KugelmannSchönbergerunionsbürger20060724  Nr. 11572 ZRG GA 124 82007) 85

 

 

Schönberger, Christoph, Unionsbürger (= Jus Publicum 145). Mohr (Siebeck) 2005. XXVI, 597 S. Besprochen von Dieter Kugelmann.

 

Seit ihrer Einführung in das Recht der Europäischen Union durch den Vertrag von Maastricht im Jahr 1993 ist die Unionsbürgerschaft Gegenstand anhaltender Diskussionen. Da sie das aktive und passive Wahlrecht der Unionsbürger bei Kommunalwahlen beinhaltet (Art. 19 EG-Vertrag), mussten die Verfassungen gleich mehrerer Mitgliedstaaten geändert werden. Dies verdeutlicht die Tragweite, die den Gewährleistungen der Unionsbürgerschaft inne wohnt. Dies gilt insbesondere auch für die Gewährleistung der Freizügigkeit im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten nach Art. 18 EGV. Zunächst blieben die praktischen Auswirkungen jenseits des Kommunalwahlrechts allerdings begrenzt.

 

Seit einigen Jahren hat der Europäische Gerichtshof eine aktivierende Rechtsprechung entwickelt, die aus der Unionsbürgerschaft vielfältige rechtliche Gewährleistungen ableitet. Sie reichen vom Namensrecht über sozialrechtliche Ansprüche bis zu Aufenthaltsrechten der aus Drittstaaten stammenden Familienangehörigen von Unionsbürgern. Trotz der weitreichenden Rechte sind die theoretischen Grundlagen der Unionsbürgerschaft nicht vollständig geklärt. Dieser Problematik nimmt sich die vorliegende Habilitationsschrift an.

 

Die Konzeption des Autors beschränkt sich nicht auf die Unionsbürgerschaft als Institut, sondern stellt sie in den Rahmen einer Theorie föderaler Staatenverbindungen. Schönberger bemüht sich um ein Loslösen der Diskussion von der Dichotomie völkerrechtlicher und staatsrechtlicher Kategorien wie Staatenbund und Bundesstaat. Sein Ansatz zielt auf eine eigenständige Theorie des Bundes, die das Einordnen unterschiedlicher staatlicher Ordnungen, aber insbesondere auch der Europäischen Union ermöglicht. Aus dieser Sicht erscheint die Unionsbürgerschaft als Bundesangehörigkeit. Damit ist Raum geschaffen für ein skaliertes Verständnis der Unionsbürgerschaft als flexiblem System rechtlicher Gewährleistungen, das aus gemeinschaftlichen wie innerstaatlichen Rechten besteht, die ineinander greifen und sich ergänzen. Schönberger nennt als Vorbild für seinen Ansatz die Arbeiten Heinrich Triepels zu bündisch organisierten Gemeinwesen.

 

In einem ersten allgemeinen Teil der Schrift wird der Begriff der Bundesangehörigkeit aus historischer und theoretischer Perspektive konzipiert. Im zweiten konkreteren Teil wendet Schönberger diese Konzeption auf die Unionsbürgerschaft an und sich damit der europarechtlichen Perspektive zu. Diese theoretische Fundierung europarechtlicher Gehalte ist ein begrüßenswerter Ansatz, da das Gemeinschaftsrecht zuweilen stark ergebnisorientiert erörtert wird. Angesichts seiner großen Dynamik und der starken Stellung des Europäischen Gerichtshofes in der Rechtsgemeinschaft ist der konkrete Blick auf Rechtsprobleme eine große Herausforderung und aller Anstrengungen wert. Dennoch erscheint die theoretische Unterlegung der europarechtlichen Entwicklungen erforderlich, um einen Rationalitätsgewinn zu erreichen, der auch die zukünftigen Entwicklungen absehbarer macht. Dieser Forderung wird Schönberger für sein Thema vollständig gerecht.

