassismus der Nationalsozialisten gefolgt (S. 91) und es habe während des Dritten Reiches in der Kriminologie weiterhin „a considerable amount of ‚normal science’“ gegeben (Wetzell, Inventing the Criminal, S. 231). Dem hält Baumann entgegen, Teile der Kriminalwissenschaften hätten sich durch ihre nunmehr forcierten erbbiologischen Forschungen als Legitimationswissenschaft des „Dritten Reiches“ etabliert. Weiterhin sei ein kruder Determinismus gar nicht erforderlich gewesen, um von der „Normalwissenschaft“ abzuweichen. Außerdem sei im Dritten Reich die Institutionalisierung der Kriminalbiologie vorangetrieben worden und deren Mainstream auch personell eng mit dem Regime verzahnt gewesen. Schließlich sei, wie am Beispiel Edmund Mezgers demonstriert wird, durch die „Umcodierung“ leitender Begriffe wie „Minderwertigkeit“, „Rasse“, „Volk“, oder „Ausmerzung“ eine Adaption der Kriminologie an die Ziele des NS-Regimes erfolgt. Zu diesen Erwägungen Baumanns ließe sich einiges sagen. Problematisch erscheint zweierlei: Zum einen bleibt relativ unklar, was er als spezifisch „nationalsozialistisch“ begreift. So erschließt sich dem Rezensenten nicht, warum die Verstärkung des bereits seit den 20er Jahren durch Viernstein und andere kontinuierlich aufgebauten kriminalbiologischen Forschungs- und Kontrollapparats und die Einbindung der Gesundheitsämter widerlegen soll, dass Teile der NS-Kriminologie als „Normalwissenschaft“ weiterarbeiteten. Zum anderen wird zu wenig zwischen den verschiedenen Funktionen der Kriminologie unterschieden. Dass nämlich führende Kriminologen in den rechtspolitischen Diskurs eingriffen und sich hier als Legitimationswissenschaftler betätigten, kann kaum bestritten werden. Hiervon abzuschichten wären aber die von Baumann nicht weiter erörterte Frage nach Eingriffen in die Forschungsfreiheit durch die Unterbindung umweltbezogener und das Diktat anlageorientierter Forschungsprogramme (etwa Zwillingsforschung o.ä.) sowie vor allem nach Eingriffen in die methodische Lauterkeit der kriminologischen Forschung. Auch wenn Baumann die Forcierung - allerdings bereits zuvor begonnener - anlageorientierter Programme betont, so gelingt es ihm nicht wirklich überzeugend, die These Wetzells zu widerlegen, dass im Dritten Reich durchaus auch gegenläufige Forschungsergebnisse erzielt und kommuniziert werden konnten.

 

Die wirklich starken Teile des Buchs beginnen mit der Schilderung der „Stunde Null“ in den Gefängnissen der Nachkriegszeit, die durch die Beschreibung von Einzelschicksalen illustriert wird. Die Befreiung der Stadt Freiburg durch alliierte Truppen führte im April 1945 auch zur Freisetzung nahezu aller noch im Gefängnis befindlichen Sträflinge. Allerdings füllten sich die Anstalten sehr bald wieder. Dabei zeigte sich, dass trotz der Abschaffung einiger eindeutig nationalsozialistischer Vorschriften die Kontinuität dominierte: Auch wenn sie zunächst weniger häufig verhängt wurde, wurde die Sicherungsverwahrung aus dem Gewohnheitsverbrechergesetz beibehalten. Eine kritische Distanz zur NS-Vergangenheit kann Baumann in dieser Zeit nicht erkennen, im Gegenteil: Urteile aus der Zeit vor 1945 wurden meist weiterhin vollstreckt und auch die Begutachtungspraxis in den Anstalten folgte nach wie vor einer kriminalbiologisch ausgerichteten Persönlichkeitsforschung.

 

