Stipta, István, Die vertikale Gewaltentrennung (= Ungarische Rechtshistoriker). Gondolat Verlag, Budapest 2005. 332 S. Besprochen von Katalin Gönczi.

 

In der Reihe „Ungarische Rechtshistoriker“ des Gondolat Verlages ist ein neuer deutschsprachiger Band erschienen, dessen Autor, István Stipta, ein ausgewiesener Experte der ungarischen öffentlich-rechtlichen Rechtsgeschichte der Neuzeit ist. Der Verfasser, Inhaber des Lehrstuhls für Rechtsgeschichte an der Universität Miskolc und zugleich Lehrbeauftragter der Universität Szeged, besitzt in der Koordination der rechthistorischen Forschung in Ungarn eine zentrale Rolle und publizierte bereits mehrere ungarisch- und slowakischsprachige Beiträge zur Geschichte der Verwaltung und des Gerichtssystems in Ungarn. Diesmal präsentiert Stipta einen deutschsprachigen Sammelband, in dem fünf rechtshistorische Beiträge abgedruckt sind. Bei den Themen handelt es sich um Wissenschaftsgeschichte, Verfassungsgeschichte und Geschichte der Verwaltung im 19. Jahrhundert in Ungarn; Stiptas  Überlegungen sind unter dem Gesamttitel „vertikale Gewaltentrennung“ zusammengefasst worden.

 

Mit seinem ersten Aufsatz zur Geschichte des Faches Rechtsgeschichte in Ungarn setzt der Autor die Tradition ungarischer Rechtshistoriker wie György Bónis, Alajos Degré, Andor Csizmadia und János Zlinszky fort. In diesem Beitrag liefert Stipta einen präzisen Überblick über die rechtshistorischen Traditionen des Landes von der Zeit der Königin Maria Theresia bis zur Gegenwart (S. 15-68). Die Anfänge identifiziert der Autor als „Gesetzeserklärung“, die mit Adam Kollar, Hofbibliothekar der Königin, begonnen hat. Es ist eine mögliche Interpretation zum Beginn der Rechtsgeschichte in der Zeit, als historisches und geltendes Material voneinander nicht getrennt wurden.

 

Dank Stiptas Forschungen werden die Schulen der ungarischen Rechtshistoriographie für deutschsprachige Leser auch anschaulich. Besonders gelungen ist die Charakterisierung der Schulen der ungarischen Rechtsgeschichte am Ausgang des 19. Jahrhunderts. Positivismus und Nationalismus waren voneinander nicht getrennt, wie Stipta anhand der Laufbahn von Ákos Timon präzise darstellt (S. 27f.). Die Herkunft des ungarischen Rechtssystems hat Timon im Zeitalter der nationalistischen Geschichtsschreibung zu Beginn des 20. Jahrhunderts genuin ungarisch interpretiert, wobei Timons Thesen in der Zeit einer europäisch ausgerichteten Geschichtsschreibung durchaus anachronistisch erscheinen. Die rechtshistorischen Arbeiten in der Zwischenkriegszeit werden von Stipta zur Schule von József Illés bzw. Ferenc Eckhart zugeordnet. Die sogenannte Eckhart-Debatte, die Abrechnung mit der dogmatisch-nationalistischen Richtung der Rechtshistoriographie, die auch in der damaligen Politik große Wirbel ausgelöst hat, wird von Stipta exakt und sachgerecht dargestellt. Man hätte allerdings auch die Einschätzung der rechtshistorischen Tätigkeit von Historikern wie Elemér Mályusz, Gyula Szekfű und Bálint Hómann in die Rechtsgeschichte der Zwischenkriegszeit aufnehmen können, denn es gab damals keine strikte Trennung zwischen allgemeiner Historiographie und Rechtsgeschichtsschreibung. Einen weißen Fleck bildet in der Geschichte der ungarischen Rechtsgeschichte die Lehre und Forschung an der Universität Klausenburg nach 1940, als der Friedensvertrag von Trianon außer Kraft gesetzt wurde und der nördliche Teil Siebenbürgens nach zwanzig Jahren Zugehörigkeit zum Königreich Rumänien an Ungarn angeschlossen wurde. Diese Forschungslücke bleibt zwar weiterhin, doch lassen sich dank Stiptas Forschungen einige Autoren und Werke von dortigen rechtshistorischen Arbeiten ermitteln.

 

Die Ausführungen des Verfassers erfassen auch die Rechtsgeschichtsschreibung nach dem Ende des zweiten Weltkrieges. Während der zweiten bürgerlichen Epoche in der ungarischen Geschichte (1945-1948) erschienen zwar einige wichtige Werke von Ferenc Eckhart und György Bónis, diese Epoche wird aber von Stipta nicht analysiert. Stattdessen setzt er sich gleich kritisch mit dem marxistischen Erbe der ungarischen Rechtsgeschichtsschreibung auseinander. Die zur Zeit des real existierenden Sozialismus herrschenden ideologischen Zwänge des historischen Materialismus waren aus Stiptas Sicht, also aus der eines Rechtshistorikers, aber nicht besonders einschränkend, denn die Verfassungsgeschichte – so Stipta – konnte sich unter dem Schirm des mechanischen Marxismus weiterentwickeln. Die Forscher waren weniger als andere Bereiche der Öffentlichkeit zur Durchsetzung des dogmatischen Marxismus motiviert und die Rechtsgeschichte lag weit von der aktuellen Politik entfernt (S. 41ff.). Die Protagonisten der sowjetischen Forschungsrichtung werden in Stiptas Ausführungen deutlich genannt: Elek Bolgár, der nach dem zweiten Weltkrieg aus der Sowjetunion zurückkehrte, Márton Sarlós, der die marxistische Variante des Faches zusammen mit György Bónis ausarbeitete, und György Székely, der u. a. zur mediävistischen Stadtgeschichte publizierte. Um 1960, als in der ungarischen Wirtschaft, Gesellschaft und Politik eine Milderung in der Durchsetzung politischer Richtlinien stattfand, konnte auch die Rechtsgeschichte neue Wege betreten.