 

Der erste Teil beginnt mit einer Bestandsaufnahme personeller Rechtsstellungen und setzt bei Staatsangehörigkeit und Staatsbürgerschaft an, um diese Begriffe sogleich als verkürzend zu bewerten. Als Anschauungsmaterial greift Schönberger auf die Rechtsstellung der Personen in den Rechtsordnungen der Vereinigten Staaten, der Schweiz und Deutschlands zurück, um diese mit den Angehörigkeitsbeziehungen in der Europäischen Union zu vergleichen. Den Anspruch weit ausholender Einbeziehung von Material löst die Arbeit auch auf der Ebene der Literaturrecherche ein, die nicht deutschsprachige Beiträge umfassend verarbeitet.

 

Schönberger erarbeitet die Strukturen einer Bundesangehörigkeit, die für föderale Staatenverbindungen kennzeichnend sein soll. Seine Ausführungen stellt er auf eine solide historische Basis. Unter dem Oberbegriff „föderale Angehörigkeitskonfigurationen“ untersucht er die Ausgestaltung des personalen Status des Einzelnen in unterschiedlichen Rechtsordnungen zu unterschiedlichen historischen Zeitpunkten. Dabei scheinen die traditionellen Kategorien des Staatenbundes und des Bundesstaates als Erklärungsmuster immer wieder auf, weil sie in der zeitgenössischen Literatur eine Rolle spielten und in der Folge auch zur Erklärung herangezogen wurden. Dies betrifft etwa die Vereinigten Staaten von Amerika, die den freigelassenen Sklaven 1868 die Staatsangehörigkeit sowohl des Bundes wie des Wohnsitzstaates zuerkannten. Die Rechtsprechung des Supreme Court im 20. Jahrhundert spielt insbesondere im Sozialrecht. Das Modell der Schweiz wird ebenfalls zunächst unter sozialrechtlichen Gesichtspunkten dargestellt, dann aber in den Kontext der Niederlassungsfreiheit gestellt, die seit der Bundesverfassung von 1848 Kernelement des Schweizer Bürgerrechts ist.

 

Die Schweiz war Vorbild für die Arbeiten in der Frankfurter Paulskirche, die zu einer systematischen Regelung des „Reichs- und Staatsbürgerrechts“ in den §§ 131ff. der Paulskirchen-Verfassung führten. Das Reichsbürgerrecht sollte durch die Staatsangehörigkeit der Einzelstaaten vermittelt werden. Sein Inhalt bestand in der Freizügigkeit und der Nichtdiskriminierung im Reichsgebiet. Im Norddeutschen Bund und im Deutschen Reich von 1871 galt ein gemeinsames Indigenat, das aber im Gegensatz zur Schweiz keine politischen Rechte umfasste. Einen Schub an Unitarisierung brachte die Weimarer Republik, die mit der durch die Länder vermittelten Staatsangehörigkeit politische Rechte verband. Aus diesen historischen Erörterungen leitet Schönberger die Notwendigkeit ab, ein skaliertes Modell föderaler Angehörigkeitsbeziehungen zu entwerfen (S. 124ff.). Dieses reicht vom völkerrechtlichen Fremdenrecht über das Recht traditioneller Staatenbünde mit der Angehörigkeit zu den Gliedstaaten als Kernpunkt zu Verdichtungen im Recht der Bundesstaaten bis hin zur Bundesangehörigkeit. Dieses Modell ist nicht als Beschreibung einer historischen Entwicklung gemeint, sondern soll die Analyse systematischer Strukturen ermöglichen.

