Althoff, Gerd, Heinrich IV. (= Gestalten des Mittelalters und der Renaissance). Primus, Darmstadt 2006. 336 S., 10 Abb. Besprochen von Tilman Struve.

 

Pünktlich zum Salierjahr, das in der 900. Wiederkehr des Todestages Heinrichs IV. am 7. August 2006 gipfelte, hat Althoff, der bislang vor allem mit Studien zur mittelalterlichen Gruppenbildung, zu Strategien der Konfliktbewältigung und der hierbei von den Beteiligten zu befolgenden Spielregeln sowie zur Bedeutung von Ritualen hervorgetreten ist, eine Monographie über den wohl umstrittensten Herrscher des mittelalterlichen deutschen Reiches vorgelegt. Er verfolgt darin die Absicht, Heinrich IV. aus der zeitgebundenen, vom Ideal einer starken Zentralgewalt geprägten Sichtweise, wie sie noch in den Publikationen Egon Boshofs (1979) und Ian S. Robinsons (1999) anzutreffen sei, zu lösen. Der hier begegnenden „Apologie“ versucht er dadurch zu entgehen, dass er die kritischen Stimmen, die es während der langen Regierungszeit Heinrichs IV. zweifellos in großer Zahl gegeben.hat, in seine Darstellung einbezieht – und zwar ohne Rücksicht auf deren Wahrheitsgehalt. Vielmehr gelten ihm alle diese Zeugnisse als Teil der mittelalterlichen Realität. In vier auf die methodenorientierte Einleitung (S. 11-40) folgenden Teilen versucht der Verfasser diesem Ziel näherzukommen, während ein abschließendes Kapitel der Annäherung an Heinrichs Persönlichkeit (S. 254-302).vorbehalten ist. Im ersten, die Jahre 1056-1073 umfassenden Teil wird der Blick von der Zeit der Regentschaft bis in die ersten Jahre selbständiger Regierung Heinrichs IV. (S. 41-85) gerichtet. Der zweite Teil ist dem ersten großen Konflikt mit den Sachsen bis zum Friedensschluss im Jahre 1075 gewidmet (S. 86-115). Umfangreicher sind die hierauf folgenden Teile, welche die Auseinandersetzung mit Gregor VII. bis zu dessen Tod 1985 verfolgen (S. 116-195) und die beiden letzten Jahrzehnte der Herrschaft Heinrichs IV. in den Blick nehmen (S. 196-253), welche zunächst von einer Phase der Konsolidierung und dem darauf folgenden Konflikt im salischen Herrscherhaus beherrscht wurden.

 

Zu Recht erkennt der Verfasser in der Jugendzeit Heinrichs IV. das „Erklärungspotential“ (S. 41) für sein späteres Handeln. Angesichts der negativen Erfahrungen mit den Großen, die mehr auf die Verfolgung ihrer eigenen machtpolitischen Ziele bedacht waren, zeigte der König nur wenig Interesse an einer Beratung mit diesem Personenkreis. Insofern ist dem Verfasser darin beizupflichten, dass Heinrich IV. einen konsensfähigen Regierungsstil wohl gar nicht gewollt habe. Dabei ist allerdings zu beachten, dass es die Großen selbst waren, die durch ihr Verhalten gegen das Prinzip der Konsensbildung als Element praktizierter Herrschaft verstoßen hatten. Immerhin soll sich Heinrich IV. nach Aussage seines Biographen von den während der Regentschaft getroffenen Fehlentscheidungen nachträglich distanziert haben (Vita Heinrici IV. imperatoris c. 2). Wenn der junge König freilich geglaubt hatte, den autoritären Herrschaftsstil seines Vaters einfach fortsetzen zu können, dann erwies sich das als folgenreicher Irrtum. Denn die Zeitumstände hatten sich inzwischen gewandelt, und die fürstliche Forderung nach Beteiligung an der Herrschaft konnte nicht mehr übergangen werden. Die einzige Persönlichkeit, bei der Heinrich IV. offenbar Verständnis fand, war Erzbischof Adalbert von Bremen. Dies – und nicht etwa „jugendliche Unerfahrenheit“ (S. 66) – war der Grund für die Hinwendung des jungen Königs zu diesem in der Tat nicht unumstrittenen Ratgeber.

