Scheuren-Brandes, Christoph Martin, Der Weg von nationalsozialistischen Rechtslehren zur Radbruchschen Formel. Untersuchungen zur Geschichte der Idee vom ,unrichtigen Recht’ (= Rechts- und staatswissenschaftliche Veröffentlichungen der Görres-Gesellschaft Neue Folge 113). Schöningh, Paderborn 2005. 139 S. Besprochen von Thomas Vormbaum.

 

Ob die nationalsozialistischen Lehren „in der Jurisprudenz nach Ende des Krieges ein ,Trümmerfeld’ [hinterlassen]“ haben, wie der Verfasser des hier besprochenen Buches (im Anschluß an Radbruch) gleich einleitend behauptet, ist eine – beispielsweise im Strafrecht – recht umstrittene Frage. Die inzwischen mehrheitliche Meinung neigt dazu, sie zu verneinen, oder sieht das Problem differenziert[1]. Der Verfasser selbst relativiert seine Auffassung denn auch, indem er – dies sein erstes und hauptsächliches Thema – anhand der Werke einiger ausgewählter, heute überwiegend vergessener Rechtsphilosophen Elemente nonkonformen Denkens nachweist. Damit zusammenhängend, aber nicht deckungsgleich – in der Darstellung freilich mitunter ineinander fließend – geht es ihm um die Aufdeckung naturrechtlicher, insbesondere christlich-naturrechtlicher, Denkstränge, die sich – vor allem in Auseinandersetzung mit nationalsozialistischen Rechtslehren – behauptet oder herausgebildet haben.

 

Ausgangspunkt der Betrachtungen des Verfassers ist die 1947 publizierte, zumindest in ihrem ersten Teil analytisch recht triviale, in ihrer Vagheit rechtsstaatlich problematische, andererseits den Positivismus bis zur „Unerträglichkeits“-Grenze in Geltung lassende „Radbruchsche Formel“, die auch in ihrem zweiten Teil („Verleugnungsthese“, S. 17) kaum jene theoretische Aufmerksamkeit verdient, die ihr bis heute zuteil wird. (In der Praxis war sie wegen ihrer beliebigen Handhabbarkeit recht beliebt). Interessant ist immerhin der Hinweis des Verfassers darauf, daß Radbruch schon in der Spätzeit der Weimarer Republik Überlegungen angestellt hat, die ein Abrücken vom strengen Positivismus signalisieren. Ob man der Selbsteinschätzung Radbruchs, seine Formel sei „Naturrecht, wenn auch besonderer Art“, zustimmen kann, erscheint mir auch nach den Ausführungen des Verfassers fraglich.

 

Nach Gustav Radbruch, der seine Heidelberger Professur aufgrund des Berufsbeamtengesetzes verlor, präsentiert der Verfasser sodann die Lebensläufe und die wissenschaftlichen Werke von weiteren vier Rechtslehrern, von denen drei – Wilhelm Sauer, Erik Wolf und Walter Schönfeld – während der Zeit der NS-Herrschaft ihre universitäre Lehrtätigkeit fortsetzen konnten; Heinrich Rommen war nach zweifacher Promotion von 1929 bis 1933 für den Volksverein für das katholische Deutschland tätig, verbrachte nach der Machtübertragung an die Nationalsozialisten mehrere Wochen in „Schutzhaft“ und war sodann, ständig unter Kontrolle der Gestapo stehend, für ein Wirtschaftsunternehmen tätig, bis er 1938 in die USA ausreisen und kurz darauf seine Familie nachholen konnte. In Amerika wirkte er als Hochschullehrer. Noch in Deutschland hatte er sein in den Jahren nach 1945 recht bekanntes und 1947 neu aufgelegtes und Buch „Die ewige Wiederkehr des Naturrechts“ verfaßt. Wilhelm Sauer mußte 1934 seine Stellung als Schriftleiter des Archivs für Rechts und Sozialphilosophie aufgeben, wechselte 1935 – wohl aufgrund politischer Kritik aus der Studentenschaft – von der Königsberger „Stoßtruppfakultät“ an die Universität Münster. Er bemühte sich (erfolglos), seine philosophischen Auffassungen als nationalsozialistisch akzeptiert zu sehen, brachte aber immerhin die Unbefangenheit auf, die Möglichkeit einer Fehlerhaftigkeit von Führerbefehlen zu prüfen (und zu bejahen). Obgleich er für die „oberste Staatsführung“ eine Ausnahme machte, wurde sein Buch „Rechts- und Staatsphilosophie“ 1936 beschlagnahmt. Erik Wolf wandte sich nach anfänglicher Begeisterung von den neuen Machthabern ab und wandte sich politisch unverfänglichen Forschungsgebieten und Aktivitäten in der evangelischen Kirche zu.