 

Auch die gegenwärtigen Forschungsrichtungen lassen sich anhand von Stiptas Zusammenstellung gut verstehen. An manchen Stellen könnten die Ausführungen vielleicht weniger Fakten erhalten, doch Stiptas wissenschaftshistorisches Kapitel ist ein wichtiges Zeitdokument und informativ für den mit der ungarischen Forschung nicht vertrauten Leserkreis.

 

In den weiteren Aufsätzen liefert der Autor einen Überblick über seine bisherigen Forschungsergebnisse. Er analysiert zuerst einzelne Verfassungsdokumente aus der Sicht der gegenwärtigen Werteordnung des Parlamentalismus, so z. B. inwieweit die Verfassungskonzeption von Lajos Kossuth aus dem Jahre 1859 der Volkssouveränität entsprach. Stipta hat dabei den Schwerpunkt der Analyse auf die Normexegese gelegt. Als Fazit lässt sich feststellen, dass Lajos Kossuth, einer der prominentesten Staatsmänner Ungarns im 19. Jahrhundert, die demokratischen Institutionen der Vereinigten Staaten, ähnlich wie Alexis Tocqueville, vor Ort erlebt hatte. Die Ideen wurden in seinen Schriften und so auch in dem erwähnten Verfassungsdokument verarbeitet.

 

Im dritten Aufsatz schildert der Autor die Parlamentsdebatten um einen Staatsgerichtshof bzw. um die Verwaltungsgerichtsbarkeit. Diese Ideen wurden von Ferenc Deák schon im Vormärz präsentiert. Den langen Weg zur Verwirklichung der ministeriellen Verantwortlichkeit und zur Verwaltungsgerichtsbarkeit hat Stipta mit vielen Details aus der Gesetzgebungsgeschichte dargestellt. Die Idee der Verwaltungsgerichtsbarkeit war auch im politischen Denken in Ungarn verankert, daher kann der Leser die Gedanken von József Eötvös, Lajos Kossuth und Győző Concha nachvollziehen.

 

Der Autor vergleicht danach die Vorschläge zur Gewaltenteilung mit schon existierenden Lösungen in Westeuropa und zeigt die enge Bindung der ungarischen Verfassungsdiskussion an Europa. Stiptas Argumente und Vergleiche überzeugen den Leser davon, dass die Verfassungsgeschichte Ungarns – anders als bei Timon dargestellt – nicht ein genuin nationales Produkt ist. Stipta liefert daher einen ausführlichen Überblick über die englischen, französischen, italienischen und kernösterreichischen parlamentarischen Lösungen.

 

Die Thesen im vierten Kapitel zu den munizipalen Verwaltungseinheiten markieren dann die Hauptrichtung von Stiptas Forschungen. Prägnant schildert er die Rolle der Komitate im ständischen Ungarn, als sie den Verfassungsschutz auf lokaler Ebene verwirklichten. Die Reform der Komitate wurde ein wichtiges politisches Argument, wobei der Verfasser Kossuths und Deáks Gedanken hinsichtlich der Selbstverwaltung analysiert. In welcher Form diese ständepolitischen Foren bei der Modernisierung der Verwaltung umgestaltet wurden, stellt Stipta sehr genau dar. Auch die Debatte um die Verwaltungseinheiten wird durch die Wiedergabe der zeitgenössischen Meinungen sehr anschaulich.

 

Im fünften Kapitel stehen im Sinne der europäischen Rechtsgeschichte die Europavorstellungen im Mittelpunkt der Analyse, deren Ursprünge Stipta im Mittelalter sucht. Den ersten Europabegriff setzt er mit der Weltanschauung des lateinischen Christentums gleich; mit diesem Ansatz geht er auf Dantes Staatsvorstellung und weitere frühe Föderationskonzepte ein. Eine konstruktive Wirkung in der Entwicklung der Europaidee hatten danach die Kämpfe gegen das Osmanische Reich, wobei sich der Europabegriff geographisch vergrößerte. Im Weiteren wird auf Thesen von Philosophen und in Staatsakten und Friedensplänen hingewiesen, in denen die grenzüberschreitende Zusammenarbeit der Nationen vorgestellt wurde. Stipta schildert diese Gedanken bis zur Aufklärung.

 

Stipta und der Herausgeber der Reihe, Barna Mezey, haben mit diesem Buch die Aufgabe der ungarischen Rechtshistoriker erfüllt, die schon aus sprachlichen Gründen verschlossenen Themen der ungarischen Rechtsgeschichte für die europäische Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Damit wurde ein weiterer Schritt auf dem Weg der Angleichung der Ergebnisse nationaler Rechtsgeschichtsschreibung an die europäische Wissenschaft der Rechtsgeschichte getan. In der heutigen Zeit der heranwachsenden europäischen Rechtskultur stellt dieser Weg eine besonders wichtige Erwartung an die mittel-osteuropäischen nationalen Wissenschaften dar.

 

Frankfurt am Main/Budapest                                                                          Katalin Gönczi