 

Zustimmung verdienen die Ausführungen des Verfassers, wonach die Burgenpolitik Heinrichs IV. im Harzraum.durch das Vorbild Adalberts von Bremen beeinflusst worden sei, der derartige Anlagen in seiner Diözese gegen den sächsischen Adel, allen voran gegen die Billunger, errichtet hatte. Aus der Perspektive der Sachsen sollen die königlichen Maßnahmen als „Willkür“ gewertet worden sein. Doch ist die subjektive Überzeugung der Sachsen allein noch kein Argument gegen die Rechtmäßigkeit der königlichen Vorgehensweise. Immerhin war der Harzraum seit liudolfingischer Zeit eine alte Königslandschaft. Insofern war es nur konsequent, wenn Heinrich IV. hier versuchte, dem Königtum wieder Geltung zu verschaffen. In der von den Sachsen ausgehenden antiköniglichen Polemik nehmen die angeblichen sittlichen Verfehlungen Heinrichs IV. breiten Raum ein. Da dieselben Bestandteil der politischen Verhandlungen, mithin der zeitgenössischen Realität,.gewesen seien (S. 19, 88, 99/101, 260, 272), sieht der Verfasser keinen Anlass, sie als unberechtigt oder gar als abwegig zu verwerfen. Das wiederholte Insistieren auf diesen Anschuldigungen bietet freilich.noch keine Gewähr für deren Glaubwürdigkeit. Wurde hier doch von Vorgängen berichtet, bei denen der Geschichtsschreiber in der Regel gar nicht zugegen war. Sollte Heinrich IV. jedoch, wie ihm von einigen Quellen vorgeworfen wurde, wirklich an der Vergewaltigung seiner Schwester Adelheid mitgewirkt haben, dann hätte er nicht nur dieselbe in ihrer Stellung als Äbtissin von Quedlinburg unmöglich gemacht; er hätte durch diese Schandtat auch die Ehre des salischen Königshauses selbst befleckt. Sollte ihm, der das Ansehen der königlichen Majestät zeitlebens hochgehalten hat, wirklich eine derartige Handlungsweise zugetraut werden, oder handelte es sich bei diesem Vorwurf wie auch bei anderen Schauergeschichten um ein Machwerk gegnerischer Propaganda? Auch ist zu berücksichtigen, dass Brunos „Buch vom Sachsenkrieg“, auf welches sich die Argumentation des Verfassers hauptsächlich stützt, nicht vor 1082 entstanden ist und keine zeitgenössische Überlieferung aufweist, sondern vollständig allein in der wohl zwischen 1148 und 1152 verfassten Reichschronik des Annalista Saxo überliefert ist. Es entstammt mithin einer Zeit, in der die polemische Auseinandersetzung mit Heinrich IV., in welcher die Gegner häufig, wie der anonyme Biograph klagte, vera falsis miscentes (Vita Heinrici IV. c. 3), einen Höhepunkt erreicht hat und ist als Zeugnis für dessen Jugendjahre nur bedingt aussagekräftig.

 

