1806 – 1976 – 2006. De la commémoration d’un code à l’autre. 200 ans de procédure civile en France, sous la direction de Cadiet, Loïc/Canivet, Guy. LexisNexis SA - Litec, Paris 2006. XV, 383 S. Besprochen von Werner Schubert.

 

Der Bicentenaire des Code de procédure civile (CdPC) von 1806 (in Kraft getreten am 1. 1. 1807) sowie das 30jährige Jubiläum des neuen CdPC von 1975 (in Kraft getreten am 1. 1. 1977) sind am 16. 11. 2006 unter der Egide der Cour de Cassation, des Institut André Tunc der Universität Panthéon-Sorbonne Paris I und anderer Institutionen feierlich begangen worden. Der Band gibt die auf dem Kolloquium gehaltenen Vorträge wieder, von dem hier in erster Linie diejenigen zum CdPC von 1806 besprochen werden sollen.

 

Der erste Teil der Festschrift bringt unter der Überschrift „Genèses“ Aufsätze über die Methoden der Ausarbeitung des Gesetzes und über die Doktrin der Prozessordnungen. Gemeinhin gilt der CdPC von 1806 als déjà vieux en naissant bzw. als eine copie très servile der Ordonnance civile (Code Louis) von 1667 (vgl. S. 9). Dem treten Halpérin, Dauchy und Wiederkehr entgegen, indem sie die nicht ganz unerheblichen Abweichungen des CdPC gegenüber der Vorlage von 1667 herausarbeiten. Halpérin (S. 23ff.) weist darauf hin, dass die Vereinfachung und Verbilligung des Zivilprozesses eine wichtige Forderung der Revolution gewesen seien. Diesem Anliegen trug das Reformgesetz von 16.-24. 8. 1790 in der Weise Rechnung, dass der „Code de la procédure civile sera incessamment réformé, de manière qu’elle soit rendue plus simple, plus expéditive et moins coûteuse“ (S. 26). Ein Gesetz vom Oktober 1790 brachte den mündlichen Prozess unter persönlicher Anwesenheit der Parteien vor den Friedensrichtern. Das Dekret vom 3. Brumaire II (24. 10. 1793), „qui détermine une nouvelle forme pour l’instruction des affaires devant les tribunaux, et supprime les fonctions d’avoué“, gab die strengen Formvorschriften des ordentlichen Prozesses fast vollständig auf. Die hierdurch entstandenen Missstände führten bereits unter dem Rat der Fünfhundert zu einem umfangreichen Reformentwurf, der die Notwendigkeit der Formen, den Rückgriff auf das frühere Recht und die Notwendigkeit der Wiedereinführung von Avoués hervorhob. Nachdem Ende 1799 die Gerichtsverfassung mit den wieder eingeführten Appellationsgerichtshöfen von Napoleon umgestaltet worden war, ließ der Justizminister Abrial von dem aus dem Ancien régime kommenden Prozessrechtler Pigeau den Entwurf einer Zivilprozessordnung ausarbeiten (entdeckt von S. Solimano, in: Studi di storia del diritto, Milano 1999, S. 729ff.). Es folgte