Schumann, Antje, Zum Standort des Rücktritts vom Versuch im Verbrechensaufbau. Eine Untersuchung anhand der Dogmatik zum System von Versuch und Rücktritt seit dem 19. Jahrhundert (= Schriften zum Strafrecht 179). Duncker & Humblot, Berlin 2006. 177 S. Besprochen von Lukas Gschwend.

 

Die vorliegende Studie wurde von der juristischen Fakultät der Universität Erlangen-Nürnberg im Sommersemester 2005 als strafrechtliche Dissertation angenommen. Wenn sie in dieser Zeitschrift besprochen wird, so deshalb, weil die Autorin sich für einen historisch-dogmatischen Ansatz entschieden hat. Sie analysiert die strafrechtliche Dogmatik zu den Problemen von Versuch und Rücktritt, wie sie seit der Kodifikation des Allgemeinen Landrechts für die preußischen Staaten in Deutschland entwickelt wurde unter Berücksichtigung der deutschsprachigen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts. Die Studie fokussiert die dogmatische Konstruktion wie auch die im Lauf der Zeit einem erheblichen Wandel unterliegende Begrifflichkeit strafrechtswissenschaftlicher Strukturierung und Beurteilung der Tatdynamik zwischen Vorbereitungshandlung und Versuchsende.

 

Während das preußische Strafgesetzbuch von 1851 die Rechtsinstitute des Versuchs und des Rücktritts noch in derselben Norm regelte, bildete das Reichsstrafgesetzbuch von 1871 zwei eigenständige Vorschriften. Die Autorin zeigt anhand der Entwürfe auf, dass für die Trennung insbesondere prozessrechtliche Überlegungen den Ausschlag gaben. So schien eine getrennte Regelung der Beurteilung durch Geschworene zugänglicher, und die Beweislastverteilung bei einem Rücktritt ebenso wie die Beurteilung der Teilnahmefrage hoffte man dadurch zu klären. Erst anfangs des 20. Jahrhunderts erfuhr die materiellrechtliche Trennung des Rücktritts vom Versuch ihre Begründung aus dem Verständnis des Rücktritts als eigener „kriminalpolitischer Strafausschliessungs- bzw. Strafaufhebungsgrund“. Nach 1930 erlebte die Gesamtbewertung des Versuchs- und Rücktrittsgeschehen eine Renaissance, ohne dass eine genauere Analyse und Identifizierung desjenigen Versuchselements erfolgte, welches den Begriff der Strafwürdigkeit des Versuchs begründen sollte (S. 91). Die Autorin unterstreicht demgegenüber die Plausibilität der Interpretation von Versuch und Rücktritt in den Theorien des 19. Jahrhunderts.

Der Hauptteil der Arbeit fokussiert die Darstellung der Frage nach Separation und Gesamtbetrachtung von Versuch und Rücktritt nach 1950 (S. 72ff.).

 

Auch die Autorin vertritt eine „ganzheitliche“ Versuchsperspektive. Sie unterscheidet den Unrechtstatbestand vom Schuldtatbestand des Versuchs und ordnet den Rücktritt innerhalb des Verbrechensaufbaus bei der Schuld ein. Die Synthese von Versuch und Rücktritt erfolge „über das auf die Vollendung bezogene subjektive Versuchsmerkmal im Rahmen der Schuld“, weil der Täter mit dem Rücktritt sein Vorhaben noch vor Versuchsende aufgebe und sich damit doch noch aus freien Stücken rechtskonform verhalte (S. 151, 165).

 

Methode und Aufbau der Studie entsprechen mehr der dogmenanalytischen als einer rechtshistorischen Zielsetzung. Überhaupt handelt es sich bei der vorliegenden Dissertation nicht um eine rechtshistorische Arbeit. Aber sie legt beredtes Zeugnis davon ab, wie fruchtbar eine breit angelegte Integration der älteren Literatur für die dogmatische Durchdringung gewisser Grundfragen des Strafrechts sein kann. Tatsächlich befasst sich die Literatur des 19. Jahrhunderts mit den meisten auch heute noch aktuellen dogmatischen Problemen des Strafrechts und liefert differenzierte, logisch durchdachte Lösungsansätze. Obschon die Rezeption von Karl Bindings Normenlehre, die Modifikationen des Schuldbegriffs und insbesondere die Einführung der finalen Handlungslehre im 20. Jahrhundert einige grundlegende Veränderungen mit sich brachten, besticht die ältere Strafrechtsliteratur zu den Fragen des Allgemeinen Teils oft durch ihre logisch-begriffliche Stringenz sowie wissenschaftliche Breite und Tiefe. Ihre Kenntnis öffnet den Blick für die Entwicklung dogmatischer Figuren und beleuchtet dieselben über den systematischen und funktionalen Zusammenhang hinaus. Die vorliegende Arbeit zeigt, wie wertvoll der dogmengeschichtliche Ansatz auch im 21. Jahrhundert für die Strafrechtswissenschaft ist. Hält man sich vor Augen, dass heute längst nicht mehr alle Inhaber strafrechtlicher Lehrstühle mit der strafrechtsdogmatischen Literatur des 19. Jahrhunderts vertraut sind, und dass es gegenwärtig völlig üblich ist, sich bei der Ausarbeitung strafrechtlicher Dissertationen auch bei der Auseinandersetzung von Grundfragen des Strafrechts ausschliesslich auf die Literatur der letzten zwanzig Jahre zu beschränken, so erscheint das Verdienst dieser dem Trend trotzenden Studie umso größer.

 

Sankt Gallen                                                                                       Lukas Gschwend