In der Auseinandersetzung mit Gregor VII. sind die nach Ansicht des Verfassers für Heinrichs politisches Handeln als charakteristisch diagnostizierten plötzlichen Richtungswechsel besonders markant zutage getreten. Als Beispiel für dessen „taktische.Manöver“ gilt ihm jenes demutsvolle Schreiben vom Sommer 1073 (ep. 5), dem wenig später die berühmte supplex epistola.folgte, die aus einer Zeit stammte, in der sich der Konflikt mit den Sachsen bereits abzeichnete. Doch war Gregor VII., der.keineswegs ein Erfüllungsgehilfe sächsischer Interessen sein wollte, zu diesem Zeitpunkt durchaus noch an einem Einvernehmen mit Heinrich IV. gelegen. Konnte er doch nur mit Unterstützung eines starken Königtums daran denken, seine kirchenreformerischen Ziele in Deutschland zu verwirklichen. Mit seiner Vorgehensweise, auch die gegnerische Seite zu Wort kommen zu lassen, gerät der Verfasser freilich dort an eine Grenze, wo er sich derselben unkommentiert anschließt. Das zeigt sich etwa bei seiner Lampert von Hersfeld folgenden Schilderung der Verhandlungen von Tribur-Oppenheim vom Herbst 1076, wo zwischen den tatsächlichen Forderungen der Fürsten und den Zutaten zeitgenössischer Polemik kein Unterschied gemacht wird. Unerwähnt bleibt auch, dass die Drohung, Heinrich IV. werde sein Königtum unwiderruflich verlieren, wenn er nicht binnen Jahresfrist vom Bann gelöst sei, zu den erst nach Abschluss der Verhandlungen getroffenen Sondervereinbarungen der Fürsten gehörte. Ein klareres Bild von diesen Vorgängen vermittelt übrigens Bruno (Bellum Saxonicum c. 88), der.jedoch vom Verfasser in diesem Zusammenhang nicht erwähnt wird. Bei der anschließenden Schilderung der Ereignisse auf Canossa, bei der die Berichte Lamperts und Gregors VII. einander gegenübergestellt werden, vermeidet der Verfasser eine Festlegung. Hier könnte freilich die Darstellungsabsicht zu einer Lösung verhelfen. Während.es nämlich dem Hersfelder Mönch vor allem um die Darlegung der Voraussetzungen.für eine Wiederaufnahme Heinrichs IV. in die kirchliche Gemeinschaft ging, war Gregor VII. in seinem Briefbericht an die deutschen Fürsten (Reg. IV, 12) bestrebt, den Anschein zu erwecken, als sei in der Frage des Königtums noch.nichts entschieden. Wenn der Verfasser bei der Erwähnung der sog. Abendmahlsprobe der Heinrich IV. abträglichen Darstellung Lamperts folgt, dann wird dabei übersehen, dass der Empfang des Sakraments zum unverzichtbaren Bestandteil des Rekonziliationsaktes.gehörte – was durch den Gregorianer Bonizo von Sutri auch ausdrücklich bestätigt wird (Ad amicum lib. VIII). Das seit den achtziger Jahren des 11. Jahrhunderts zu beobachtende Aufkommen sog. Streitschriften wird vom Verfasser als ein Wechsel von mündlich-persönlicher Beratung zu theoretischer Auseinandersetzung auf der Grundlage allseits anerkannter Autoritäten begrüßt. Vor einer allzu euphorischen Beurteilung dieses Wandels ist freilich zu warnen, wie. die Klage des Trierer Scholasters Wenrich über die Unfruchtbarkeit der Berufung auf ‚Autoritäten’ bezeugt (Epistola sub Theoderici episcopi Virdunensis nomine composita c. 3).

 