der Entwurf einer Gesetzgebungskommission, der nach einer umfangreichen Begutachtung durch die Gerichte im Staatsrat und in der Gesetzgebungssektion des Tribunats beraten und anschließend vom Corps législatif verabschiedet wurde. Nach Halpérin haben die Kodifikatoren, ohne dies offen zu legen, nicht wenige Regelungen aus der Revolutionszeit übernommen (vgl. S. 30). Der CdPC war auch, wie mehrere Autoren betonen (u. a. Halpérin, S. 34) kein reines Praktikerwerk; es sei vielmehr von juristes savants (S. 34) entworfen worden, die den Prozess nicht den Avoués hätten überlassen wollen. Vielmehr sei die Prozessordnung ein „code de praticiens“ geworden, „dans la mesure où le législateur a renoncé à introduire des directives politiques dans ce code et où la doctrine s’est refusée à construire une base théorique solide pour comprendre un texte composite“; Halpérin, S. 34). Die dem CdPC zugrunde liegende Konzeption arbeiten untersuchen Serge Dauchy (S. 77ff.) und Georges Wiederkehr (S. 91ff.), anhand der exposés des motifs, die von Staatsratsmitgliedern dem Corps législatif vorgetragen worden waren. Als idées directrices arbeiten sie heraus die prévalance de la procédure orale sur la procédure ecrite (Jaques Normand) und das Misstrauen (méfiance) gegen den Richter, den man wie die Parteien an feste Regeln binden wollte. Der Richter spielte als „garant du bon déroulement du procès et de gardien de l’ordre public“ (S. 83) im Wesentlichen eine passive Rolle. Weitere rechtspolitisch wichtige Entscheidungen des CdPC waren das Prinzip der zwei Instanzen, die Beibehaltung der Friedensrichter und des obligatorischen Vergleichsversuchs, der weitgehende Verzicht auf einen vorherigen Schriftwechsel unter den Parteien und die Notwendigkeit einer Urteilsbegründung. Insgesamt lässt sich mit Dauchy sagen, dass der überkommene Zivilprozess mit der Prozessordnung von 1806 eine „nouvelle physionomie“ erhalten habe (S. 88). Gleichzeitig ist jedoch festzustellen, dass die Prozessordnung die ihr zugrunde liegenden Leitlinien nicht selbst benennt, die auch von den Kodifikatoren kaum herausgearbeitet worden waren. Lediglich der große französische Staatsratsjurist Treilhard hat in seinem exposé de motifs vom 5. 11. 1806 einige dem CdPC zugrunde liegenden Grundsätze herausgestellt. Auch die Rechtslehre des 19. Jahrhunderts ist nicht zu den rechtsdogmatischen Grundlagen des CdPC vorgedrungen, deren positive Regeln weithin kritiklos erläutert wurden. Anfänge einer science de la procédure finden sich erstmals in dem Werk von P. Boncenne, Théorie de la procédure civile, Poitiers 1828 (vgl. Halpérin, S. 33f.).