 

Als Zentralbegriff des skalierten Modells entwickelt Schönberger die Bundesangehörigkeit als Rechtsbegriff. Dabei verwendet er völkerrechtliche wie staatsrechtliche, historische wie normative Argumentationen. So richtet er den Blick auf völkerrechtliche Niederlassungsabkommen mit ihrem Gegenseitigkeitscharakter, erweitert aber sogleich die Perspektive, indem der Groß- und Kolonialreiche einbezieht. Im Zusammenhang der Auslieferung sieht Schönberger Parallelen zwischen dem Norddeutschen Bund und der Europäischen Union, weil als Folge eines gemeinsamen Indigenats zwischenstaatliche Rechte wie das Asylrecht und die Befugnis zum Auslieferungsverbot verloren gingen. Im Verhältnis zu den Staatsangehörigen anderer Gliedstaaten und zum Bund bestimme die Bundesangehörigkeit die Rechtsbeziehungen. Dies gelte für jede Staatenverbindung, wobei der föderale Charakter durch die gemeinsame Verteidigung oder die Personenfreizügigkeit hergestellt werde (S. 268). Inhaltliche Elemente seien das Aufenthaltsrecht und die Inländerbehandlung.

 

Im zweiten Teil der Arbeit wendet sich Schönberger der Unionsbürgerschaft der Art. 17ff. EG-Vertrag zu, indem er die von ihm entwickelten Kriterien der Bundesangehörigkeit auf sie anwendet. Den Ausgangspunkt bildet die sorgfältige Betrachtung des Zusammenhanges zwischen mitgliedstaatlicher Staatsangehörigkeit und Unionsbürgerschaft bis in die Einzelfragen von Einbürgerungsrecht und doppelter Staatsbürgerschaft hinein. Nach im Ansatz überzeugender Ansicht Schönbergers können Drittstaatsangehörige nur Einzelrechte wie die Freizügigkeit erwerben, nicht aber eine abstrakt gedachte Unionsbürgerschaft, weil diese an der Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates anknüpft (S. 293f.). Dies hindert aber nicht die Ableitung individueller Rechtspositionen Drittstaatsangehöriger aus dem Gemeinschaftsrecht.

 

Nach dem Grund der Unionsbürgerschaft betrachtet Schönberger die einzelnen rechtlichen Gewährleistungen. Grundlegende Bedeutung hat die Personenfreizügigkeit, die in Beziehung zur Inländerbehandlung gesetzt wird, um zugleich die Unterschiede des Freiheitsrechts von dem Gleichheitsrecht herauszustellen. Unter eingehender Verarbeitung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes und des Sekundärrechts klärt Schönberger zunächst die Gehalte des Art. 18 EGV, dem er eine Auffangfunktion im Verhältnis zu den Grundfreiheiten zuerkennt. Sodann legt er besonderes Augenmerk auf sozialrechtliche Fragen im weitesten Sinne. Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs im Fall Grzelczyk, in dem einem mittellosen französischen Studenten in Belgien ein Anspruch auf Sozialleistungen zugestanden wurde, wird kritisch kommentiert (S. 345ff.). Von dieser Konstellation aus behandelt die Arbeit das Verhältnis von Freizügigkeit und Fürsorgelast, die Schönberger entkoppeln will. Er entwickelt ein Hineinwachsen des Unionsbürgers in die Unterstützungslast des Aufenthaltsstaates als Ausdruck der Bundesangehörigkeit (S. 363f.), das er wohl als politische Forderung an den Gesetzgeber versteht. Dementsprechend wird im Anschluss die grundlegende Freizügigkeits-Richtlinie 2004/38/EG behandelt. Diese enthält einen Anspruch auf Sozialhilfe auch für Nichterwerbstätige nach dreimonatigem Aufenthalt. Rückwirkungen auf die Neigung der Staaten zur Beendigung des Aufenthalts sind absehbar, ihnen wird aber durch die gemeinschaftsrechtlichen Grenzen aufenthaltsbeendender Maßnahmen ein Riegel vorgeschoben. Die daraus folgende Verengung sozialrechtlicher Gestaltungsspielräume sieht Schönberger als verfrüht angesichts des Entwicklungsstandes der Union (S. 379f.).