Nach seiner Kaiserkrönung im März 1084 befand sich Heinrich IV., wie der Verfasser überzeugend belegt, auf dem Höhepunkt seiner Herrschaft. Im Vergleich zu früheren Jahren habe er jetzt ein größeres Maß an Kompromissbereitschaft bewiesen, nicht zuletzt wohl dank einer flexibleren Haltung seiner bischöflichen Ratgeber. Der Verfasser ist geneigt, hier einen „veränderten Herrschaftsstil“ (S. 224) zu erkennen. Selbst in Sachsen ist es dem Kaiser – zumindest für kurze Zeit – gelungen, wieder Fuß zu fassen. Mit Unterstützung der loyal zu ihm haltenden Fürsten konnte er seinen ältesten Sohn Konrad zum Mitkönig erheben (Mai 1087) und durch einen Fürstenspruch zu Quedlinburg (1088) die Verurteilung des wiederholt aufständischen Markgrafen Ekbert von Meißen erreichen. Dann aber folgte der jähe Absturz, indem der Keim der Spaltung das salische Kaiserhaus selbst erfasste. Nicht nur bei der spektakulären Flucht der zweiten Gemahlin Heinrichs IV.,.Praxedis-Adelheid, sondern auch beim Abfall König Konrads hatte, was nicht eigens erwähnt wird, die Markgräfin Mathilde von Tuszien-Canossa ihre Hand im Spiel. Zu Recht nimmt der Verfasser an, dass Heinrichs Verbindung mit der Witwe des Markgrafen Heinrich.(nicht Udo, wie S. 207!).von Stade als „Bestandteil“ des Friedens mit den Sachsen zu werten sei, – eine Einschätzung, die sinngemäß bereits Wilhelm von Giesebrecht (Geschichte der deutschen Kaiserzeit 5. Aufl. 3, Leipzig 1890, S. 628) getroffen hatte. Hinter den auf der Synode zu Piacenza (1095) vor Urban II. vorgebrachten Anschuldigungen gegen Heinrich IV. vermutet der Verfasser einen Akt von Geiselschändung infolge Friedensbruchs der Sachsen (S. 213ff.). Nun ist freilich „ein vollendeter Friedensbruch“ der Sachsen, wie der Verfasser selbst einräumt, nicht nachweisbar, womit der Annahme einer Geiselschändung der Boden entzogen wird. Auch ist zu berücksichtigen, dass es sich bei Praxedis-Adelheid immerhin um die Gemahlin des Kaisers gehandelt hat. Sollte Heinrich IV. sie wirklich, den Fall einer sächsischen Vertragsverletzung vorausgesetzt, der Entehrung preisgegeben haben? Dass andererseits Papst Urban II. den Auftritt der Eupraxia-Adelheid vor der Synode zu Piacenza für seine Zwecke zu.nutzen verstand, mag aus heutiger Sicht bedenklich erscheinen, stand aber – wie von Alfons Becker (Urban II., Bd. 1, Stuttgart 1964, S. 133) gezeigt werden konnte– durchaus in Einklang mit zeitgenössischen Verhaltensweisen. Bei der Suche nach den Gründen für den Abfall des zweiten Kaisersohnes Heinrich (V.) schwankt der Verfasser zwischen dem Motiv des Machterhalts einerseits und religiösen Bedenken der Fürsten andererseits – obgleich letztere bei der weitgehenden Akzeptanz, die sie der Herrschaft Heinrichs IV. nach seiner Rückkehr aus Italien entgegengebracht hatten (S. 225f.), noch keine Rolle gespielt haben dürften. Für den Umstand, dass ‚religiöse Bedenken’ oft genug nur als Vorwand zur Bemäntelung politischer Interessen gedient haben, ist Lampert von Hersfeld (Annales ad a. 1076, S. 264 Zeile 28) ein unverdächtiger Zeuge. Dass der Kaiser gegen Ende seiner Regierungszeit den Wunsch hatte, zu einem Ausgleich mit dem Papsttum zu gelangen, darf man getrost annehmen. Das beweist seine Bereitschaft, für früheres Fehlverhalten zu büßen. Doch war er auch jetzt nicht bereit, dieses Ziel um jeden Preis zu erreichen, wie sein Brief an Papst Paschalis II. von 1105 (ep. 34) erkennen lässt. Diese Haltung mag zwar der Situation nicht angemessen erscheinen;.von Heinrichs Standpunkt aus mit seinem dezidierten Anspruch auf Wahrung des honor regni und der kaiserlichen dignitas war sie jedoch nur konsequent. Wenn schließlich der anonyme Biograph Heinrich IV. zum pater pauperum stilisiert hat, dann entsprach dies sicher der Tendenz der Vita. Doch besitzt die ihm nachgesagte herrscherliche Sorge für die Armen in den kaiserlichen Gedenkstiftungen DDH. IV. 465, 471 und 475 durchaus auch eine Entsprechung in der Realität.