 

Der zweite Teil der Festschrift behandelt das Schicksal des CdPC in Frankreich und in einigen europäischen Ländern bis in die 70er Jahre des 20. Jahrhunderts. Alain Wijffels bringt über die Entwicklung des CdPC in Frankreich einen sehr informativen Überblick, insbesondere über die gescheiterte Gesamtreform aufgrund von Kommissionsentwürfen von 1862 und 1883, über das Reformprojekt von 1933 und über das nicht sehr weit reichende Dekret von 1935 – seitdem erfolgen die Prozessrechtsreformen nicht mehr durch Gesetz, sondern durch nicht mehr vom Parlament verabschiedete Dekrete – und endlich über die Reformen von 1958/60/65, die in den 70er Jahren zum neuen Code de procédure civile von 1975 führten, der insbesondere gegenüber dem bisherigen Recht die richterlichen Befugnisse erheblich erweiterte. Die zentrale Figur der Prozessvorbereitung liegt nicht mehr primär in den Händen der Parteien, sondern seit 1965 beim Juge de la mise en n’état, der die Aufgabe hat, „das Verfahren zu leiten und zu ermitteln (instruire la procédure), die mündlichen Termine vorzubereiten, indem er den Austausch der Schriftsätze und das Stellen der Schlussanträge überwacht und die verfahrensmäßigen Schwierigkeiten beseitigt“ (Chartier, ZZP 91 [1978], S. 300, vgl. auch C. Cadiet, in: C. H. van Rhee (Hrsg.), European Traditions in Civil Procedure, Antwerpen/Oxford, 2005, S. 49ff.). – Manuel Ortells Ramos behandelt die Entstehung und den Inhalt der spanischen Zivilprozessordnung (Ley de enjuiciamento civil) von 1855, auf den der französischrechtliche Einfluss insgesamt sehr begrenzt war (S. 167ff.; vgl. auch Antonio Miras, Die Entwicklung des spanischen Zivilprozessrechts, Tübingen 1994, S. 103ff.). Ortells spricht in diesen Zusammenhang von der außergewöhnlichen Indifferenz des spanischen Liberalismus gegenüber dem mündlichen Verfahren des französischen Rechts, da man das bisherige schriftliche Verfahren beibehielt. Wichtig sind die Hinweise auf die französische Zeit, während der 1812 die Friedensgerichtsbarkeit mit den französischen Regeln und der obligatorische Vergleichsversuch eingeführt wurde (S. 177ff.). – C. H. van Rhee behandelt den Einfluss des CdPC von 1806 im Europa des 19. Jahrhunderts. Leider geht er der eingangs aufgeworfenen Frage nicht näher nach, aus welchen Gründen „such a mediocre piece of legislation proved to be able to dominate the procedural debate for a large part of the 19th century and even beyond“ (S. 129). Nach – allzu knappen – Passagen zur Entwicklung des Zivilprozessrechts in Italien und Deutschland (hierzu ebenfalls noch zu wenig differenziert bei B. Oberhammer und T. Domey, in: Rhee, aaO., S. 103ff.) und Belgien (hierzu P. van Orshoven bei Rhee, aaO., S. 213ff.) geht Rhee S. 152ff. ausführlich auf den Code de procédure civile von Genf (1819) ein, der zwar dem französischen Vorbild folgte, dieses jedoch teilweise nicht unerheblich abwandelte, und auf die niederländische Prozessordnung von 1838, die dem französischen Modell stärker verhaftet blieb. Die Genfer Prozessordnung Bellots, die der einflussreichen Hannoverschen Bürgerlichen Prozessordnung von 1850 zum Vorbild diente, hatte insbesondere die richterlichen Befugnisse ausgedehnt, den Vergleichsversuch fakultativ ausgestaltet, die Unterscheidung zwischen dem summarischen und örtlichen Verfahren aufgegeben sowie die Parteivernehmung und die Zeugenanhörung in die Hauptverhandlung des erkennenden Gerichts verwiesen (weitere Einzelheiten S. 133ff.). – Der 2. Titel des zweiten Teils der Festschrift befasst sich mit dem Schicksal des CdPC von 1975 in Frankreich und im Ausland sowie mit Vergleichen der ausländischen Entwicklung mit dem französischen Recht. Hierzu findet sich u. a. ein Aufsatz Rolf Stürners über das aktuelle Bild des deutschen Prozessverfahrens und dessen „relation avec la procédure française“ (S. 329ff.).

 

Die Festschrift vermag zwar die immer noch fehlende Gesamtdarstellung der Entwicklung des französischen Zivilprozessrechts von der Ordonnance civile an bis zum neuen Code de procédure civile von 1975 nicht ersetzen. Jedoch bietet sie mit der von mehreren Autoren vorgenommenen „réévaluition“ (S. 10) der Prozessordnung von 1806 eine gegenüber dem bisherigen Kenntnisstand differenziertere, nicht mehr bloß negative Sicht dieser für das europäische Zivilprozessrecht grundlegenden Kodifikation. In diesem Zusammenhang ist zu bedauern, dass die Entwicklung in Italien und Deutschland für das 19. Jahrhundert nicht in eigenen Abhandlungen dargestellt werden konnte, zumal es für beide Länder bisher noch keine befriedigende Gesamtdarstellung gibt, welche den französischrechtlichen Einflüssen detailliert nachgeht. Insgesamt stellt die Festschrift eine willkommene Bereicherung der Geschichte des französischen Zivilprozessrechts dar, das die Entwicklung des deutschen Zivilprozessrechts im 19. Jahrhundert sehr stark beeinflusst hat.

 

Kiel

Werner Schubert