Aus rechtshistorischer Sicht besonders interessant ist die Beschreibung der kriminologischen Theorie und Praxis der 50er Jahre, denn als Akteure werden fast ausnahmslos Juristen vorgestellt. Die gründliche Auswertung der wichtigsten Lehrbücher dieser Zeit zeigt, dass Kriminologen wie Franz Exner, Wilhelm Sauer, Edmund Mezger und Ernst Seelig ihre teilweise bereits vor 1945 erschienenen Werke allenfalls von explizit rassistischen oder antisemitischen Passagen säuberten, konzeptionell aber weiter dem tradierten Anlage-Umwelt-Modell mit besonderem Schwerpunkt auf den anlagebedingten Faktoren treu blieben. Sorgfältig analysiert Baumann, wie die Zunft durch Abwehrverhalten, Totschweigen und eine spezifische Sprachregelung die wirkliche Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit verweigerte. Im Ergebnis bildete die Kriminologie der frühen 50er Jahre damit ein komplexes Konglomerat aus nationalsozialistischen und älteren Versatzstücken, eine echte Neuorientierung fand nicht statt. Die Folgen dieser Strategie für die Praxis erläutert Baumann am Beispiel der Jugendkriminalität. Deren Ursachen wurden weiterhin im Körper des Täters verortet. Herrschend wurde die auf Kurt Schneiders Psychopathologie aufbauende Konstitutionsbiologie Ernst Kretschmers. Obwohl die platte Kriminalanthropologie Cesare Lombrosos allenthalben abgelehnt wurde, waren die Gefängnisärzte der Nachkriegszeit geradezu besessen von der Suche nach körperlichen „Abartigkeiten“. Als „Therapien“ für die von diesen Theorien Betroffenen empfahl Kretschmer Drüsentransplantate, Schockbehandlungen und Nordseebäder. Auch die Sterilisationsdebatte wurde scheinbar unbeeindruckt von den Verbrechen der nationalsozialistischen Epoche fortgesetzt. In der Strafrechtspraxis dominierte insgesamt eine psychiatrische Wahrnehmung, wobei die Einordnung als „Psychopath“ keineswegs bedeutete, dass man dem Betroffenen das Privileg einer auch nur geminderten Schuldfähigkeit nach § 51 II StGB a. F. zusprach. Letzteres geschah nur, wenn der entsprechenden Psychopathie „Krankheitswert“ zukam. An dieser Stelle ist allerdings zu bemerken, dass diese Interpretation keineswegs typisch für die 50er Jahre, sondern auch heute noch herrschend ist (vgl. Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, München, 27. Auflage 2006, § 21, Rn. 9 m. w. N.). Eine Folge der weitgehenden Pathologisierung von Kriminalität in dieser Epoche ist die von Baumann herausgearbeitete strenge Scheidung zwischen den als „echten Kriminellen“ eher mit Härte behandelten Psychopathen und den mit größerer Milde behandelten „Gestrauchelten“ (S. 208). Der Mangel an „harten Kriterien“ für diese Zuordnung führte in der Praxis in erheblichem Maße zu Willkür, zumal als „Fachleute“ nicht nur Juristen und Mediziner, sondern auch Anstaltsgeistliche und Lehrer an der Entscheidung beteiligt waren. Sofern dabei eine Bewertung der NS-Zeit erforderlich wurde (etwa bei der Berücksichtigung einer Lagerhaft), zeigten sich die 50er Jahre erschütternd unberührt von den besonderen Bedingungen dieser Zeit: Gerade die Verfolgung von „Zigeunern“ wird aus der Rückschau nicht als rassistisch motiviert wahrgenommen, sondern antiziganistische Stereotypen führten vielfach sogar zu einer affirmativen Bewertung der Lagerhaft. Generell erschien das Jugend-KZ als „Fortsetzung der Sicherungsverwahrung mit anderen Mitteln“ (S.223).

 