 

Folgt man der Einschätzung des Verfassers, dann war Heinrich IV. ein Hallodri, der sich seit seiner Jugend in sexuellen Ausschweifungen erging, hergebrachte Regeln der politischen Kommunikation missachtete, angestammten fürstlichen Ratgebern die Tür.wies, sich leichtfertig mit dem Papst anlegte und bei allem keine klar ersichtliche Linie erkennen ließ. Bei aller Vorsicht bezüglich einer abschließenden Beurteilung glaubt sich der Verfasser doch zu der Einschätzung berechtigt, dass bei Heinrich IV. die „Schattenseiten“.seiner Persönlichkeit überwogen haben (S. 302). Mit dieser Beurteilung nimmt er bewusst eine Gegenposition zu dem herkömmlichen Bild dieses salischen Herrschers ein. Aber sind damit wirklich Persönlichkeit und Regierung Heinrichs IV. angemessen erfasst? Immerhin vermochte sich Heinrich IV. trotz heftiger Gegnerschaft rund fünfzig Jahre an der Spitze des Reiches zu halten. Das konnte naturgemäß nicht ohne Unterstützung durch wechselnde Anhängerschaften.unter den Großen gelingen. Zweifellos sind dem Verfasser wichtige Korrekturen am tradierten Herrscherbild zu verdanken. Sicher wird man künftig auch die antisalische Überlieferung als Gegengewicht gegenüber einer zu ausschließlich auf die Stärkung der königlichen Zentralgewalt ausgerichteten Sichtweise stärker zu berücksichtigen haben. Doch hat es auch in der Vergangenheit nicht an kritischen Stimmen gefehlt. Erinnert sei.nur an die Beurteilung Heinrichs IV..durch Oswald Holder-Egger, den verdienstvollen Herausgeber der Werke Lamperts von Hersfeld, der für den „lüderlichen“ König nur wenig Sympathie aufbrachte, da er „im Unglück verzagt, im Glück übermüthig, durch seine unbedachte Handlungsweise sich in die größten Gefahren, sein Reich in die unheilvollste Krise stürzte“ (Neues Archiv 19, 1894, S. 563). An der Persönlichkeit Heinrichs IV., so darf man folgern, haben sich schon immer die Geister geschieden. Selbst wenn die gegen Heinrich vorgebrachten Anschuldigungen auf sächsischer Seite für glaubhaft gehalten worden sein sollten, welcher Erkenntnisgewinn ist damit verbunden? Besteht nicht die Gefahr, Heinrich IV. aufgrund tatsächlicher oder auch.nur vermeintlicher Vergehen grundsätzlich aller nur denkbaren Schandtaten für fähig zu halten – getreu dem Motto: La calunnia è un venticello ...? (Gioacchino Rossini, Il barbiere di Siviglia, sog. Verleumdungsarie 1. Akt, Szene 12). Liegt es.nicht in der Konsequenz einer derartigen Betrachtungsweise, selbst noch die von Gerhoch von Reichersberg kolportierten Verdächtigungen, darunter die Veranstaltung einer Satansmesse durch Heinrich IV. am Weihnachtstage (De investigatione Antichristi I, 17), als glaubwürdig anzusehen? Dies ist zugleich ein Beispiel dafür, wie sich derartige Gerüchte noch im Abstand von mehr als einem halben Jahrhundert nach dem Tode des Kaisers erhalten haben und dabei.immer noch erweitert wurden. Den Historiker dispensiert dies freilich.nicht von seiner Aufgabe, zwischen Fiktion und Faktizität der Ereignisse zu unterscheiden. Wenn Heinrich IV. vorgeworfen wird, er habe es an einer klaren Herrschaftskonzeption mangeln lassen, sei häufig ein Getriebener gewesen, der zu taktischen Manövern Zuflucht nahm (s. etwa S. 120, 132, 149, 226f.), dann ist das nur die halbe Wahrheit; denn als Konstante in seinem Danken und Handeln tritt die Wahrung des königlichen honor und des Ansehens des Reiches deutlich hervor. Auch war Heinrich IV. – trotz negativer Erfahrungen in der Zeit der Regentschaft – gegenüber der Beratung mit den Großen, nach Meinung des Verfassers eine der „Grundfesten mittelalterlichen Herrschaftsverständnisses“ (S. 63), keineswegs resistent. Hat er sich doch in einem von Gottschalk von Aachen verfassten Rundschreiben an die Bischöfe aus dem Jahre 1076 (ep. 13) ausdrücklich dazu bekannt. Nach Ausweis der Interventionen in den Diplomen Heinrichs IV. waren zudem weltliche und geistliche Große seit 1062 durchgängig am Zustandekommen des jeweiligen Rechtsgeschäfts beteiligt (Alfred Gawlik, Intervenienten und Zeugen in den Diplomen Kaiser Heinrichs IV., Kallmünz 1970, S. 116f.), was diesbezügliche Beratungen voraussetzt.