 

Den weitaus größten Teil – etwa die Hälfte des Hauptteils der Untersuchung – nimmt die Beschäftigung mit dem Werk Walther Schönfelds ein. Dies erklärt sich zum einen daraus, daß dem Verfasser der bislang unveröffentlichte Nachlaß Schönfelds zur Verfügung stand, zum anderen daraus, daß hier der christliche Hintergrund – Schönfeld studierte nach 1945 Theologie und wurde zum Pfarrer ordiniert – besonders greifbar ist. Seine wissenschaftlichen Äußerungen, die der Verfasser penibel und ausgewogen darstellt und erörtert, sind schwer einzuordnen, weil er sich – und zumindest am Anfang wohl aus Überzeugung – bemühte, sie als mit der nationalsozialistischen Rechtslehre kompatibel hinzustellen. Demgemäß liegt manches in seiner Lehre sehr im Gemenge mit Kernthesen der nationalsozialistischen Weltanschauung. Es sind von ihm couragierte Resistenzhandlungen (Verweigerung des Hitlergrußes; Teilnahme an unerwünschten Morgenandachten) überliefert, und gegen Ende der NS-Zeit wird der Vorrang der christlichen Botschaft vor weltlichen Befehlen zunehmend akzentuiert.

 

Anzuerkennen ist, daß der Verfasser ungeachtet seines erkennbaren Vorverständnisses zugunsten des christlichen Naturrechts in seinen Bewertungen nicht einseitig bzw. selektiv verfährt, wenngleich er in der Grundlinie die untersuchten Rechtslehrer wohlwollend beurteilt. (Allen bescheinigt er am Ende seines Werks, sie hätten „Gott mehr gehorcht als den Menschen“.) Bisweilen geht er in seinem Bemühen, einseitige Beurteilungen zu vermeiden, nach meinem Dafürhalten sogar über das Notwendige hinaus: Aus der gewiß problematischen, die Amalgamierung christlich-naturrechtlicher Ideen mit nationalsozialistischem Gedankengut zum Ausdruck bringenden, Aussage Schönfelds: „das Recht, das die Zeit ist, [liegt] den Deutschen im Blut“ (S. 94), eine Verbindung zur Blut- und Boden-Ideologie zu konstruieren (S. 94, 96), beweist m. E. zu viel.

 

Fraglich erscheint mir auch der Versuch, die Einstellung zur Hegelschen Philosophie zu einem Prüfstein der Einstellung zur nationalsozialistischen Rechtslehre zu machen oder doch diesen Eindruck zu erwecken. So ist es recht kühn, in dem Umstand, daß Hegel von Erik Wolf nicht in die Galerie der „Großen Rechtsdenker“ aufgenommen worden ist, eine Widerstands- oder Resistenzhandlung zu erblicken; immerhin sucht man auch Kant, der für die Rechtsgeschichte mindestens ebenso wichtig und folgenreich ist wie Hegel, in diesem Werk vergeblich; offenbar hat Wolf das – vertretbare – Auswahlkriterium zugrundegelegt, nur Juristen in die Sammlung aufzunehmen. Auf S. 91 zeigt sich, daß der Verfasser selbst aufgrund seiner vorherigen Ausführungen ein Mißverständnis des Lesers fürchtet; dort warnt er ausdrücklich „noch einmal“ (ich habe die frühere Warnung nicht gefunden) davor, „den Hegelianismus uneingeschränkt als Basis für die Rechtslehren des Nationalsozialismus anzusehen“. Das hätte wohl auch – trotz Karl Larenz und Carl Schmitt – niemand „uneingeschränkt“ angenommen.