Eine gewisse Zäsur nimmt Baumann zwischen 1959 und 1969 wahr, als erstmals der „stille Konsens“ des Schweigens durchbrochen worden sei (S. 232) und eine „Phase der Normalisierung beziehungsweise Nivellierung der extremen Verzerrungen“ (S. 270) eingesetzt habe. Für die Entwicklung der akademischen Kriminologie belegt er diese These mit Hilfe einer ausführlichen exemplarischen Beschreibung des Lebenslaufs Thomas Würtenbergers, eines der wichtigsten Nachkriegskriminologen. Es fragt sich allerdings, ob Baumanns Bewertung von Würtenbergers Verhalten im Dritten Reich sachgerecht ist. Der Autor traut dabei weder den Selbstdarstellungen Würtenbergers wie etwa seinem Briefwechsel mit Erik Wolf, aus dem ein eher distanziertes Verhältnis zur NS-Ideologie hervorgeht, noch den „Funktionstexten“ des Regimes, die ihn als untadeligen Nationalsozialisten charakterisieren (S. 239). Vielmehr schließt er aus der raschen Karriere und den Publikationen Würtenbergers auf eine eher affirmative Einstellung zum NS-System. Die zur Begründung herangezogenen Argumente vermögen allerdings nicht voll zu überzeugen: Wenn etwa dessen 1938 getroffene Feststellung, es werde künftig zu einer Ausweitung der Todesstrafe kommen, als Ruf nach „Tötung von Kriminellen“ interpretiert wird, so wird dabei nicht nur eine relativ neutral-feststellende Formulierung zu einem Aufruf umgedeutet; vor allem aber verkennt Baumann dabei, dass sich die komplexe Geschichte der Todesstrafe nicht allein als typisch nationalsozialistisch darstellen lässt. Die traurige Geschichte staatlich verordneten Tötens und der Streit um die Berechtigung dieser Strafform reichen bekanntlich weit in die Rechtsgeschichte zurück, wie beispielsweise Richard J. Evans in seiner großen Studie zu dieser Thematik („Rituals of Retribution“, London 1996) gezeigt hat, die Baumann bedauerlicherweise nicht verwendet hat. Auch die Teilnahme Würtenbergers an den von der Hitlerjugend organisierten „Arbeitsgemeinschaft zum ‚Jugendrecht’“ taugt nicht wirklich als Beweis seiner Linientreue: Das Beispiel des Kriminologen Hans von Hentig, der nicht zuletzt wegen der Verweigerung einer Teilnahme an diesen Seminaren 1935 seinen Bonner Lehrstuhl verloren hatte (vgl. von Mayenburg, „Der Fall v. Hentig ist recht unerfreulich“, in: Schmoeckel, Mathias (Hg), Die Juristen der Universität Bonn im „Dritten Reich“, Köln 2004, 300ff.), zeigt, wie stark hier der Anpassungsdruck war. Die Frage der Verstrickung von Personen in den Unrechtsstaat lässt sich eben nur dann mit der erforderlichen Differenziertheit beantworten, wenn man zunächst die Kriterien offen legt, nach denen die Beurteilung der Person erfolgen soll. Derartige Maßstäbe sucht man bei Baumann allerdings vergeblich.

 

Aber jenseits dieser Wertungsfrage zeigt Baumann überzeugend, wie sich Würtenbergers kriminologisches Bezugssystem im Verlauf der 50er Jahre änderte. Bereits früh identifizierte er sich mit dem Wertesystem des Grundgesetzes und forderte eine Humanisierung der Kriminologie. Am Ende des Jahrzehnts schließlich erkennt Würtenberger als einer der ersten die Rückständigkeit der deutschen Kriminologie im Vergleich zum Ausland und führt dies auf die Abwege dieser Disziplin im Nationalsozialismus zurück. Mit Blick vor allem auf die angelsächsische Kriminologie kritisiert er nun das überkommene ätiologische Anlage-Umwelt-Modell und öffnet sich psychoanalytischen und vor allem auch soziologischen Ansätzen, die, wie bereits Émile Durkheim, Kriminalität als „normale“ gesellschaftliche Funktion begreifen. Würtenberger steht damit für eine, allerdings in seinem Fall eher konservative, Öffnung der Kriminologie. Mit der Rezeption amerikanischer lerntheoretischer Konzepte (Edwin Sutherland) oder der Subkultur-Forschung Robert K Mertons vollzieht sich eine „sukzessive Soziologisierung“ (S. 255) der Kriminologie, die gleichzeitig auch eine zunehmend kritische Auseinandersetzung mit der eigenen, psychiatriezentrierten Geschichte und ihren Protagonisten bewirkt. Aus rechtshistorischer Sicht besonders bedeutsam scheint, dass durch die Abkehr von der medizinisch-psychiatrischen Interpretation und das verstärkte Interesse an der Bedeutung von Rechtsnormen bei der Konstruktion von Kriminalität auch die Juristen wieder stärker „ins Geschäft“ kamen. Bei Baumann wird dieser Aspekt nicht betont; vielmehr definiert er ohne weitere Differenzierung die Mainstream-Kriminologie dieser Zeit als „psychiatrisch-juristisch“ (S. 303). Er meint damit wohl die Provenienz zweier wichtiger Nachkriegskriminologen, Heinz Leferenz und Hans Göppinger, die beide sowohl Juristen als auch Psychiater waren. Soziologen, so Baumann, hätten Ende der 60er Jahre kaum Chancen gehabt, die institutionell gefestigte Hegemonie dieser beiden Disziplinen zu brechen. Allerdings bringt er selbst eine Reihe von Beispielen, die belegen, dass offensichtlich gerade juristische Fakultäten durchaus gewillt waren, kriminologische Lehrstühle und Assistentenstellen mit Nichtjuristen, wie z. B. der Soziologin Lieselotte Pongratz (Lehrstuhl in Hamburg, S. 310) oder dem Soziologen und Psychoanalytiker Tilmann Moser (Assistent in Frankfurt am Main., S. 313) zu besetzen.