 

Infolge einer zu starken Fokussierung auf die Person Heinrichs IV. und deren Schwächen drohen jedoch parallel verlaufende Entwicklungen in Staat und Gesellschaft aus dem Blickfeld zu geraten. Das betrifft etwa die Indienstnahme von Angehörigen der Ministerialität – nicht nur als Burgbesatzungen in Sachsen, sondern auch für politisch-administrative Aufgaben. Handelte es sich dabei doch um eine soziale Gruppe, die traditionell vom salischen Königtum begünstigt worden war. Hierher gehört ebenso die Förderung der aufstrebenden Schicht des Stadtbürgertums, nicht nur in den rheinischen Bischofsstädten, sondern besonders im weiter fortgeschrittenen Milieu Reichsitaliens. Viele der hier von Heinrich IV. geförderten Angehörigen der wohlhabenden handeltreibenden Kaufmannsfamilien wie etwa in Pisa findet man nur wenig später im städtischen Konsulat wieder. Nicht zuletzt hat diese soziale Komponente auch einen Niederschlag in der von Heinrich IV. aktiv betriebenen Landfriedensgesetzgebung.gefunden, in welche der Schutz der Kaufleute wie auch der Juden ausdrücklich einbezogen wurde. Insgesamt hätte Heinrichs Auseinandersetzung mit Mathilde von Tuszien-Canossa eine ausführlichere Würdigung verdient. Hat Heinrich IV. doch immerhin ein Fünftel seiner Regierungszeit in Reichsitalien verbracht, wo die Markgräfin zur wichtigsten Förderin des gregorianischen Lagers aufgestiegen war. Italien war für das salische Königtum jedoch noch aus einem anderen Grunde von Bedeutung. Durch das Wiederanknüpfen an das römische Recht.hat es sich eine von der Kirche unabhängige Legitimationsquelle erschlossen. Die Inanspruchnahme des römischen Majestätsrechts hat dem Königtum nicht nur eine Steigerung seines Ansehens verschafft; es erwies sich auch als wirksame Waffe in der Auseinandersetzung mit politischen Gegnern. Aus dem römischen Recht wurde schließlich auch die Vorstellung vom Reich als eines dem Sachenrecht unterworfenen, vererbbaren Gegenstandes abgeleitet, worauf die im 12. Jahrhundert ausgebildete Vorstellung von Herrschaft als Eigentum (dominium) aufbauen konnte. Wenn in dem berühmten Streitgespräch zu Gerstungen-Berka (20. Januar 1085) unter Berufung auf die.Pseudoisidorischen Dekretalen argumentiert wurde, ein seines Eigentums Beraubter könne nicht gerichtet, geschweige denn verurteilt werden, dann scheint hier, auf den König bezogen, eine ganz ähnliche Sichtweise auf.

 

Die behutsam argumentierende, mitunter freilich divergierende Quellenaussagen nebeneinander stehen lassende, dabei jedoch das Argumentationsziel stets im Blick behaltende Darstellung weist somit unverkennbar Lücken auf. Vielleicht war dieses Defizit dem Autor durchaus bewusst, und er hat es um der Stringenz.seiner Argumentation willen in Kauf genommen. Herausgekommen ist dabei ein Bild Heinrichs IV., wie es im Umkreis der sächsisch-gregorianischen Opposition in Umlauf war. Der an eine umfassende Würdigung der Persönlichkeit und Regierungstätigkeit Heinrichs IV. zu stellende Anspruch ist damit freilich nur zum Teil eingelöst worden.

 

Köln                                                                                                              Tilman Struve