 

Zu Recht weist der Verfasser auf die Lebensverhältnisse der untersuchten Rechtslehrer hin (S. 130). Es machte in der Tat einen Unterschied, ob man als einziger Ernährer einer achtköpfigen Familie (wie Schönfeld), als kinderloser Verheirateter (wie Wolf) oder als lebenslanger Junggeselle (wie Sauer) lebte. Einen weiteren Aspekt hätte der Verfasser gerade bei seinem Vorverständnis noch hinzufügen können: Abgesehen von Rommen, der in die äußere, und Radbruch, der in die innere Emigration ging (einer der wenigen, auf den diese fragwürdige Redewendung wirklich zutrifft), lebten die betrachteten Autoren in stark christlich geprägten Milieus (Sauer in Münster, Schönfeld in Tübingen, Wolf in Freiburg), in denen die NS-Machthaber – wie ihre Reaktion auf die Predigten des Kardinals von Galen in Münster zeigt – vorsichtiger taktierten und in denen gewisse Spielräume für Resistenz eröffnet waren.

 

Das offenkundige Erkenntnisinteresse des Verfassers ist, wie erwähnt, die Prüfung der Lehren der behandelten Rechtslehrer am Maßstab des christlichen Naturrechts. Dieser Gesichtspunkt hat erkennbar auch die Auswahl der behandelten Autoren gesteuert, die sonst ein wenig zufällig erschiene. Diese Position hätte aber im Titel des Buches kenntlich gemacht werden sollen, der so, wie er formuliert ist, einen ausgreifenderen Ansatz vermuten läßt. Natürlich spricht prinzipiell nichts gegen die vorgenommene Einengung der Fragestellung; manches läßt sich sogar für sie vorbringen. Auch soll man einem Verfasser nicht vorhalten, was er über sein Untersuchungsfeld hinaus noch sonst alles hätte einbeziehen können. Es seien aber zwei ergänzende Anmerkungen gestattet.

 

Mit der Fokussierung auf das christliche Naturrecht wird die Naturrechtsproblematik, vor allem im Hinblick auf ihre Auswirkungen auf die Nachkriegsdiskussion, letztlich denn doch verkürzt. Die christliche Naturrechtsauffassung, welche die höchstrichterliche Rechtsprechung in der Frühzeit der Bundesrepublik beherrschte, produzierte alles andere als ein demokratisch-liberales Weltbild. Paradoxerweise meinte eine wissenschaftliche Richtung, die dann dagegen aufstand, den Abschied von Kant (und Hegel) propagieren zu müssen. Kant zumindest war kaum der rechte Adressat dieser Kritik.

 

Juristischer Widerstand gegen die nationalsozialistischen Machthaber konnte nicht nur vom Standpunkt des Naturrechts, sondern auch vom positivistischen Standpunkt aus geleistet werden. Andererseits ist manches skandalöse Urteil gerade dadurch zustande gekommen, weil es sich nicht streng an das geschriebene Recht hielt. Der notwendig unvollkommene („fragmentarische“) Charakter der Sprache eröffnet (paradoxerweise) immer wieder die Möglichkeit, herrschaftskritische Lösungen zu produzieren. Die NS-Machthaber wußten wohl, warum sie durch die Aufhebung des strafrechtlichen Analogieverbots den „positivistischen Zwang“ aufweichten; sie hofften auf linientreue Richter, die weltanschauliches Denken (wenn auch nicht dasjenige eines christlichen oder vernunftgeleiteten Naturrechts) über das positive Recht stellten.

 

Es ist das Verdienst des Verfassers, Leben und Werk einiger vergessener Rechtslehrer bzw. vergessene Aspekte der Lehren bekannter Rechtslehrer wieder ans Licht gehoben und in ihrem Verhältnis zu den herrschenden Lehren ihrer Zeit untersucht zu haben. Ob dies ein lohnendes Unterfangen gewesen ist, muß jeder Leser für sich entscheiden.

 

Hagen/Westfalen                                                                                Thomas Vormbaum



[1] Dazu neuestens: Gerhard Pauli/Thomas Vormbaum (Hrsg.), Justiz und Nationalsozialismus – Kontinuität und Diskontinuität. (2003); sowie .Joachim Vogel, Einflüsse des Nationalsozialismus auf das Strafrecht. Berlin 2004, der den Diskussionsverlauf und Diskussionsstand nachzeichnet.