 

Die 1970er Jahre waren, so Baumann weiter, durch eine zunehmende Pluralisierung konkurrierender Ansätze, auch innerhalb der großen Schulen gekennzeichnet. Stigmatisierungsansätze (Siegfried Lamnek) standen neben labelling approach und psychoanalytischen Modellen, daneben erwiesen sich „klassische“ psychiatrische Konzepte auch weiterhin als beharrungskräftig. Dennoch kam es insgesamt im Laufe dieses Jahrzehnts zu einer Krise der Kriminologie, da die Gültigkeit von Normen überhaupt hinterfragt wurde und damit die auf das Normensystem bezogene Grundlage der Wissenschaft selbst auf den Prüfstand kam. Sorgfältig untersucht Baumann die Ursachen dieses sich zunehmend radikalisierenden „schleichenden Paradigmenwechsels“ (S. 322). Neben generationenspezifische Effekte und Entkriminalisierungstendenzen im Zuge der gesellschaftlichen Liberalisierung (z. B. bei der Strafbarkeit der Homosexualität) trat die teilweise durch die Deutsche Demokratische Republik aufgezwungene Auseinandersetzung mit der marxistischen Lehre, die nicht nur vom „Arbeitskreis Junger Kriminologen“, sondern zunehmend auch vom „Mainstream“ rezipiert wurde.

 

Die Strafpraxis und Gesetzgebung folgten der theoretischen Umorientierung in Richtung auf eine Verstärkung des Umweltparadigmas nur zögerlich: Mit dem Ersten Strafrechtsreformgesetz vom 25. 6. 1969 wurde die Verhängung der Sicherungsverwahrung erschwert. Das psychopathologisch geprägte Merkmal eines „Hanges zu erheblichen Straftaten“ blieb aber als Voraussetzung für die Verhängung einer Sicherungsverwahrung bis heute erhalten (vgl. § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB). Baumanns Analyse der Anordnungspraxis ergibt einen signifikanten Einbruch bei der Anordnung der Sicherungsverwahrung nach 1969. Vor allem aber änderte sich die Klientel: Führte vor 1969 vor allem die mehrfache Begehung von kleineren oder größeren Eigentums- und Vermögensdelikten zur Anordnung einer Sicherungsverwahrung, wird dieses Instrument seither fast ausschließlich gegen schwere Gewalt- und Sittlichkeitsverbrecher eingesetzt. Die therapieorientierte Aufbruchsstimmung der 70er Jahre wich bekanntlich sehr bald einer Ernüchterung. Die Idee einer sozialtherapeutischen Anstalt, die zwar im Zweiten Strafrechtsreformgesetz vom 4. 7. 1969 vorgesehen war, aber tatsächlich am 20. 12. 1984 zumindest als Maßregel endgültig nicht mehr weiterverfolgt wurde, zeigt besonders deutlich, dass die Sorge um die Sicherheit der Bevölkerung gegenüber den Versuchen einer Resozialisierung in der Kriminalpolitik nun wieder stärker dominierte. Mit der in den letzten Jahren eingeführten „nachträglichen Sicherungsverwahrung“ wird auch dieses Instrument wieder häufiger eingesetzt. So zieht Baumann am Ende eine gemischte Bilanz: So sei der deutschen Kriminologie am Ende der 1960er Jahre wieder der Anschluss, sowohl an Ansätze der Weimarer Zeit, als auch an die internationale Entwicklung gelungen. Wie er an zwei gut ausgewählten abschließenden Beispielsfällen anschaulich zeigt, schlugen sich diese wissenschaftlichen Umbrüche in den Biographien der Betroffenen zwar wieder, aber der Wegfall des psychopathologischen Modells vollzog sich an der Basis durchaus widersprüchlich und mit etlichen Brüchen. Positive Wendungen für die Inhaftierten waren damit keinesfalls selbstverständlich verbunden.