 

Das Diskriminierungsverbot, das in den Zusammenhang historischer Erscheinungsformen der Inländerbehandlung gestellt wird, wird in seinen unterschiedlichen Erscheinungsformen erörtert. Thematische Schwerpunkte liegen erneut auf sozialrechtlichen Fragestellungen, aber auch auf Rechtfertigungen für Ungleichbehandlungen zum Schutz einer Landessprache. Eine Dogmatik abgestufter Solidarität in der Europäischen Union könnte nach Ansicht Schönbergers an der zeitlichen Komponente des Leistungsbezuges festmachen, indem etwa Wartezeiten vor dem Bezug von Sozialleistungen vorgesehen werden (S. 418ff.).

 

In konkreten Rechtsfragen gelangt Schönberger zu eher zurückhaltenden Positionen hinsichtlich der Tragweite der Unionsbürgerschaft. Sie begründe keinen Gleichheitsstatus, sondern betreffe umfassend nur die Rechtsbeziehungen des Unionsbürgers zum Aufenthaltsstaat, während im Verhältnis zum Heimatstaat lediglich freizügigkeitsbedingte Nachteile ausgeglichen würden (S. 428f.). Teilweise bleibt Schönberger damit hinter den Gehalten der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zurück.

 

Im Zusammenhang des kommunalen Wahlrechts gemäß Art. 19 EGV sieht Schönberger eine Erweiterung des Wahlrechts auf die nationale Ebene als Entscheidung der Mitgliedstaaten an (S. 444f.). Die gemeinsame Vermittlung demokratischer Legitimation auf kommunaler Ebene entspreche der Situation nach dem Schweizer Bürgerrecht von 1848 und der Weimarer Reichsverfassung. Einer Ausweitung der Gewährung diplomatischen Schutzes über das Maß des Art. 20 EGV hinaus steht Schönberger kritisch gegenüber (S. 496f.). Die Ausführungen zur Rechtsstellung der Unionsbürger gegenüber der Europäischen Union bzw. Europäischen Gemeinschaft konzentrieren sich auf das Wahlrecht zum Europäischen Parlament, das als Ausdruck spezifisch föderaler Legitimation gedeutet wird.

 

Das Konzept Schönbergers erscheint von der Unionsbürgerschaft her gedacht, die es zu erklären gilt. Zu diesem Zweck werden Angehörigkeitsbeziehungen in ein übergeordnetes System integriert. Der Blick in die Geschichte führt dazu, dass traditionelle Vorstellungen des 19. Jahrhunderts in das zukunftsgerichtete Konzept Eingang finden. Zu selten wird die Solidarität in der Europäischen Union thematisiert. Damit läuft die Arbeit Gefahr, dass konventionelle Rechtsstrukturen die originären Rechte aus dem Recht der Europäischen Union überlagern. Dem versucht Schönberger durch die Hervorhebung der Flexibilität seiner Konstruktion zu entgehen. Seine konkreten Ergebnisse zur Reichweite bestehender Rechte aus dem Primär- und Sekundärrecht bleiben aber teilweise hinter der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zurück. Die Bundesangehörigkeit beinhaltet eine Beschränkung auf Rechte in der Föderation, die individualrechtliche Komponente kommt etwas zu kurz. In der Konzeption Schönbergers scheint die Bundesangehörigkeit manches Mal eher der schlüssigen Konzeption des Bundes zu dienen und weniger dem Schutz der Rechtsposition des Einzelnen. Eben diese ist aber Grundlage der Legitimation in der Europäischen Union. Der Unionsbürger ist bereits nach geltendem Recht und ausdrücklich nach der künftigen Verfassung (neben den Mitgliedstaaten) Legitimationsquelle für die Rechtsordnung der Union. Sein personaler Status ist die Unionsbürgerschaft. Diese individualrechtliche Ausrichtung darf nicht durch eine Überakzentuierung bündischer Strukturen in den Hintergrund gedrängt werden. Für die Beurteilung der Unionsbürgerschaft und ihre Fortentwicklung schafft die gedankenreiche und inspirierende Arbeit Schönbergers die historischen, theoretischen und konzeptionellen Grundlagen. Darin liegen ihre Stärke und ihr bleibender Wert.

 

Mainz                                                                                                            Dieter Kugelmann