 

Sprachlich ist Baumanns Studie flüssig zu lesen, sieht man einmal von dem penetranten Gebrauch der Modefloskel „hegemonial“ statt schlicht „herrschend“ ab. Das Buch ist gründlich recherchiert und redigiert und wird geschickt durch Statistiken und Graphiken unterstützt. Kleinere Druckfehler („Hanns“ statt Hans Groß, S. 265) fallen nicht ins Gewicht. Sofern sich Baumann auf das Feld der Rechtsgeschichte begibt, hantiert er meist souverän und sachkundig mit den teilweise komplexen Begriffen und Instituten. Kleinere Missverständnisse (wie die Zusammenfassung von Betrug und Diebstahl unter den Begriff Delikte gegen das „Eigentum“, S. 342f.) fallen nur dem Juristen auf und stören den Argumentationsfluss nicht. Zu bemerken ist in diesem Zusammenhang allein, dass Baumann betont, dass psychiatrisch konnotierte Begriffe wie „willensschwach“ in der Strafpraxis nach 1969 nicht signifikant seltener verwendet worden seien. Er übersieht dabei, dass die Verwendung derartiger Begriffe (wie auch „haltlos“) nicht durch die Praxis, sondern das Gesetz (z. B. § 302a I zur „Willensschwäche“ beim Wucher) geprägt und damit zwangsläufig der Auslegung vorgegeben sind.

 

Inhaltlich war Baumann sicherlich gezwungen, Schwerpunkte zu setzen. Es wäre daher unredlich, ihm vorzuwerfen, nicht ein noch dickeres Buch geschrieben zu haben. Mit der sehr ausführlichen Schilderung der Geschichte der Sicherungsverwahrung hat er sich einen Bereich herausgesucht, der sicherlich sehr plastisch die Veränderungen in Theorie und Praxis des Strafvollzugs illustriert. Allerdings vermisst man trotzdem gelegentlich, gerade auch bei der Auswertung der Statistiken zu diesem Bereich, die Kontextualisierung innerhalb des Strafvollzugs insgesamt. Auch der im Jahr 1968 liegende Höhepunkt bei den absoluten Zahlen der Anordnungen der Sicherungsverwahrung (269, vgl. S. 337) war im Vergleich mit der Gesamtzahl der Verurteilten verschwindend gering. Wenn Baumann daher davon spricht, dass die Zahl der Anordnungen seit 1998 wieder „tendenziell“ ansteige, so sollte dabei hinzugefügt werden, dass hier von extrem niedrigen absoluten Zahlen gesprochen wird (61 Anordnungen 1998, 74 im Jahr 2001, vgl. S. 351). Diese wären den insgesamt mehr als 900.000 Abgeurteilten (Zahl für das Jahr 2000: Statistisches Jahrbuch 2006 für die Bundesrepublik Deutschland, S. 265) gegenüberzustellen.

 

Konzeptionell leidet die Studie gelegentlich darunter, dass Baumann ohne weitere Differenzierung von einem übergreifenden „kriminologischen Diskurs“ ausgeht. Diese Konstruktion eines „kriminologischen Diskurses“ verdeckt aber allzu leicht die durch die „Mutterfächer“ bedingten Vorstrukturierungen kriminologischen Denkens. Je nachdem, ob sich ein gelernter Mediziner, Jurist, Psychologe oder Soziologe äußert, fließen unterschiedliche Prägungen, Erfahrungen, Vorurteile und Schwerpunktsetzungen in die Forschungsschwerpunkte und die Bewertung ihrer Ergebnisse ein. Die Frage, welchen Beitrag die Juristen zu der wechselvollen Geschichte der Kriminologie leisteten, wo sie führend waren und wo sie bremsten, wird daher nicht gestellt und kann nur indirekt herausdestilliert werden. Aber das besondere Verdienst der Arbeit liegt auch eher darin, dass Baumann erstmals Schneisen in ein bislang völlig unbeackertes Gebiet geschlagen hat. Die angedeuteten offenen Fragen bleiben für weitergehende, auch rechtshistorische, Arbeiten zu beantworten.

 

Nur in seinem Resümee geht Baumann auf die neuerdings erfolgende Renaissance biologistischer Modelle in der Kriminologie ein, die er grundsätzlich als nicht bedrohlich einschätzt, weil es sich eher um eine „Pendelbewegung“ handele, die frühere Forschungsdefizite ausgleiche. (S. 380). Angesichts der neu ausgebrochenen Suche nach dem „kriminellen Gen“ kann man nur die bange Hoffnung haben, dass er damit recht hat und dieser Spuk bald wieder einer gegenläufigen Pendelbewegung weicht. Der Blick in die Vergangenheit, das zeigt die Lektüre, zwingt hier zur Skepsis. Man hat den Eindruck das einzig Gute, das in den letzten 100 Jahren hinter Gefängnismauern entstand, war dieses Buch.

 

Bonn                                                                                                  David von Mayenburg